Goethe, Schiller und Zeitgenossen
K. Dautels Ideen, Materialien, Vorschläge für den Deutschunterricht
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Übersicht Hälfte des Lebens Eichbäume Hyperion
(zit. nach Werke und Briefe, hrsg.v. F. Beißner und J. Schmidt Bd. 1, Frankfurt 1969):
ERSTER BAND: Erstes Buch
(295) Hyperion, gerade erst nach Griechenland ("Vaterland")
zurückgekehrt, niedergeschlagen von enttäuschten Hoffnungen und unglücklich über den Zustand seines Heimatlandes, schreibt an den Freund Bellarmin eine Serie von Briefen, in denen er sehr bewegt die Geschichte seines Lebens, seiner Hoffnungen und Enttäuschungen schildert. Einzig die Idee (Erfahrung?) einer allesumfassenden, alles zusammenführenden Natur richtet ihn noch auf, denn er hat sonst "nichts, wovon ich sagen möchte, es sei mein eigen."(296)
(298) Die Kindheit Hyperion wird geschildert (-> Lob der Kindheit)
(300) Adamas, der Erzieher nimmt sich des Knaben an und formt ihn zum Menschen
(Erziehungs-Philosophie Hölderlins), bevor der weiterzieht
(308) Auf Ratschlag von Vater und Mutter zieht er nach Smyrna, wo er sich
unter "gebildeten Menschen" weiter entwickeln soll. Die Städter
erscheinem ihm aber geistlos und spießig, weil sie keinen Sinn für
das Hehre und Idealische des alten Griechenlandes haben.
(312) Da trifft er den gleichermaßen begeisterungsfähigen, und
doch so verschiedenen (älteren) Gefährten Alabanda, mit dem ihn
dasselbe Ideal verbindet: Die Rettung des Vaterlandes (317). Sie haben
jedoch nicht dieselben Vorstellungen von der -> Rolle des Staates (319).
(320) Dies wird augenfällig, als drei Gefährten Alabandas auftauchen,
entschlossene Krieger und Verschwörer, die darauf brennen, die Welt
umzustürzen. (322) Deren rein destruktive Zielsetzung entsetzt Hyperion
und er fühlt sich von Alabanda hintergangen. Sie trennen sich anderntags
im Streit ("Grillenfänger"), Hyperion reist niedergeschlagen
nach Tina, seiner Heimat, zurück, wo er nun zurückgezogen und
menschenscheu den Winter verbringt.
(331) Im Frühling erwacht der Lebenswille erneut, doch Versuche der
Kontaktaufnahme mit Alabanda scheitern.
"Was ist der Mensch?" (332)
Zweites Buch
"...mitten in (s)einen finsteren Tagen" wird Hyperion von
einem Bekannten nach Kalaurea eingeladen, wo ihm "das Göttliche"
erscheint, das Eine und Alles, dessen Name Schönheit ist und Diotima
heißt.
(339) In ihrer Gegenwart erlebt er höchstes Glück, den Himmel
auf Erden (345), er, dessen Gemüt "voll wilder Widersprüche,
voll blutender Erinnerungen" und voll "wilder Trauer" ist
(358).
(349) In einem ihrer "Seelengespräche" über Freundschaft
und Liebe wird Diotima klar, woran Hyperion leidet:
(353) Es ist dieses grenzenlose Verlangen nach "einer besseren Zeit",
die rückhaltlose Hingabe an das Idealische, Vollkommene, folglich
auch das tiefe Leiden an dem "Verlust von allen goldenen Jahrhunderten"
- kurz: Der Abgrund zwischen Ideal und Wirklichkeit! Dieses Verständnis
von Hyperions Leiden und Idealismus macht ihm Diotima zur Seelentrösterin,
zur Seelenverwandten, zum Ein und Alles. Diotima, die in dieser Unbedingtheit
verborgene Tragik ahnend, versucht Distanz zu halten. (354)
(355) Die nächsten Tage verbringt Hyperion schwankend zwischen Seligkeit
und Schwermut, er muss mit Diotimas Abwesenheit, ihrem Rückzug, fertig
werden, es kommt zu keiner Begegnung unter vier Augen mehr, so sehr er sie
sucht. Dann aber findet er sie endlich allein in einem abgelegenen Wäldchen
und siehe da, seine Liebe wird erwidert, seine Begeisterung von ihr geteilt
(= gespiegelt), die Leidenschaft überwältigt beide.
(360) Diotima ist sich des übermaßes ihrer beider Gefühle
sehr wohl bewusst und bemüht, eine Mitte zu finden, ein Gleichgewicht
der Seele. In diesem Bemühen ist sie für Hyperion wie eine Pflegerin
der überspannten Seele, eine Erzieherin zum Gleichgewicht.
(363) Mit Freunden beschließen sie eine Fahrt nach Athen, auf dem Weg dorthin wird die Frage debattiert, warum die alten Athener so trefflich sein konnten. Hyperion legt ausführlich seine Auffassung dar: Die Trefflichkeit der alten Athener war Ergebnis von maßvollem Reifen, vom Finden der richtigen Mitte; diese Trefflichkeit manifestiert sich in der Harmonie von Geist und Schönheit, in der historischen Aufeinanderfolge von Kunst, Religion und Philosophie, gipfelnd in der Philosophie als dem Kult des Schönen ...
(370) Sie erreichen Athen, angesichts von dessen Ruinen gibt Diotima ihrem Geliebten einen Sendungsauftrag: Er darf sich noch nicht als Angekommener betrachten, er muss seinen großen Ideen und Idealen Taten folgen lassen: Gehe hinaus in die Welt, ins Ausland, bilde deinen Geist, damit du, wenn du zurückkehrst, selbst gereift sein wirst zum "Erzieher unsers Volkes" (375). Denn das heutige Griechenland ist bedürftig, es ist der "Stoff", der noch gebildet, noch veredelt werden kann (374).
ZWEITER BAND - Erstes Buch (1799)
(377) In den Herbsttagen erreicht Hyperion ein Brief Alabandas. Er habe sich von den falschen Gefährten getrennt, nun warte eine neue Aufgabe auf beide: Die Befreiung Griechenlandes aus der türkischen Herrschaft, d.h. Krieg an der Seite Russlands (1770).
(379) Diotima rät ab, dazu sei er nicht geboren, aber seine Begeisterung für "die heilige Theokratie des Schönen ... in einem Freistaat" ist nicht zu bremsen. Diotima verändert sich von nun an "wunderbar", verliert ihre Kindlichkeit und wird "so erhaben und so leidend" (380) - Der Abschied ist lang, feierlich, im Kreise der Freunde und von Diotimas Eltern.
(386) Die nachfolgenden Ereignisse werden im Briefwechsel Hyperions
mit Diotima wiedergegeben, bedeuten also einen Perspektivewechsel, die
große Distanz des Eremiten ist aufgehoben: Geschildert wird die Reise
zu Alabanda, die herzliche Wiederbegegnung (388) mit dem älteren und
zielstrebigeren Freunde, das Lobe des Kampfes für das Vaterland, Diotimas
Schwanken zwischen Trauer und Verständnis, der Beginn des Krieges
(394), wie Hyperion seine Mannen um sich schart und begeistert, von Siegen
in kleinen Gefechten, von der Belagerung des ehemaligen Spartas. Diotima
berichtet ihrerseits von ihren ängsten und dem Schwinden ihrer Lebenslust.
(399) Dann aber plündern und modern Hyperions Leute in der eroberten
Stadt, Hyperion kann dies nicht verhindern:"es war ein außerordentliches
Projekt, durch eine Räuberbande mein Elysium zu pflanzen". Der
Haufen löst sich auf, der Befreiungskrieg für Hyperion gescheitert.
(401) Er will bei der russischen Flotte anheuern, sein Vater verstößt
ihn deshalb, er wartet auf einen Abschiedsbrief von Diotimia, dieser kommt
nicht, so sucht er den Tod in der bevorstehenden Schlacht.
Zweites Buch
In der Seeschlacht (Russen - Türken) wird Hyperion lebensgefährlich
verletzt, das Schiff brennt ab, er wird aber gerettet und findet sich von
Alabanda bewacht und gepflegt wieder. Alabanda erinnert ihn an diotima,
er will sofort schreiben, da erreicht ihn ein Brief von dieser selbst.
(409) Ihre Briefe waren offenbar nicht angekommen, so dass sie meinen musste,
er habe ihr entsagt. Ihre Vision vom Menschheitserzieher bliebe dann nur
ein "Traum" (411), sie nimmt ABschied und stimmt in die Trennung
ein.
(413) Sein Antwortschreiben schlägt vor, gemeinsam Griechenland zu
verlassen und in den "Alpen oder Pyrenäen" ein "Leben
in goldener Mittelmäßigkeit" zu beginnen.
(416) Alabanda erklärt, dass er Hyperion nun verlassen müsse, denn mit ihm gehen könne er nicht und außerdem habe er eine Schuld abzutragen: Dem Verschwörerbund der Nemesis, dem er einst als heimatlos herumirrender junger Mann Gefolgschaft schwor und von dem er sich Hyperions wegen losgesagt hat, muss er sich jetzt stellen, was immer dies auch bedeute, öglicherweise den Tod. (-> Alabandas Lebensgeschichte).
(422) Abschied von Alabanda (423). Auf das Fahrzeug nach Kalaurea wartend
singt Hyperion sein "Schicksalslied", da erreicht ihn Diotimas
letzter Brief: Ihr Schwanenlied, denn sie ist an Schwermut gestorben, nicht
ohne ihm zuletzt noch Erfüllung in "dichterischen Tagen"
zu prophezeien. Ein Begleitschreiben des Freundes Notara aus Kalaurea schildertnoch
Diotimas letzten Willen und rät Hyperion, nicht mehr zurückzukehren.
(430) So irrt Hyperion rast- und ziellos und ohne Lebenssinn in der Welt herum, zuerst in Sizilien, wo er den Ätna besteigt und dem Schicksal des Empedokles nachsinnt, dann (433) gerät er "unter die Deutschen", wo er als Fremdling ankommt und als Fremder wieder geht, einzig in der Einsamkeit der Natur noch Trost findend, (437) wo er sogar die Stimme Diotimas vernimmt, was ihn noch einmal zur Vision der alles vereinenden, aussöhnenden, zusammenführenden Kraft der Natur begeistert, womit sich auch am Ende der Anfang des Romans wiederfindet.
Motive, Themen, Schlüsselbegriffe ...
Stadien der Menschenbildung zwischen unschuldiger, naturhafter Kindheit und der höchsten Reife des Erwachsenen: Adamas Alabanda Diotima, der Erzieher der ungleiche Gefährte ihr harmonisches, holt das Kind aus gibt dem in der "Ge- ausgeglichenes Wesen seiner Kindlichkeit sellschaft" Vereinsamten führt dem Schwarmgeist Sinn und Begeisterung seelisches Gleichgewicht zurück vor Augen |
Diotimas Auftrag Alabanda und der Bund der Nemesis Sei der "Erzieher unseres Volkes", politisches Handeln, welches die reife aber zuvor noch selbst zu individuellen Kräfte freisetzt dieser Aufgabe heran, und den großen Ideen gehe ins Ausland! Handlungsziele gibt || || \/ \/ Scheitert an Scheitert an der menschlichen Hyperions Unduldsamkeit Unfertigkeit bzw. Unmenschlichkeit der Kampfgefährten: "Barbaren" |
So ereignisreich die Fabel des "Hyperion" auch sein mag, im Zentrum stehen die Erinnerungen des Eremiten, seine rückblickenden Betrachtungen, geschichtsphilosophische Reflexionen über die Trefflichkeit des klassischen Athenervolkes und die Kläglichkeit der heutigen Welt, Gedanken über die richtige Erziehung des Menschen zum Menschen. Das Wichtigste wird dem Leser im Dialog der Hauptfiguren, in deren "Seelengesprächen" vor Augen gebracht, in Abschnitten von wunderschöner Intensität und Gedankentiefe, aber auch von absichtsvoll-idealistischer Realitätsferne.
Bei der Lektüre des "Hyperion" sollte man sich immer wieder vor Augen führen, dass hier ein junger Mann von Mitte Zwanzig schreibt, ein empfindsamer Schöngeist, ein begeisterter Idealist und unglücklicher Liebhaber.
Hyperion, der griechische Jüngling, ist ein unausgeglichener Schwarmgeist, der schon in jungen Jahren die Kluft zwischen seinen Idealen und der erfahrenen Wirklichkeit tief empfindet und erleidet. Und "... mitten in (s)einen finsteren Tagen" erscheint ihm "das Göttliche", das Eine und Alles, dessen Name Schönheit ist und - Diotima heißt. In ihrer Gegenwart erlebt er höchstes Glück, den Himmel auf Erden, er, dessen Gemüt doch voller Widersprüche, "voll blutender Erinnerungen" und voll "wilder Trauer" ist.
In einem ihrer "Seelengespräche" über Freundschaft und Liebe erkennt Diotima rasch, woran Hyperion leidet: Es ist dieses grenzenlose Verlangen nach "einer besseren Zeit", die rückhaltlose Hingabe an das Idealische, Vollkommene, folglich auch das tiefe Leiden an dem "Verlust von allen goldenen Jahrhunderten". Dieses Verständnis von Hyperions Leiden und Idealismus macht ihm Diotima zur Seelenverwandten und Seelentrösterin: Diotima, die Pflegerin der kranken Seele, die Heilerin des unausgeglichenen Gemütes, die Besänftigerin der wilden Leidenschaften. Diotima ist die Verkörperung von innerer Ausgeglichenheit, seelischer Harmonie, kurz: ein Wesen der "goldenen Mitte". Und weil das, was für die menschliche Seele wahr und gut ist, nach klassischem Verständnis auch schön sein muss, macht Hyperion seine Diotima zum Zentrum eines Kultes der Schönheit und der Liebe. Dem Liebhaber wird alles heilig, was an das Geliebte mahnt, die Orte der ersten Begegnung ebenso wie die Worte, die gewechselt werden.
Wie sein Ziehvater Schiller, wie sein Studiengefährte Hegel, so sah Hölderlin das Grundübel der neuen Zeit in der Reduzierung des Menschen auf eine bestimmte Tätigkeit, einen nützlichen Zweck, ein Funktionsteil im seelenlosen Räderwerk der Staatsmaschinerie. Heute würden wir das mit einem Wort bezeichnen: Arbeitsteilung. Deren Effizienz ist unbestritten, deren Seelenlosigkeit bewirkt aber tiefes Leid, welches den Menschen selbst nur selten bewusst ist. Einzig der Dichter, ausgestattet mit jenem empfindsamen Gemüt, das Hölderlin den Genius nennt, weiß um den Verlust jener Ganzheitlichkeit, die einst den Menschen des klassischen Griechenlands ausgezeichnet haben soll. Die Dichter jedoch, namentlich jene in Deutschland, werden behandelt "wie Fremdlinge im eigenen Hause".
So steht es im letzten Brief Hyperions, wo er sich in gewaltigen Worten über die Deutschen beklagt: Sie leben in einem System voller Unterscheidungen und Trennungen, in einer mechanischen Welt der Arbeitsteilung und Funktionalität, nicht aber im Geiste der Harmonie, des Ausgleichs und der Versöhnung der Gegensätze. In den Worten Hyperions klingt das so:
„ich kann kein Volk mir denken, das zerißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungenudn gesetzte Leute, aber keine Menschen - ist das nicht wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und Gleider zerstückelt untereinander liegen ... ? Ein jeder treibt das Seine, wirst du sagen, und ich sage es auch. Nur muß er es mit ganzer Seele treiben, muß nicht jede Kraft in sich ersticken, wenn sie nicht gerade sich zu seinem Titel paßt ... und ist er in ein Fach gedrückt, wo gar der Geist nicht leben darf, so stoß ers mit Verachtung weg und lerne pflügen!”