Johann Wolfgang von Goethe: Novelle


NOVELLE - novella (ital.) - Neuigkeit

„Denn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete unerhörte Begebenheit.”
(J.P.Eckermann: Gespräche mit Goethe, 29. Jan. 1827)

„Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten” „Novelle” Mehr zur „Novelle”

J.W.Goethe über Natur und Naturgewalten


"Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum ersten Mal im tiefsten erschüttert. Am 1. November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien, denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zu Grunde, und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Zeiten die Natur ihre schrankenlose Willkür."
(J.W.v.Goethe: Dichtung und Wahrheit - aus meinem Leben, Erstes Buch. Zit. nach Projekt Gutenberg)
"Es ist wahr, ich konnte kein Freund der Französischen Revolution sein, denn ihre Greuel standen mir zu nahe und empörten mich täglich und stündlich, während ihre wohltätigen Folgen damals noch nicht zu ersehen waren. (...) Ebensowenig war ich ein Freund herrischer Willkür. Auch war ich vollkommen überzeugt, daß irgendeine große Revolution nie Schuld des Volkes ist, sondern der Regierung. Revolutionen sind ganz unmöglich, sobald die Regierungen fortwährend gerecht und fortwährend wach sind, so dass sie ihnen durch zeitgemäße Verbesserungen entgegenkommen und sich nicht so lange sträuben, bis das Notwendige von unten her erzwungen wird."
(Goethe am 4.1.1824 zu Eckermann, zit. nach Projekt Gutenberg)
"Jede Revolution geht auf Naturzustand hinaus, Gesetz- und Schamlosigkeit. (Pikarden, Wiedertäufer, Sansculotten.)"(J.W.Goethe: Maximen und Reflexionen, Hrsg. von M. Holzinger 2013, S.111)
"Es ist offenbar, daß das, was wir Elemente nennen, seinen eigenen wilden wüsten Gang zu nehmen ... den Trieb hat. Insofern sich nun der Mensch den Besitz der Erde ergriffen hat und ihn zu erhalten verpflichtet ist, muß er sich zum Widerstand bereiten nd wachsam erhalten. (...) Die Elemente sind daher als kolossale Gegner zu betrachten, mit denen wir ewig zu kämpfen haben, und sie nur durch die höchste Kraft des Geistes, durch Mut und List, im einzelnen Fall bewältigen. Die Elemente sind die Willkür selbst zu nennen; die Erde möchte sich des Wassers immerfort bemächtigen (...) Ebenso möchte das Wasser die Erde ... wieder in seinen Abgrund reißen. Die Luft, die uns freundlich umhüllen und beleben sollte, rast auf einmal als Sturm daher, uns niederzuschmettern und zu ersticken. Das Feuer ergreift unaufhaltsam, was von Brennbarem, Schmelzbarem zu erreichen ist. Diese Betrachtungen schlagen uns nieder, indem wir solche so oft bei großem, unersetzlichem Unheil anzustellen haben. Herz und Geist erhebend ist dagegen, wenn man zu schauen kommt, was der Mensch seinerseits getan hat, sich zu waffnen, zu wehren, ja seinen Feind als Sklaven zu benutzen. Das Höchste jedoch, was in solchen Fällen dem Gedanken gelingt, ist: gewahr zu werden, was die Natur in sich als Gesetz und Regel trägt, jenem ungezügelten, gesetzlosen Wesen zu imponieren."
("Versuch einer Witterungslehre" 1825 zitiert aus https://anthrowiki.at)

Unterrichtsmethodische Überlegungen:

Zur Info: Diese Vorschläge gehen auf meine Beschäftigung mit der Goethe-Novelle als Abitur-Pflichtlektüre in Ba-Wü zurück.


  Recherchen: Referate zu folgenden Themen:

  • Daniel in der Löwengrube (Buch Daniel)
  • die heilende Kraft der Musik (Pythagoras, harmonia mundi, Musiktherapie)
  • Orpheus, das Urbild des Künstlers und Sängers
  • Das Motiv von Kind und Löwe
  • Goethe als Naturwissenschaftler
  • Die Novelle, Begriff, Geschichte, Struktur
  • Schließlich: Goethes Naturbegriff - z. B. in seiner Elegie "Metamorphose der Pflanzen"

Textarbeit: Sammeln und Auswerten:

Erscheinungsformen von NATUR und NATÜRLICHKEIT in Goethes "Novelle"
  • S.4 - Jagd = Kriegszug
  • S.6/7 - Stammburg = naturgewordenes Denkmal, durch Künstlerhand wieder gegenwärtig gemacht
  • S.11 - die wilden Tiere - zuerst im Bild zur Anregung der Phantasie und Sensationslust
  • S.14 - die "klare Natur" als Kontrast zu Streit und Kampf im bürgerlichen Leben
  • S. 15 - das Feuer und der "wüste Wirrwarr" (real und in Erinnerungsbildern)
  • S. 17 - der Tiger
  • S. 19/20 - die fremdländische Frau, ihre "natürliche Sprache", ihre Ehrfurcht vor dem Tiger, die sich in der Totenklage äußert (Frömmigkeit)
  • S.23 - das Kind, sein Flötenspiel ohne Melodie und ohne Gesetz
  • S.23/24 - der Mann, sein "natürlicher Enthusiasmus", sein einfaches, biblisches Weltbild vom König der Tiere, der sich dem Ebenbild Gottes willig beugt.

Fazit: Naturhaftigkeit ist nicht nur Naturphänomenen im engeren Sinne eigen, sondern auch Menschen und ihrer Haltung gegenüber der Mit-Kreatur (= Frömmigkeit).
Hier sind also zwei unterschiedliche Haltungen zu erkennen und werden an einer Stelle ganz deutlich, nämlich auf Seite 27/28: Besiegen oder Besänftigen!

Dementsprechend lassen sich die Haltungen den Personen zuordnen:
Nach ihren Umgangsformen mit der Natur, auch mit dem Elementaren und dem Bedrohlichen darin:

  Fürst & Fürstin / Honorio / Oheim / WärterFrau, Mann, Kind
Bändigen, Überwältigen, Besiegen        
          durch      
Gewalt: Jagd, "militärische Erfahrung"(22)        
           und             
Ordnung (Feuerwehr, Staatswesen)        
           und
Entsagung  (Selbstüberwindung)
Bezähmen und Besänftigen
durch
Frömmigkeit (Ehrfurcht vor der Natur,
Einverständnis mit dem Bestehenden)
und
Liebe (Reinheit des kindlichen Wesens)
    Zwei Textstellen können dies deutlich machen:
  • "Novelle" Seite 30: Das Kind als "siegreicher Überwinder", der Löwe aber nicht als Überwundener, sondern Gezähmter!
  • Friedrich Schiller: "Der bloß niedergeworfene Feind kann wieder aufstehen, aber der versöhnte ist wahrhaft überwunden." (Über Anmut und Würde, 1793)

Textstellen, die sich für eine exemplarische Interpretation eignen:

  • S. 8,8 - 10,6 - Ordnung und Chaos
  • S. 14,5 - 16,23 - Natur und Feuer
  • S. 16,24 - 18,24 - Tiger und Liebe
  • S. 18,3 - 20,23 - Drei Menschen und ein toter Tiger ("Frömmigkeit")
  • S. 26,1 - 28,3 - Zwischenspiel

(cc) Klaus Dautel

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