Johann Wolfgang von Goethe: Novelle


NOVELLE - novella (ital.) - Neuigkeit

„Denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit.”
(J.P.Eckermann: Gespräche mit Goethe, 29. Jan. 1827)

„Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten” „Novelle” Mehr zur „Novelle”

NOVELLE (1827)

Seitenangaben nach der Reclam-Ausgabe


Es ist ein Tag im Herbst, Nebel liegt noch über allem, im fürstlichen Schlosshof wartet eine Jägerei auf den Fürsten, der von seiner jungen Gemahlin Abschied nimmt. Er will zur Jagd ausreiten.

Fürst und Fürstin sind gerade frisch getraut, beide von tätigem Charakter, und sie stehen einem Staate vor, dessen Verhältnisse dank des Vaters seit langem wohlgeordnet sind. Das wirtschaftliche Leben blüht und so findet gerade an diesem Tage der Hauptmarkt statt.
Die Residenz und die Stadt liegen dort, wo das Gebirgsland mit dem flachen Land zusammenkommt.

Trotz des regen Treibens in der Stadt konnte sich der Fürst zu einer großen Jagd tief in den Wäldern des Gebirges überreden lassen. Seine Angetraute bleibt ungern zurück, er schlägt ihr daher einen Spazierritt vor, geleitet vom Fürst-Oheim Friedrich und unter Begleitung des tüchtigen Stall- und Hofjunkers Honorio.

Doch zuvor verfolgt die Fürstin noch aus einem hinteren Fenster mit dem Fernrohr den Jadgzug, wobei ihr Blick zuerst auf die "uralte Stammburg" (5) fällt, ein "ansehnliches Denkmal alter Zeit". Da tritt der Fürst-Oheim ein und zeigt ihr eine Reihe von Blättern, welche ein Maler in seinem Auftrag von dieser alten Burganlage hergestellt hat. Dieser hatte eigens, begleitet von einem Wächter, zu diesem Zweck in den alten Gemäuern wochenlang gewohnt. Jetzt sollen aus diesen Zeichnungen Gemälde für den Gartensaal werden (7).

Anhand dieser Skizzen schildert der Oheim die Lage und den Zustand der Stammburg sehr detailliert: Es handelt sich um ein Bauwerk, das im Begriffe ist, wieder zu Natur zu werden, und "niemand wüsste zu sagen, wo die Natur aufhört, Kunst und Handwerk aber anfangen"(6,7). Der Schlosshof war bisher durch Trümmer nicht zugänglich, nun wurde ein versteckter Zugang geschaffen: Man entdeckte einen freigebliebenen Innenraum, der von großen Bäumen, welche die Galerien durchwachsen haben, eingerahmt wird, "den merkwürdigsten Platz ..., dessengleichen in der Welt vielleicht nicht wieder zu sehen ist"(7, 11).

Honorio meldet, dass alles zum Ausritte fertig sei, da wünscht die Fürstin, zum Vorbild dieser Bilder hinzureiten, der Oheim willigt ein, auch wenn die "Kunst" des Zeichners der "Natur" noch nicht gerecht geworden ist (8,18). Doch zuvor möchte die Dame noch durch die Stadt und über den Markt reiten, wo

"der aufmerksame Beobachter alles (sieht), was der Mensch leistet und bedarf; man bildet sich einen Augenblick ein, es sei kein Geld nötig, jedes Geschäft könne hier durch Tausch abgetan werden; und so ist es auch im Grunde."(8,33).

Der Oheim mag das Getümmel nicht so sehr, muss er dabei doch immer an jenes schreckliche Feuer denken, das bei einem solchen Hauptmarkt einmal ausgebrochen war.

Man reitet los, zuerst über den Markt und durch seine freundliche Menschenmenge, dann in Richtung Vorstadt. Am Ende der Messe, auf einem freien Platz vernehmen sie "ein ohrenzerreißendes Gebrülle"(11,4): In einem größeren Brettergebäude werden "die dort zur Schau stehenden wilden Tiere" gerade gefüttert, auf den Bretterwänden locken "bunte, kolossale Gemälde ... friedliche Staatsbürger". Hierzu bemerkt der Oheim, der gern über den Menschen im allgemeinen spricht:

"Es ist wunderbar ..., dass der Mensch durch Schreckliches immer aufgeregt sein will. ... Es ist an Mord und Totschlag noch nicht genug, an Brand und Untergang; die Bänkelsänger müssen es an jeder Ecke wiederholen. Die guten Menschen wollen eingeschüchtert sein, um hinterdrein erst recht zu fühlen, wie schön und löblich es sei, frei Atem zu holen."(11,25ff)

Der Weg führt sie weiter zum Stadttor hinaus durch die heiterste Gegend, dann bergan "einem höheren freieren Standpunkt entgegen"(12, 18), bis sie schließlich unterhalb der "mächtigen Ruine"(13.3). Die jugendliche Fürstin aber möchte weiter vordringen, und so lässt man die Pferde zurück und erklimmt einen Feldvorsprung, "von wo man eine Aussicht hatte, die zwar schon in den Blick des Vogels überging, aber sich doch noch malerisch genug hintereinander schob."(13.22ff). Von dieser Warte aus stellt die Fürstin Betrachtungen darüber an, wie doch die "klare Natur so reinlich und friedlich aussieht,... als wenn gar nichts Widerwärtiges in der Welt sein könne", in der Menschenwohnung aber gäbe es dann doch "immer etwas zu kämpfen, zu streiten, zu schlichten und zurechtzulegen." (14,11ff)


Da entdeckt der Oheim durch das Fernrohr Feuer auf dem Markte. Tatsächlich: Es brennt. Der Oheim reitet sofort zur Stadt hin, während die Fürstin und Honorio langsamer hinterherreiten. Honorio beruhigt sie, indem er auf die wohlgeordneten Feueranstalten hinweist, nichtsdestotrotz werden vor ihrem inneren Auge "alle die Schreckbilder" von des Oheims wiederholten Berichten wach (Seite 15 und 16 beschreiben das Wüten der Elemente eindringlich). In das "friedliche Tal einreitend"(16,24) taucht nun plötzlich ein Tiger auf (wie im "Bild"), die Fürstin wendet ihr Pferd dem Berg zu, diese strauchelt und fällt, sie richtet sich aber rach wieder auf, Honorio streckt das Tier mit dem zweiten Pistolenschuss nieder. Er kniet über dem Tier mit gezogenem Hirschfänger, da fällt der Fürstin seine Schönheit und Kühnheit ins Auge, in den Ritterspielen hatte er sich immer hervorgetan. Er will ihr das Fell des Tieres erhalten und für den Winterschlitten herrichten ("Euch zur Lust begleiten" 18,17), sie fürchtet zwar dadurch an den Schrecken gemahnt zu werden, er könne sich aber ihres Dankes und der Gnade des Fürsten gewiss sein. Nun, vor der jungen Fürstin knieend, eröffnet er seinen Herzenswunsch, nämlich die Welt bereisen und sich weiter vervollkommnen zu dürfen. Als jedoch die Fürstin ihm die baldige Erfüllung dieses Wunsches in Aussicht stellt, da zieht "eine gewisse Trauer über sein Gesicht" (19,16). Da nun kommen eine fremdländisch gekleidete Frau und ein Knabe hebeigerannt, die Frau wirft sich über das tote Tier und beklagt mit vielen fremdländischen Worten dessen Schicksal (20). Es ist die Besitzerin des Tieres. Jetzt kommen auch Reiter vom Schlosse herab, es ist der eilends zurückgekehrte Jagdtrupp, und nun steht auch "der Fürst vor dem seltsamen unerhörten Ereignis" (21,2). Ein Mann, ebenfalls bunt gekleidet wie die Frau, tritt hinzu und berichtet, dass auch sein Löwe los sei; er bittet um Schonung und Barmherzigkeit für das Tier, damit es nicht auch noch sterben müsse. Schon kommt der Wächter vom alten Schlosse herbeigestürzt und teilt mit, dass der Löwe hinter der Ringmauer der Burg im Schatten einer hundertjährigen Buche sich friedlich niedergelassen habe. Der Tierhalter verspricht, dass Frau und Kind den Löwen bezähmen könnten, während er den Käfig herbeischaffe. Der Fürst ordnet an, dass Honorio am Eingang zum Hohlweg schussbereit wache und der Dinge harre.


Inzwischen hat der schwarzhaarige Knabe begonnen, auf einer Flöte zu präludieren (23) und sein Vater hebt nun an, "mit anständigem Enthusiasmus" Gott und seine Schöpfung zu preisen. Dann ergreift der Vater die Flöte und der Knabe beginnt ein Lied zu singen, das an Daniel in der Löwengrube erinnert und die Harmonie der Elemente sowie die besänftigende Macht der Liebe zum Inhalt hat. (25) Die Wirkung von Wort und Musik auf die Umstehenden ist groß, "man schien die Gefahren vergessen zu haben", den Brand unten und den Löwen oben. (26,12ff)


Noch einmal vergewissert sich der Fürst, ob Frau und Kind tatsächlich den Löwen bändigen können, dann reitet er mit der Schar zur Stadt hin, während Frau und Kind zur Burg gehen, wo Jäger vorsichtshalber Reisig für ein Feuer bereitgestellt haben und Honorio gedankenversunken auf einer Mauer sitzt. Die Frau, welche seine Gemütsverfassung zu ahnen scheint, fordert ihn in rätselhaften Worten auf: "du wirst überwinden. Aber zuerst überwinde dich selbst."(27,18). Er scheint zu verstehen.

Der aufmerksame und pflichtbewusste Wächter (=Wärtel) führt Frau und Kind dorthin, wo über eine Wendeltreppe in den Schlosshof hinabgestiegen werden kann: Von dieser Stelle aus können nun die Frau und der Wärtel (und der Leser!) "gleichsam in die Arena des Schauspiels"(28,7) hinunterblicken und sie beobachten, wie der Knabe mit seinem Flötenspiel und seinem "beschwichtigenden Lied", verklärt von "den letzten Strahlen der Sonne" den Löwen zu sich heranlockt. Dieser legt sich zum Kinde und hebt die rechte Vorderpfote, aus welchem ihm der Knabe einen Dornen zieht. Fast hätte die Frau auf der Mauer Beifall geklatscht (29). Wieder singt das Kind sein Lied von der wundertätigen Macht der Liebe, und ein Bild paradiesischen Friedens und Harmonie, vervollkommnet durch Musik, steht vor unseren Augen und Ohren.


(cc) Klaus Dautel

Impressum · Datenschutz