Heinrich Leopold Wagner

Einführung Das Trauerspiel Unterrichtspraktisches

Die Kindsmörderin (1776)

  Einordnung des Trauerspiels: Eine nicht mehr norm-gerechte Tragödie

  • Ort und Zeit: "Der Schauplatz ist in Straßburg, die Handlung währt neun Monat"
      → Verstoß gegen die Vorschrift von den drei Einheiten (Ort, Zeit und Handlung)
  • Genre: Ein bürgerliches Trauerspiel in VI Akten
      → keine Tragödie in V Akten
  • Sprache: schlichte Prosa, spontane, zum Teil sehr deftige Umgangssprache
      → keine gehobene und gebundene Sprache
  • dramatis personae/die Personen: adlige Offiziere, Bürgertum, niederes Dienstpersonal
      → Abweichung von der klassischen "Ständeklausel"

Hierzu G.E.Lessing, Hamburgische Dramaturgie, 14. Stück:

"Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleid haben, so haben wir es mit ihnen als Menschen und nicht als mit Königen."

(Zit. nach Projekt Gutenberg.)

Erster Akt: Im Wirtshaus (der Ort des Lasters)

Der Leutnant v. Gröningseck führt Frau Humbrecht und Tochter Evchen (18 Jahre alt) in ein "schlechtes Nebenzimmer im Wirtshaus zum Gelben Kreuz". Es ist ein Faschingsball. Mit Hilfe der Magd Marianel - ein 'leichtes' Mädchen - lässt er der Mutter Humbrecht einen Punsch mit Schlafpulver servieren, und als sie in tiefen Schlaf versinkt, macht er sich im Nebenzimmer mit "Getös" über die Tochter her. Während dessen stiehlt die Magd eine Tabaksbüchse.

Evchen stürzt aus dem Nebenzimmer und ist in Verzweiflung ("Zur Hure gemacht"), aber der Leutnant schwört hoch und heilig, dass er in fünf Monaten, wenn er "majorenn" (→ volljährig) geworden ist, sie an den Altar führen werde.


Zweiter Akt: Im bürgerlichen Haushalt

In der Wohnstube des Humbrechtschen Hauses - bürgerlich möbliert.
Der Vater, Martin Humbrecht macht seiner Frau heftige Vorwürfe, weil sie mit der Tochter auf dem Ball war, was sich für ehrbare Bürgersleut nicht gehöre. Das sei für die "vornehmen Damen und Herren, Junker und Fräuleins", nicht aber für Handwerker und Bürger.
Der gerade eintretende Magister Humbrecht wird zur Stellungnahme aufgefordert. Dieser, in gelehrte Manier sprechend (-> Parodie des Aufklärers), kann am Ballgehen an und für sich noch nichts Verwerfliches erkennen. Der Metzgersmeister geht erzürnt.
Der Zimmerherr des Hauses, Leutnant v.Gröningseck, betritt das Zimmer. Mit dem Magister kommt es zum Gespräch über "Erziehungsgrundsätze": Der Magister vertritt die Schock-Therapie, zur Abschreckung vor dem Laster würde er die Zöglinge in die Lasterhöhlen usw. führen und ihnen die Folgen des übels drastisch vor Augen führen (Lazarett, Spitale) (S.24). Magister und Leutnant zusammen ab.
Das unglückliche Evchen erscheint, die Mutter vermisst ihre silberne Tabaksdose und sucht sie verzweifelt. Meister Humbrecht will eine Magd, die von einem Sergeanten geschwängert wurde, aus dem Haus werfen, was natürlich die Gewissensnöte Evchens noch erhöht. (Spiegelung und Verdeutlichung des Problems)


  Personencharakteristik

Formuliere in höchstens drei Sätzen. Beginne mit äußeren Merkmalen (Stand, Beruf etc.) und gelange dann erst zu den Charaktereigenschaften):

  • Evchen: Bürgerstochter, 18, unerfahren und bisher wohlbehütet und wohlerzogen (Ballet-Unterricht); ihr Verhalten schwankt zwischen naiver Leichtgläubigkeit und aufrechter Tugendhaftigkeit
  • Frau Humbrecht: Bürgersfrau, einfältig und leicht zu beeindrucken durch alles was Rang und Namen hat ("spielt ihm an der Epaulette"); ihr Verhalten dem Leutnant gegenüber ist kokett und zugleich kupplerisch.
  • Marianel: Magd und käufliches Mädchen, das mit dem Leutnant schon wohlbekannt ist und bei passender Gelegenheit etwas bei Seite schafft.
  • Der Leutnant: Adliger Offizier, versucht durch französische Redewendungen Eindruck zu machen, mit moralisch zweifelhaftem Lebenswandel - die plötzliche Wandlung ins Ernsthafte ist nur schwer glaubhaft.
  • Meister Humbrecht: Standesbewusster Bürger mit strengen Vorstellungen von dem, was sich gehört und was nicht und von einer ordentlichen Hausführung: sehr besorgt um das Ansehen seines Hauses in den Augen der Nachbarn und Kunden.
  • Der Magister: ...


Dritter Akt: Aus dem Soldatenleben - die Ehre des Soldaten

Informationen zum Verständis der Dramenhandlung:
  • Offiziere wohnten zur damaligen Zeit nicht in Kasernen, sondern wurden in bürgerliche Häuser einquartiert, wo sie verköstigt werden mussten.
  • Offizieren stammten aus dem Adel und pflegten einen dementsprechend aufwendigen und müßiggängerischen Lebensstil (Kartenspielen, Amusieren, Saufen und Duellieren).
  • Offiziere waren einem strikten Heiratsverbot unterworfen, solange sie im Dienstverhältnis waren.

Im Zimmer des Leutnants - irgendwann im Sommer
Der Leutnant v. Hasenpoth wundert sich, dass v.G. nicht mehr so lebenslustig ist wie früher. Sollte der sich etwa in das Mädchen verliebt haben, zu dessen Eroberung er ihm das Schlafpulver besorgt hat? Sie streiten sich: Für v.G. ist Evchen ein Engel,die "simple Natur", für v.Hasenpoth ein Weibsbild wie jede andere.
Der Magister kommt herein und man erfährt, dass Evchen sehr von der Melancholie geplagt wird und nur noch Young`s "Nachtgedanken" lese.
V.G. lässt ihr ermunternde Grüße ausrichten.
Der Major Lindsthal erscheint mit der Urlaubsbewilligung für den Leutnant. Der Major erzählt eine Geschichte über die Soldatenehre und die Pflicht, diese im Duell zu bewahren, auch wenn das Duellieren verboten ist. "Lieber das Leben als die Ehre verloren."(40) Dem Magister will das nicht so recht vernünftig erscheinen.
In dem abschließenden Gespräch zwischen den Leutnant gesteht v. G., dass Evchen von ihm schwanger ist und er den Dienst quittieren will um sie zu heiraten. Dem v.Hasenpoth gefällt das nicht und er sinnt auf böse Pläne.


  Die Bedeutung von Stand und Ehre (Dreierlei Ehren)
      ||                       ||                         ||
      \/                       \/                         \/  
 Evchens Frauenehre     Meister Humbrechts            Militär. Ehrenkodex
  (Tugend)              bürgerliche Standesmoral       "Esprit de corps"
                                 (Ordnung)               (Ehre oder Leben)
Heiratschancen
sichere Versorgung      öffentliches Ansehen
öffentl.Ansehen         und Geschäftserfolg          Anerkennung und  
                                                     Respekt im corps 
oder                           oder                     oder
Schande und              wirtschaftlicher Abstieg     unehrenhafte Entlassung
Familien-Ausschluss                                   (oder weitere
                                                       Duellforderungen)

Zusammenfassend kann gesagt werden: Ehrverlust bedeutet 
sozialer Abstieg, Verlust der Lebensgrundlagen, Ächtung, Lebensgefahr 


Vierter Akt: Evchens Melancholie und Vision, v.G.s Schwur: Wendung zur Empfindsamkeit

Am späten Abend in Evchens Schlafzimmer
Die Mutter macht Evchen Vorhaltungen wegen deren Melancholie und >Kopfhängerei<, die auch den Vater schon sehr irritiere, aber Evchen bittet noch um ein wenig Zeit, dann würde sie sich schon erklären können, oder ..."ein Kind des Todes." Die Eltern machen sich schon sehr Sorgen um sie, was ihre Lage noch verschlimmert.
Da schleicht v.Gröningseck ins Zimmer, um sich von ihr für zwei Monate zu verabschieden und noch einmal seine Treue zu beschwören.
Evchen dagegen erschreckt ihn mit der Vision ihres elenden Schicksals, falls er sie im Stich ließe. V.G. gibt sein hochheiliges Ehrenwort (50), und wenn sie nur jeden Verdacht vermeiden könne, dann wede sich schon alles richten.


Fünfter Akt: Intrigen des v.H., Evchens Verschwinden, die Wahrheit kommt heraus
In der Morgendämmerung verlässt Evchen mit dem von der Magd geliehenen Mantel das Elternhaus. Sie hat einen Brief des v.G. erhalten, in welchem er den v. Hasenpoth als Ersatz vorschlägt.
Der Magister kommt zum Metzger und berichtet, dass E. bei der gestrigen Sonntagspredigt, als es um das 7.Gebot und um Kindsmord ging, in Ohnmacht gefallen sei. Als der Meister sich darüber nicht weiter beunruhigt, zeigt ihm der Magister einen Brief des v.G., in welcher dieser sich weigert, E. zu heiraten und für das Kind aufzukommen. (59)
In seiner Wut verprügelt Humbrecht einen Polizeigehilfen, welcher gerade kommt, um wegen der Tabaksdose anzufragen. Diese fällt zunächst unbemerkt auf den Boden als der Fausthammer wegrennt.
Frau H. findet sie. als sie mit der Meldung zurückkehrt, dass E, verschwunden sei. Große Aufregung. Nun kommt der Fiskal persönlich wegen der Tabaksdose und es kommt an den Tag, was im `Gelben Kreuz` geschehen ist und warum E. weg ist.


Sechster Akt: Die Katastrophe - unausweichlich?

In cognito ist Evchen bei der Wäscherin Frau Marthan untergekrochen, ihr Kind ist bereits mehrere Wochen alt, aber sie kann es nicht stillen, die gute Frau besorgt Lebensmittel, so gut es geht, aber sie hat nicht viel. Aus dem Wäscherinnenklatsch erfährt Evchen, dass ihre Mutter vor Gram gestorben und der Fehltritt der Tochter zum Stadtgespräch geworden sei. Der Vater habe 100 Taler ausgeschrieben für denjenigen, der Nachricht von seiner Tochter bringt.
Da gibt sich E. zu erkennen und schickt die Marthan zum Vater.
In deren Abwesenheit ersticht E. ihr Kind mit einer Stricknadel und singt "Eia popeia" dazu.
Doch da kommt schon der Vater und auch der Magister hinterdrein. V.Gröningseck, der Fiskal und zwei Fausthämmer erscheinen ebenfalls, um den Fall auf- und Evchen mitzunehmen. Das Schwert wartet.
Der verstörte v.G. erkennt die Intrigen des v.Hasenpoth und schwört, bei der gesetzgebenden Gewalt in Versailles Gnade für Evchen zu erwirken. Der verwirrte Vater kann ihm nur noch Geld dafür anbieten.


  Katastrophe und Lösungsvorschläge:

Die Katastrophe ist geschehen, das Kind tot und Evchen nicht mehr zu retten.

Welche Lösungsansätze für das Problem werden dennoch angesprochen und von wem?

Welche Autor-Intentionen lassen sich daraus ableiten?

  • Meister Humbrechts Lösung: GELD ("zehntausend gäb ich drum ...“)
  • von Gröningsecks Lösung:
    • ein besserer Staat, in dem es keine Intriganten gibt
    • ein besseres Gesetz, das Gnade mit den Täterinnen walten lässt
    • mehr Glaube an die Tugendhaftigkeit, gegenseitiges Vertrauen

Was ist die Wirkungsabsicht des Stückes:

  • emotional: Erschütterung des Publikums, Mitleid mit dem Opfer, Unmut über die Ungerechtigkeit
  • intellektuell: Erkenntnis der Unmoral des Adels und Hilflosigkeit des Bürgerstandes,
  • politisch: Forderung nach einer neuen Moral und Verständnis für die Umstände einer Tat und die Zwangslage der weiblichen Täterinnen

Zusammenfassung: Wagners Trauerspiel "Die Kindermörderinn“ ist ein soziales Drama, mit welchem versucht wird, über das Theater Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben und zur Veränderung von moralischen, politischen und rechtlichen Verhältnissen beizutragen. Damit erhält Literatur eine neue Bestimmung: Nicht Fürstenlob (→ Mäzenatentum) und Unterhaltung (→ Vergnügung), sondern Einflussnahme auf die öffentliche Meinung.


(cc) Klaus Dautel


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