Goethe, Schiller und Zeitgenossen
K. Dautels Ideen, Materialien, Vorschläge für den Deutschunterricht
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Übersicht |
Offene Gegend
Hoch über dem Meer, auf einer „Düne”, haben Philemon und Baucis, ein altes Ehepaar, ihr Haus, ihren Garten und ihr Kirchlein erbaut und leben darin friedlich und naturnah. Einem Wanderer, den sie gastfreundlich bewirten, schildern sie die erstaunlichen Veränderungen, die sich vor ihren Augen am Meeresstrand abgespielt haben.
Kluger Herren kühne KnechteFaust und Mephisto haben aus dem öden Meeresstrand ein Imperium errichtet, dank
Gruben Gräben, dämmten ein,
Schmälernten des Meeres Rechte,
Herrn an seiner Statt zu sein. (S. 334)
Krieg, Handel und Piraterie,Faust indessen in seinem »Palast« fühlt sich durch das „verdammte Läuten" des „morschen Kirchleins” gestört: Sie verderben ihm den „Weltbesitz”. Er beauftragt Mephisto, die Alten „zur Seite” zu schaffen und zu entschädigen.
Dreieinig sind sie nicht zu trennen. (337)
Gegenüber der Idylle der beiden Alten und ihrer bescheidenen Hütte ist Fausts Welt eine neu gestaltete Kulturlandschaft. Sie ist durch Technik der Natur abgewonnen, dem Meer abgetrotzt und nun dichtbesiedelter Wohnraum, es herrscht vor allem nachts geschäftiges Treiben.
Fausts Welt symbolisiert die negative Dialektik von Fortschritt und Gewalt: Schifffahrt, Handel, Landgewinnung, Städtegründung durch → Krieg, Handel und Piraterie!
OFFENE GEGEND: | PALAST: |
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herzliche Gastfreundschaft Linden-Hain, einfache Hütte, kleine Kapelle und fruchtbarer Garten |
Lynkeus der Türmer stellt Fausts neue Welt vor:
Handel und Schiffahrt, geschäftiges Treiben im Hafen |
Philemon und Baucis: fromme Leute bescheiden, geschäftig, alt |
Faust: steinalt, herrisch, unzufrieden, reich |
alte Welt - alter Gott Geborgenheit, Glück und zeitlose Stille |
Faust gibt den Auftrag zur Kolonisierung der Idylle (11274),
er will friedlichen Tausch, doch sein Geschäftsführer Mephisto ist unkontrollierbar |
Tiefe Nacht
Lynkeus, der scharfäugige Türmer, wird Zeuge, wie Mephisto und seine Gewaltigen Hütte und Kapelle der beiden Alten niederbrennen. Gast und Gastgeber sterben. Faust, der hier einen Ruhe- und Erholungsort („ein Luginsland ... um ins Unendliche zu schaun", V. 11344f) einrichten wollte, ist über Mephistos Vollzugsmeldung zwar erzürnt: „Tausch wollt´ich, keinen Raub" (V. 11371), dieser Zorn hält jedoch nicht lange an.
Mitternacht
Denn schon wird Faust von vier grauen Weibern heimgesucht: Mangel, Schuld, Not und Sorge. Von den vier allegorischen „Schwestern” kann allein die Sorge den reichen Faust erreichen, ihr Hauch macht ihn erblinden.
Großer Vorhof des Palastes
Faust, nun blind, treibt seine Knechte noch einmal zur Realisierung seiner Visionen an. Sie sollen weiter Land gewinnen und Gräben zur Entwässerung anlegen. Mephisto lässt statt Gräben ein Grab schaufeln.
Und während unter Aufsicht Mephistos die Lemuren Faustens Grab schaufeln, formuliert dieser seine letzte Vision vom „freien Volk auf freiem Grund" (11580).
Faust, der Visionär
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Mephisto, der Zyniker
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Grablegung
Faust sinkt ins Grab und Mephistos Schar von Lemuren, Dick- und Dürrteufeln und anderen Satanen fährt schon den „Höllenrachen" herbei, da greifen die „Himmlischen Heerscharen" in das Geschehen ein und ein Endkampf um die Seele des Faust tobt zwischen Himmel und Erde. Die Engel schießen mit Rosen, die Teufel „stürzen ärschlings in die Hölle" zurück (V. 11738) und auch Mephistos Widerstandskraft erlahmt beim Anblick der „allerliebsten Jungen" (V. 11763), die sich ihm nun in betörender Weise n&äuml;hern, um ihm in einem unbemerkten Augenblick „Fausts Unsterbliches" zu entführen. Mephisto, wieder ernüchtert, sieht sich betrogen und um den Lohn seiner Mühen gebracht.
Die hohe Seele, die sich mir verpfändet,
Die haben sie mir pfiffig weggepascht. (V. 11830)
Das Folgende ist ein Versuch, sich in die Goethe'sche Logik und Gedankenwelt hineinzuversetzen, um auf diesem Weg zu einer Erklärung für Fausts Rettung zu gelangen, also das „Faust-Rätsel" annäherungsweise zu lösen (K. Dautel):
Zu Beginn des ersten Teils lernen wir Faust als einen von Wissbegierde und grenzenlosem Tatendrang getriebenen Menschen kennen, den es danach drängt zu erkennen, "was die Welt/ Im Innersten zusammenhält" (V. 543). Den Vertrag mit Mephistopheles, der ihm die Erfüllung seines Wunsches nach höchster Lebenintensität verspricht, bekräftigt Faust abschließend mit den Worten:
Werd' ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
dann will ich gern zugrunde gehn!" (1699-1702)
Am Ende eines langen und ereignisreichen Lebens, als ein von der Sorge geplagter und geblendeter Mann, der sich der Ziel- und Nutzlosigkeit seines bisherigen Treibens sehr wohl bewusst ist („Ich bin nur durch die Welt gerannt", V.11433), fasst er den Entschluss zu seiner letzten großen Tat, nämlich den Grund und Boden für eine glückliche Völkergemeinschaft zu schaffen. Zwar ist er blind, allein im Innern leuchtet helles „Licht" (V.11500), und so entwirft er die Vision einer Welt, in der „viele Millionen,/ Nicht sicher zwar, doch tätig-frei (...) wohnen" werden. Es ist die Utopie einer Gemeinschaft von „kühn-emsigen Völkerschaften" (V. 11567), beseelt von „Gemeindrang" (V. 11573) und immer bereit, die gefährdete Freiheit täglich neu zu erobern. Die Verwirklichung seiner Utopie lässt er nun vor seinem inneren Auge vorbeiziehen:
Zum Augenblicke dürft ich sagen
Verweile doch, du bist so schön! (V. 11581)
Daraus kann Mephistopheles - nicht zu Unrecht - den Schluss ableiten, die Wette gewonnen zu haben, denn Faust genießt schon jetzt
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
(...) den höchsten Augenblick. (V. 11585 f).
Dieser Augenblick ist jedoch ein konjunktivischer („dürft ich sagen"), keine reale Gegenwart, vielmehr ein utopischer Entwurf. Dieser Augenblick umgreift den Soll-Zustand einer Gemeinschaft, welche zwar glücklich, aber nicht satt, faul und wohlgefällig ist, vielmehr tätig, tapfer, gemeinsinnig und immer in ihrem Bestand gefährdet! In dieser Vision hat sich Faust zur höchsten Erkenntnis emporgearbeitet, derer er fähig ist, nämlich zum Gegenentwurf seines eigenen bisherigen Daseins: Statt Alleinanspruch des genialen Einzelnen nun die Gemeinschaft der Freien, statt Befreiung aus allen (religiösen, moralischen, wissenschaftlichen) Bindungen nun die bedingte Freiheit in der Unterordnung unter das Gemeinwohl; und schließlich statt ewiger Unzufriedenheit mit sich und der Welt nun die einsichtsvolle Zufriedenheit des sich immer strebend Bemühenden.
Dem Wortlaut nach hat Faust vielleicht die Erlösung verwirkt, in seinem Handeln und seiner letzten Vision jedoch bestätigt sich nichts anderes als der große göttliche Plan. Dieser ist verstehbar als eine Art kosmologische Dialektik: Es sind die Widersprüche, die der Naturelemente (vgl. im Prolog den Gesang der drei Erzengel) ebenso wie die der menschlichen Gefühle (Faust: „zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust" V. 1112), die alles Geschehen vorantreiben: Aus These und Antithese wird Synthese, aus Sein und Nichts wird Werden. Es herrscht eine immerwährende Antithetik, welche zur Synthese drängt. So hat alles in diesem Plan seinen Platz! Auch der Teufel als jene Kraft der Negation, welche moralisch zwar böse, in der großen dialektischen Bewegung des Vorwärtsstrebens aber nützlich ist (vgl. V.338 ff).
In diesem Plan ist der Mensch von Grund auf gut, als Ebenbild Gottes trägt er Göttliches in sich, mag dies nun „Urquell" (V. 324), „Liebe" (V. 347) oder das „Ewig-Weibliche" (V. 12110) genannt werden. Er ist auch in der Lage, die Widersprüche seiner Seele und seines Daseins, auszubalancieren, aus Vernunft und Gefühl, aus Verstand und Begierde eine fruchtbare Synthese herzustellen. Wenn der Mensch bemüht ist, sich zu vervollkommnen und mit seinen Talenten zu wuchern, so wird dies zwar nicht ohne Anfechtungen und gewaltige Irrtümer abgehen, wichtig ist aber, dass der Mensch unbeirrbar an seiner Suche nach einem Höheren, sei es Glück, sei es Erkenntnis, sei es Gemeinschaft, festhält; darin verwirklicht er das Göttliche in sich, verdient sich die Liebe gar von „oben" (11938/9) und qualifiziert sich als erlösungswürdig.
Und jetzt noch Goethes eigene Äußerungen zum Schluss, wie sie in Johann Peter Eckermanns „Gesprächen mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens” zu finden sind:
6. Juni 1831
„Wir sprachen sodann über den Schluß, und Goethe machte mich auf die Stelle aufmerksam, wo es heißt:
In diesen Versen«, sagte er, »ist der Schlüssel zu Fausts Rettung enthalten: in Faust selber eine immer höhere und reinere Tätigkeit bis ans Ende, und von oben die ihm zu Hülfe kommende ewige Liebe. Es steht dieses mit unserer religiösen Vorstellung durchaus in Harmonie, nach welcher wir nicht bloß durch eigene Kraft selig werden, sondern durch die hinzukommende göttliche Gnade.
Übrigens werden Sie zugeben, daß der Schluß, wo es mit der geretteten Seele nach oben geht, sehr schwer zu machen war und daß ich, bei so übersinnlichen, kaum zu ahnenden Dingen, mich sehr leicht im Vagen hätte verlieren können, wenn ich nicht meinen poetischen Intentionen durch die scharf umrissenen christlich-kirchlichen Figuren und Vorstellungen eine wohltätig beschränkende Form und Festigkeit gegeben hätte.«
Zitiert nach Projekt Gutenberg DE