Johann Wolfgang von Goethe: Iphigenie. Schauspiel

Iphigenie auf Tauris Zusätze

Erste Fassung (Prosa) am 6. April 1779 in Weimar aufgeführt (Goethe spielt den Orestes). - 1780 erste Versfassung, 1781 dann wieder Prosa-Fassung. - Erneute Bearbeitung 1781, dann ruht die Arbeit bis zur Italienreise - 1787 endgültige Fassung (in Blankversen) in Rom verfertigt und an Gottfried Herder - seinen 'Mentor' - geschickt.


Wichtig: Zum Einstieg und zur Vorbereitung empfiehlt es sich, eine solide Wissensbasis herstellen: WHO IS WHO? Wer oder was oder wo ist?

  • Tantalos - Pelops - Atreus - Aigisthos - Agamemnon - Klytaimnestra - Kassandra
  • Iphigenie - Elektra - Orest - Moiren/Parzen - Erinnyen/Eumeniden - Artemis/Diana - Apollo
  • Mykene/Aulis/Tauris - Mythos/Mythologie (Tipp: Kärtchen verteilen!)

I. Akt

1. Iphigenie, in den Schatten des Haines vor Dianas Tempel tretend, beklagt ihre Lage: Die Göttin Diana habe sie zwar hierher auf die Insel Tauris gerettet, aber nun sei sie heimatlos. Auch sei sie dem Thoas unterworfen, dieser jedoch sei ein edler Mann. Iphigenie reflektiert in diesem Zusammenhang auch die Stellung der Frau:

FrauMann
    passive Dulderin
    enge Lebenswelt
    Abhängigkeit
aktiver Gestalter
Freiheit
weites Handlungsfeld

Sowohl Diana als auch Thoas dient sie nur widerwillig und hofft, dass die Göttin sie vor dem "zweiten Tod", dem Leben in der Fremde, verschonen möge.

2. Arkas erscheint, um ihr die Ankunft Thoas anzukündigen. Ein Sieg über die Feinde ist erfochten worden, der Göttin soll dafür gedankt werden. Arkas spricht die Priesterin auf ihre immerwährende Traurigkeit an, sie klagt ihm ihr Leid. Durch einen "fremden Fluch" ist sie schon in jungen Jahren "vertrieben und verwaist" worden. Arkas weist darauf hin, dass sie auch Gründe habe, dankbar zu sein, denn schließlich habe Thoas selbst sie gastlich aufgenommen, wo doch sonst jeder Fremdling der Diana geopfert wird. Er führt ihr auch ihre Leistungen vor Augen, denn ihr stetes Wirken hat der Insel nur Segen gebracht: Sie hat den König zu sanfter Milde geführt und die Abschaffung der barbarischen Menschenopfer erwirkt. Nun will der König um ihre Hand anhalten, denn sein Sohn ist in der Schlacht gefallen.
Iphigenie empfindet diese Werbung als "Bedrohung".

3. Thoas kommt und wirbt um sie. Iphigenie verweist auf den Fluch, der über ihrem Geschlechte laste und lüftet das bisher gehütete Geheimnis:
Es ist das Geschlecht des Tantalus. Sie berichtet von deren grausigen Taten, von Brudermord und Ehebruch. Dies bringt Thoas nicht von seiner Werbung ab. Doch Iphigenie hofft weiterhin auf Rückkehr, was den König so sehr erzürnt, dass er sie ein triebhaft-unvernüftiges Weib schilt und anordnet, die Menschenopfer wieder aufzunehmen. Denn:
Gerade habe man zwei Fremdlinge gefangen genommen, die ihr vorgeführt werden sollen.

4. I. bittet die Göttin, sie vor dieser blutigen Tat zu verschonen und nicht zum Mord zu zwingen.

  Exposition
  • WO? Auf der Insel Tauris (Krim), beim barbarischen Volk der Skythen
  • WANN? Nach Beendigung des Trojanischen Krieges
  • WER? Iphigenie, Tochter des Agamemnon und Priesterin der Diana
    Thoas, König der Skythen
  • Motive:
    • Leben in der Fremde und Heimatverlust
    • Rolle der Frau (des Weiblichen) gegenüber dem Manne
    • Mensch und Götter, Wille und Schicksal
    • Barbarentum und Humanität

II.Akt
1. OREST bereitet sich auf den Tod vor; mit ihm würde dann das Atriden-Geschlecht blutig enden. Sein Begleiter und Jugendfreund PYLADES sinnt auf Auswege, vertrauend auf Apollos Weissagung, dass im Tempel der Schwester (Diana oder Iphigenie?) Trost, Hilfe und Rückkehr bereitet sei. Er versucht, Orest durch die Erinnerung an die gemeinsame Kindheit wieder aufzurichten. Der aufgeklärt-prakische Pylades glaubt nicht an die Ungerechtigkeit göttlicher Rache, an Vererbung von Schuld (755). Sein Plan ist, den Barbaren den Tempelschatz der Diana zu rauben und dem Apollo zu bringen. Auch rechnet er auf den "steten" Sinn jener Priesterin, von der sie viel Gutes vernommen haben.

OrestPylades
    Müdigkeit u. Todessehnsucht
    seinem traurigen Schicksal ergeben
    von Gewissensbissen gepeinigt
    (Furien, Eumeniden, Parzen)
praktisch denkend
respektlos vor den Göttern
listig wie Ulysses
zum Widerstand bereit

2. Iphigenie nimmt Pylades die Fesseln ab: Beide verbindet sogleich die gemeinsame Herkunft und Sprache. Er berichtet vom Ende Trojas und der Ermordung Agamemnons durch seine Frau aus Rache für die Opferung der Tochter. Diese ist tief erschüttert.

III.Akt

1. Weiteres erfährt Iphigenie von Orest, als sie auch diesem die Fesseln abnimmt und ihn auf sein Schicksal vorbereitet. Orest, von seiner Schwester Elektra angestachelt, hatte die Mutter getötet und wird seitdem von den Rachegöttinen verfolgt. Er nennt seinen Namen und seinen Wunsch zu sterben. Iphigenie aber dankt den Göttern für das lang ersehnte Glück (1115) und versucht, dem von irren Todesvisionen besessenen Bruder Hoffnung zu geben. Sie gibt sich zu erkennen (1173), Orest aber traut dem vorerst nicht, verführerische Trugbilder fürchtend, akzeptiert schließlich die Wahrheit, in seinem Wahn jedoch sieht er in seinem bevorstehenden Tod nur die Vollendung des Atriden-Fluches durch den "Brudermord" nach "hergebrachter Sitte". Iphigenie hält das nicht mehr aus und sucht den verständigeren Pylades.

2. Der aus seiner Betäubung erwachende Orest wähnt sich schon im Reich der Toten, wo die Ahnherren seines Geschlechtes ihn in Schattengestalt erwarten. Aber seine Hoffnung, dass dort jede Schuld dank "Lethes Fluten" (1258) vergessen und vergeben sei, wird enttäuscht: die Götter haben dem Tantalus nicht verziehen und ihn zu ewigen Qualen verdammt.

3. Pylades und Iphigenie kehren zurück und fordern Orest auf, sich zur Tat zusammenzuraffen. Und tatsächlich keimt Hoffnung auf: "Es löst sich der Fluch, mir sagt's das Herz." (1358)


    Akt I bis III dienen zur Rekonstruktion der Vorgeschichte,        
    in Akt IV und V vollzieht sich die eigentliche Dramen-Handlung:

    In III,2 befindet sich Orest auf dem persönlichen Tiefpunkt, von  
    da an beginnt seine Rückkehr ins praktische Leben.                
  
    Ausgangspunkt am Anfang von Akt IV:                                 
          - Bruder und Schwester sind wieder vereint                  
          - Orests Wahnsinn wird besänftigt                         
          - Der Weg zur Flucht ist offen                              
          - Die Götter scheinen auf ihrer Seite                  
    
    Fragen: Wird die Flucht gelingen? Findet der Tempelraub statt?      
          Wie verhält sich Thoas? Ist das Orakel richtig gedeutet?  
          Kann Iphigenie dieses Vorhaben mit ihrem Amt, ihrem         
          Gewissen und (möglicherweise) ihrem Frau-Sein vereinbaren? 

IV. Akt

1. Iphigenie preist den wie vom Himmel gesandten, praktischen Pylades, der jetzt gerade mit dem zu Taten erwachten Orest seinen "Anschlag" vorbereitet. Aber dieser wiederum zwingt sie zu "List" und "Lüge", wofür sie nicht geschaffen ist: Sie soll den König belügen.

2. Arkas kommt und drängt zum Vollzug des Opfers. Iphigenie lügt: Die Anwesenheit des Fluchbeladenen habe die heilige Stätte entweiht, es müsse zuerst die Statue der Göttin im Meer gereinigt werden. Arkas erinnert noch einmal an die Werbung Thoas' und beschwört sie, diese anzunehmen und dadurch ihr Werk der Vermenschlichung / Humanisierung des Barbaren-Volkes fortzusetzen. Die Chancen stünden gut hierfür. Iphigenie verweigert sich erneut.

3. Aber - wieder allein - muss sie sich eingestehen, dass sie bisher zu einseitig auf Flucht gesonnen habe (Pylades), und ihr doch auch an denen gelegen ist, vor denen sie flieht (Thoas):

"Dass ich auch MENSCHEN hier verlasse...
Doppelt wird mir der Betrug verhaßt.
" (1524/5)

4. Unterdessen hat Pylades alles zur Flucht vorbereitet, Orest ist frei von Visionen und das Schiff der Gefährten wartet in einer verborgenen Bucht. Jetzt will er nur noch die Diana mitnehmen. Er bemerkt aber das Zögern Iphigeniens, dringt weiter auf sie ein, den König hinzuhalten um Zeit zu gewinnen, sie solle auf ihr Recht als Priesterin pochen; aber Iphigenie will ihr heiliges Amt nicht missbrauchen (1582). Auch scheinen die Götter auf Seite der Flüchtenden zu sein und der Tempelraub rechtfertigt sich aus den barbarischen Bräuchen des Landes. DENNOCH: Iphigenie "fühlt", dass dies nicht recht sei. Sie folgt der Stimme ihres Herzens, während Pylades aus dem Zwang der Situation handelt.

  Stimme des HerzensGebot der praktischen Vernunft
      weibliches Gefühl:
      ohne (Hinter-)List
      aufs Ganze bedacht
      bedächtig
männlicher Verstand:
ohne Skrupel,
eigennützig
draufgängerisch

Aber, so überlegt sie, ist wirklich nur "ein Weg" zur Rettung, nämlich der mittels List und Lüge und Raub? Ein weiteres Mal bedauert sie, kein "männlich Herz'" in ihrem Busen zu tragen, das sich durch nichts in seinem einmal gefassten Entschluss beirren lässt.

5. Wieder allein bedenkt sie die Lage: So kann der Fluch nicht beseitigt werden, durch Tempelraub und Lüge! Sie bittet die Götter um"Rettung", aber: Wie sind die Götter wirklich? Sind sie ungerecht und rachsüchtig, handeln sie willkürlich, wie das alte "Lied der Parzen" behauptet? Iphigenie, die Priesterin, kämpft gegen ihre Zweifel an den Göttern: Kennen sie nichts Menschliches wie Gerechtigkeit, Gnade und Vergebung? Muss deshalb der sittlich handelnde Mensch sich dem von den Göttern "Geschickten" (=Schicksal) entgegenstemmen? Iphigenie steht vor die Frage, ob sie sich den Göttern anvertrauen kann oder selbst handeln muss.

V. Akt

1. ARKAS schildert THOAS die Lage und seinen Argwohn, denn es gibt Gerüchte von einem Schiff, mit dem die Gefangenen die Flucht planen. Wie steht Iphigenie hierzu? Thoas befiehlt, das Ufer abzusuchen.

2. Thoas, allein, ist wütend und enttäuscht: Er fühlt seine Güte von Iphigenie mit List und Trug hintergangen.

3. Er stellt sie zur Rede; gegen die Gewalt des "Mächtigen" stellt sie das Gebot der Menschlichkeit (gegenüber dem Fremden, 1835). Und wieder geht es um die Stellung der Frau, ihre Entscheidungsfreiheit und ihre einzige Waffe: Aufrichtigkeit. Sie legt die Wahrheit offen, doch Thoas - keineswegs wütend - vermutet, dass sie betrogen wurde. Er will Klarheit schaffen.

4./5. Und schon taucht Orest auf, mit dem Schwert in der Hand, denn das Schiff ist jetzt umkämpft. Auch Pylades kommt. Thoas, ganz Herr der Lage, gebietet Waffenstillstand bis zur Klärung der Angelegenheit.

6. Orest, um seine Abstammung vom edlen Agamemnon zu beweisen, verweist auf das väterliche Schwert und fordert zum Zweikampf, auf den Thoas auch gleich eingehen will, doch Iphigenie schreitet dazwischen: Typisch Mann!

"Der rasche Kampf verewigt einen Mann:
Er falle gleich, so preiset ihn das Lied.
Allein die Tränen, die unendlichen
Der überbliebnen, der verlassnen Frau,
zählt keine Nachwelt und der Dichter schweigt
von tausend durchgeweinten Tag- und Nächten ..."

7. Sie hat andere Beweise, eine Narbe, eine Schramme, aber auch ihr schwesterliches Gefühl. Thoas überzeugt das nicht; wollten die Fremden nicht den Tempel ausrauben! Da endlich dämmert es Orest und er klärt den "Irrtum" auf: Die Weissagung des Apollo sprach von einer anderen Schwester: nicht Diana, die Schwester Apollons, sondern Iphigenie, die des Orest galt es heimzuholen.
Er bittet nun Thoas, diese glückliche Auflösung der Geschichte und des Geschickes zu segnen und sie ziehen zu lassen. Erst als Iphigenie gelobt, dass "ein freundlich Gastrecht walte von dir zu uns"(2153), gibt er sein Abschiedswort: "Lebt wohl!"


(cc) Klaus Dautel


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