Friedrich Schillers „Räuber" und Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas"
im Themenfeld von „Recht und Gerechtigkeit"

III: H.v.Kleist: Michael Kohlhaas

Die Ausschweifungen des Rechtsgefühls

I. Eindeutige Rechtslage:
Dem rechtschaffenen Rosshändler wird an der Grenze zwischen den Kurfürstentümern Brandenburg und Sachsen Unrecht ge-tan (Ding-Symbol: Rappen). Dessen vergewissert er sich

II. Kohlhaas beschreitet den Rechtsweg
Er tut dies auf dreierlei Weise:

  1. Er begibt sich nach Dresden (Kurfürstentum Sachsen), wo die Klage abgewiesen wird
  2. Er bittet den Kurfürsten von Brandenburg um landesherrlichen Schutz und wird daraufhin als unnützer „Querulant" tituliert. Er verkauft daraufhin seine Besitzungen und hegt einen Plan, den er nicht preisgibt. Er will aber in einem Lande, das seine Rechte nicht schützt, nicht bleiben. („Lieber ein Hund ... als ein Mensch!" S. 24).
  3. Lisbeths Versuch, die Bittschrift persönlich zum Kurfürsten zu bringen, en-det mit ihrem Tod. Kohlhaas richtet daraufhin ein fürstliches Begräbnis aus.

III. Kohlhaas beginnt seinen Rachefeldzug (Recht~Rache)
und erlässt insge-samt vier Mandate, in denen er seine Rolle bzw. die Motivation seines Feldzuges immer stärker ausweitet: Vom „gerechten Krieg" gegen den Junker zum „Statthalter" des Erzengels, der die „Arglist" der ganzen Welt bestraft. (S. 31,33,39). Diese „Art von Verrückung" (Erzählerkommentar S. 39) lässt drei Deutungsmöglichkeiten zu:

  1. K. übt das Widerstandsrecht aus, das ihm deswegen zusteht, weil der Staat ihm den Schutz seiner Rechte nicht gewährt. (Naturrecht)
  2. K. betreibt eine Selbstnobilitierung, beginnend schon mit dem Begräbnis seiner Frau, die ihm nach feudalem Recht die Fehde erlaubt. (Fehderecht)
  3. K. wird von seinem Rechtsgefühl („Tugend") zur „Ausschweifung" getrieben (Charaktersache).

Die Intervention Luthers beendet diese Ausschweifung des Rechtsgefühls. Im Gespräch werden die Positionen gegeneinander gestellt: Nach Luthers Argu-mentation steht a) der Landesherr über den Rechtsbeugungen seiner Beamten und steht es b) einem Christen am besten an, Vergebung zu üben. (46). Kohlhaas argumentiert demgegenüber im Sinne der aufgeklärten Vertragstheorie.

Dennoch: Luther setzt sich für Kohlhaas gerechtes Anliegen ein, gewährt ihm a-ber keine Vergebung (vor Gott). Kohlhaas sieht in dem Amnestieversprechen und der Wiederaufnahme seiner Rechtssache (dreifache Klage, S. 45) die eigentliche Aufgabe des Staates wiedergewonnen, beendet seinen Krieg/Fehde und begibt sich freiwillig in die Gemeinschaft zurück.

IV. Kohlhaas in Dresden:
Prozessverlauf und Amnestiebruch (S. 53 ff)

Der Prozess, basierend auf den drei Anklagepunkten, wird wieder aufgenommen, die Rappen werden gesucht und gefunden, bei der öffentlichen Übergabe kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen Bürger kontra Adel (Abdeckerszene), was die Stimmung der Entscheidungsträger gegen Kohlhaas wendet. Die Tronkas können mit Erfolg gegen ihn agieren, darüber hinaus schaltet sich der ehemalige Mitstreiter Nagelschmidt als selbst ernannter „Statthalter des Kohlhaas" ein. Als Folge wird die Amnestie aufgehoben, Kohlhaas – von der Entwicklung der Ereignisse frustriert – tappt in eine ihm gestellte Falle, wird verhaftet und zu einem grausamen Tode verurteilt.

V. Die metaphysische Wende oder „das Ärgernis" (B. Greiner S. 329)

Der Kurfürst von Brandenburg greift ein, fordert Kohlhaas als seinen Untertanen an und übergibt den Fall an die kaiserliche Gerichtsbarkeit. Der Rechtsstreit um die Rappen und die Klärung der drei Klagepunkte treten in den Hintergrund des Geschehens und werden ersetzt durch das Amulett (Ding-Symbol) und Kohlhaas' Rachebedürfnis. Neue Akteure (Zigeunerin, Heloise) bestimmen das Geschehen, der Zufall spielt jetzt die wichtigste Rolle („es traf sich aber").

Dieser bringt Kohlhaas und den Kurfürsten von Sachsen persönlich zusammen. Der erfährt von der Kapsel und der Prophezeiung der Zigeunerin, der Kurfürst erkennt die Bedeutung der Kapsel für ihn persönlich und unternimmt eine Reihe von Versuchen, in den Besitz derselben zu gelangen: Kapsel gegen Leben. Der letzte Versuch des Kämmerers Kunz v. Tronka scheitert an einem aberwitzigen Zufall (die Zigeunerin). Der erneut zum Tode verurteilte Kohlhaas verzichtet auf diese Rettung, stattdessen triumphiert er in mehrfacher Weise: Seiner Rechtssache widerfährt Gerechtigkeit, sein Rachebedürfnis wird befriedigt und die Rechtsordnung wird wieder hergestellt, indem sie das Urteil an ihm vollzieht.

Was leistet also diese bizarr anmutende Kapsel-Handlung? (Bruch?)

  1. Eine Aufwertung Kohlhaas als direkter Gegenspieler des Kurfürsten

  2. Die Möglichkeit des totalen Triumphes und der Genugtuung

  3. Die Chance zur Lebensrettung einerseits und andererseits den Zwang zu einer sittlichen Entscheidung

Die Erzählung wird durch diese Wendung und die gehäuften Zufälle nicht logischer und verlässt sogar die bisherige Ebene des Rechtstreites. Aber nur so gelangt Kohlhaas in eine Situation, die ihm eine moralisch hochstehende Entscheidung abverlangt: Nämlich – im Sinne I. Kants – seine sittliche Pflicht gegenüber dem Gemeinwesen zu erfüllen durch eine freie Entscheidung, die nicht von „Neigung" (Eigeninteresse) befleckt ist.

Aber: Ist Rache ohne Eigeninteresse?

(cc) Klaus Dautel


Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.
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