Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti

Einführung & Durchgang & Synopse
Emilias Tod & Emilias Charakter
Bürgerliches Trauerspiel & Theater-Reform
Aufklärung / Sturm und DrangMaterial


Muss Emilia denn so fromm und einfältig sein?

Diese Frage stellt Lessings Bruder Karl nach der Lektüre der „ersten Hälfte" der Tragödie:

„... wider die Emilia Galotti habe ich etwas auf dem Herzen. [...] Noch hast Du sie nur als fromm und gehorsam geschildert. Aber ihre Frömmigkeit macht mir sie - aufrichtig! - etwas verächtlich, oder, wenn das zu viel ist, zu klein, als daß sie zum Gegenstand der Lehre, des edlen Zeitvertreibs und der Kenntniß für so viele tausend Menschen dienen könnte. Du wirst zwar sagen: so werden die Mädchen in Italien erzogen; so denken sie; so handeln sie; noch hat sich keine Spur von Freydenkerey in ihre Religion eingeschlichen. Alles gut, lieber Bruder. Allein über das Locale sollte man nicht höhere Zwecke vergessen. Jede gute Person, die ein einnehmendes Muster für die Zuhörer seyn soll, könnte zwar ihre Mutterreligion haben; aber sie müßte nicht solche Punkte derselben äußern, die einen gar zu kleinen Verstand, gar zu wenig Selbstdenken verraten: sondern nur das, was die allgemeine Religion aller rechtschaffnen und denkenden Menschen billigt und auszuüben trachtet. Emilia geht in die Messe. - Sie ist Katholikin. - Mag sie doch! [...] ein gar zu kleiner Verstand mit dem besten Herzen deucht mir für die edlen Personen des Trauerspiels unter der Würde desselben. Und nimmt man vollends Rücksicht auf die Zuschauer in Berlin, die unter den freyer denkenden Deutschen die freydenkgendsten sind, so glaube ich - hätte ich Recht. Vorausgesetzt, daß Deune Emilia in den letzten Acten keine anderen Vorzüge zeigt." (Karl Lessing an G. E. Lessing am 3.2.1772).
„Was Du von dem Charakter der Emilia sagst, hat viel Wahres. Aber so ganz Recht kann ich Dir doch nicht geben, aus folgenden Ursachen:
1. Weil das Stück Emilia heißt, ist es darum mein Vorsatz gewesen, Emilien zu dem hervorstechendsten, oder auch nur zu einem hervorstechenden Charakter zu machen? Ganz und gar nicht. [...]
2. Die jungfräulichen Heroinen und Philosophinnen sind gar nicht nach meinem Geschmacke. [...] Ich kenne an einem unverheirateten Mädchen keine höheren Tugenden, als Frömmigkeit und Gehorsam.
3. Zeugt denn jede Beobachtung der äußerlichen Gebräuche einer positiven Religion von Aberglauben und schwachem Geiste? Wolltest Du wohl alle die ehrlichen Leute verachten, welche in die Messe gehen und während der Messe ihre Andacht abwarten wollen, oder Heilige anrufen? [...]
4. Am Ende wird denn auch freylich der Charakter der Emilia interessanter, und sie selbst thätiger. [...]
Doch es sey auch mit dem allen, wie es wolle; wenn das Stück nur im Ganzen Wirkung hervorbringt." (Gotthold an Karl, 10.2.1772)
„Ich habe Deine Emilia nun hintereinander gelesen, und Du kannst Dir leicht vorstellen, daß sie, da sie mir schon stückweise so wohl gefiel, im Ganzen eine noch größere Wirkung auf mich gethan hat. [...] Du erinnerst Dich doch noch, daß mir die Emilia im Anfange nicht so vorzüglich gefallen. Du hast mir daher einige Deiner Gründe angeführt, von denen aber keiner Stich zu halten schien, als der letzte, da Du sagtest: „Am Ende wird dann auch freylich der Charakter der Emilia interessanter, und sie selbst thätiger." - Denn das ist nicht allein geschehen, sondern der Schluß hätte auch nicht so werden können, wenn Du sie nicht vom Anfange so geschildert hättest. Höchst religiös, die Tugend der Keuschheit für die höchste Tugend haltend, ist Emilia. Und das letzte hat sie bloß durch ihre fast blinde Anhänglichkeit an die katholische Kirche werden können." (Karl an Gotthold, 12.3.1772)

Zitiert nach Reclam Erläuterungen 8111, S. 46 - 50

  • 1. Wie argumentiert Karl Lessing: inhaltlich und taktisch?
  • 2. Was ist von G. E. Lessings Gründen zu halten?
  • 3. Auf welches Charakterbild der Emilia läuft dieses Diskussion hinaus?
  • 4. G.E. Lessing sagt, am Ende komme es „nur" auf die Wirkung an. - Bewertet diese Aussage.


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(cc) Klaus Dautel


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