Arthur Schnitzler (1862-1931): „Charakternovellen”

Traumnovelle  
Leutnant Gustl  
Casanovas Heimkehr  
Spiel im Morgengrauen  
Flucht in die Finsternis  

LEUTNANT GUSTL

Die Erzählung des Leutnant Gustl ist eine Art innerer Monolog, die Sprache ist spontan und mundartlich gefärbt, die Sätze sind oft kurz, abgehackt und unvollständig. Dieses ICH erlebt, begreift und kommentiert das ihm Zugestoßene zur gleichen Zeit, schweift ab in die Vergangenheit, knüpft lockere Assoziationen, um dann wieder abrupt in das ihm Gegenwärtige zurückgeholt zu werden. Dieses ihm ständig Gewärtige ist der bevorstehende Freitod zur Rettung seiner - wie er meint - beschädigten Offiziersehre. Was ist geschehen?

Der Wiener Leutnant sitzt in der Oper und langweilt sich. Seine Gedanken schweifen hin und her zwischen dem Geschehen auf der Bühne und in den herumliegenden Logen. Er ist hier nur halb freiwillig, eher in Vertretung eines Kameraden, der ihm seine Karte abgetreten hat. Er selbst kommt immer wieder auf das am nächsten Nachmittag bevorstehende Duell zurück, das er mit einem Herrn Doktor zu bestehen hat, weil dieser sich despektierlich über das österreichische Offizierskorps geäußert haben soll - Genaueres erfährt man nicht! An der Garderobe schließlich gibt es ein Gedrängel. Er wird laut und da packt ein bärenstarker Bäckermeister einfach Gustls Säbel und droht ihm diesen zu zerbrechen, wenn der "dumme Junge" nicht Ruhe gibt. Der völlig verblüffte Leutnant ist sprachlos und fängt erst nach dieser Begebenheit an zu denken, und der Schluss, zu dem er kommt, scheint ihm völlig zwingend: Er muss sich zur Rehabilitierung seiner Ehre umbringen. Zwar könnte es sein, dass diese Geschichte nie publik wird, aber er selbst weiß darum.

Den Rest der Nacht lässt sich der Leutnant durch Wien treiben, immer damit beschäftigt, sich zu rechtfertigen, Auswege zu ersinnen und wieder zu verwerfen (z.B. ab nach Amerika), sich die Reaktionen seiner >Lieben< (Wer ist das überhaupt?) vorzustellen usw. Schließlich landet er im Prater, wo er auf einer Bank einschläft und von der frühen Morgensonne geweckt wird.

Er geht in sein Stammcafe, er hat es jetzt nicht mehr so eilig, weil er vorher doch noch einiges zu erledigen hat, z.B. Abschiedsbriefe schreiben, Schulden bezahlen, ordentlich Frühstücken, und erfährt dabei vom Herrn Ober, dass in dieser Nacht einen gewissen Bäckermeister überraschend der Schlag getroffen habe. Er ist tot. Gustl kann seine Freude kaum verbergen. Jetzt ist die Sache ausgestanden und er kann in aller Ruhe dem Duell am Nachmittag entgegensehen.

Wegen der Veröffentlichung von >Leutnant Gustl< wird Schnitzler 1901 nach einem ehrenrätlichen Verfahren der Offiziersrang abgesprochen.

CASANOVAS HEIMKEHR (1918)

In seinem 53. Lebensjahre hält sich Casanova, der Chevalier von Seingalt, schon seit drei Monaten in einem Gasthaus in Mantua auf in der Erwartung bald ehrenvoll in die Republik Venedig zurückgerufen zu werden. Aus dieser seiner Heimatstadt war er vor 20 Jahren durch eine Flucht aus den Bleikammern entronnen. In den letzten Wochen arbeitet er an einer Schrift gegen den ihm verhassten Voltaire, durch welche er sich zusätzlich den Venezianischen Ratsherren beliebt zu machen verspricht.

Auf einem seiner täglichen Spaziergänge begegnet ihm Olivo, der Mann einer früheren Geliebten Casanovas, der er vor vielen Jahren durch eine großzügige Gabe von 150 Golddukaten zur Gründung einer soliden Existenz verholfen hat. Olivo, immer noch voll der Dankbarkeit, lädt den Chevalier auf sein Gut ein, was dieser nur unwillig annimmt.

Auf dem Landgut Olivos trifft er Amalia wieder, ihre drei minderjährigen Töchter, aber auch eine junge Frau namens Marcolina, deren Schönheit, Intelligenz und kühle Distanz ihn sofort anziehen. Er ahnt, dass sie einem Leutnant Lorenzi heimlich verbunden ist. Des weiteren macht er Bekanntschaft mit einem Abbate und einem Marchese.

Casanovas ganze Leidenschaft und Ehrgeiz wird durch Marcolinas ablehnende Haltung angestachelt, zumal sie auch seine Gegnerschaft zu Voltaire nicht nachzuvollziehen bereit ist. Zuerst versucht er Amalias Zuneigung auszubeuten, indem er sie zur Kupplerin machen will. Ohne Erfolg. Dann, in der Nacht, nach dem Kartenspiel, bei dem er sein letztes Geld verlor, beobachtet er den stolzen Leutnant Lorenzi aus Marcolinas Fenster steigen. Er weiß Bescheid.

Am nächsten Tag, nach dem Besuch eines Nonnenklosters, erreicht ihn tatsächlich ein Brief aus Venedig, in welchem ihm sein Gönner Bragadino vom Hohen Rat anbietet, im Dienste der Republik die Feinde der Regierung auszuspionieren. Casanova ist empört, antwortet aber sofort positiv: Er wird sich für dieses niedrige Ansinnen zu rächen wissen! Noch am selben Tag wird er abreisen. Aber auch Lorenzi muss abreisen, weil seine Truppe verlegt wird. Beim Kartenspiel verschuldet sich Lorenzi gnadenlos beim Marchese, während Casanova alles gewinnt. Jetzt sieht Casanova seine Chance: Auf einem Spaziergang durch die Weinberge bietet er Lorenzi seinen ganzen Gewinn und fordert als Gegenleistung die Nacht unerkannt bei Marcolina verbringen zu können. Der Leutnant willigt ein und tauscht seinen Mantel gegen das Geld, mit dem er beim Marchese seine Schulden begleichen kann.

Nur zum Schein reist Casanova am Abend ab, kehrt aber dann um, schleicht sich um Mitternacht unerkannt durch Marcolinas Fenster, erlebt noch einmal alle Verzückungen der Leidenschaft, seine Gedanken schweifen ab zu großen Abenteuern, diese verwandeln sich in Alpträume und - als die Morgendämmerung durch das Fenster dringt, wird er - der Schlafende - von ihr mit Entsetzen und Ekel erkannt: Der alte Mann! Er flieht, durchläuft unerkannt das Anwesen, wird aber dann von Lorenzi gestellt und zum Duell gefordert. Da Casanova unter dem Mantel nackt ist, entkleidet sich auch der ehrenfeste Leutnant, man ficht und Lorenzi fällt.

In einem Zuge reist Casanova zwei Tage lang durch bis nach Venedig, wo ihn der greise Bragadino freudig empfängt und bewirtet. Noch selbigen Tags besucht er das Cafe, das als Hauptversammlungsort der Freidenker und Umstürzler gilt, um dort auch gleich die Bekanntschaft jener jungen Männer zu machen, deren Namen ihm als verdächtig genannt wurden.

Schnitzler erzählt mit großem erzählerischem Ergeiz in der gewählten und wohlgesetzen Sprache seines Protagonisten. Die Sympathie für den alten bzw. gealterten Abenteurer ist unverkennbar, dessen Intelligenz, geschärfte Wahrnehmung und Instinktsicherheit ebenso gezeigt werden, wie seine Verstellungs- und Lügenkunst, seine Verschlagenheit und Amoralität. Casanova hat eine große Vergangenheit, die in seiner Erinnerung und in tausend Erzählungen noch größer geworden ist, und er muss feststellen, dass sein Name nicht allen Ehrfurcht einflößt und er selbst immer mehr zum Schatten, wenn nicht gar zur Parodie dieser Gestalt geworden ist. Die Begierde und Konsequenz, mit der er dieses Abenteuer in die Wege leitet, ist nur zu verstehen als Aufstand gegen die sehr akute Erfahrung des Alterns. Dieses Gefecht gegen die Vergänglichkeit und Mittelmäßigkeit kann er natürlich nicht gewinnen, aber er kämpft mit allen Mitteln und tapfer. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Erzählung (1918) hatte Arthur Schnitzler sein 53. Jahr lange vollendet.

SPIEL IM MORGENGRAUEN

(1926 veröffentlicht, 1931 Premiere des Tonfilms "Daybreak")

I.
Den Leutnant Wilhelm Kasda sucht an einem Sonntagmorgen der ehemalige Kamerad Oberleutnant v. Bogner auf. Er musste vor Jahren seinen Abschied nehmen, ist nun verheiratet, hat Geld veruntreut und benötigt vor der nächsten Inventur dringend 1000 Gulden. Kasda scheint seine letzte Rettung zu sein. Dieser aber ist selbst fast ohne Mittel, vor allem seit sein reicher Onkel Robert alle Zuschüsse einstellte, und hat sich auf ein - für seinen Stand - bescheidenes Leben eingerichtet. Er nimmt sich jedoch vor, heute Abend beim Kartenspiel mit seiner Barschaft von 100 Gulden sein Glück zu versuchen.

II.
Er fährt von Wien mit dem Zug nach Baden und wird dort von einer bekannten Rechtsanwaltsfamilie zum Mittagessen eingeladen. Es gelingt ihm, die Herrschaften und vor allem die feschen Töchter für sich einzunehmen.

III.
Aber er muss ja zum Spiel mit dem Konsul Schnabel und anderen. Kasda gewinnt recht schnell einen Betrag, der die Tausend überschreitet.

IV.
Er verlässt den Spieltisch und versucht, zu seinen Gastgebern zurückzukehrern, diese sind aber ausgefahren und er kann sich nicht recht entschließen hinterherzufahren.

V./VI./VII.
Deswegen gehts zurück an den Spieltisch. Er gewinnt noch mehr, vergisst aber zum rechten Zeitpunkt aufzuhören und spät in der Nacht hat er an den Konsul 11 000 Gulden verloren.

VIII.
Auf der Rückfahrt in der Kutsche des Konsuls wird ihm eine Frist bis zum nächsten Dienstag Morgen eingeräumt, um seine >Ehrenschuld< zu begleichen. An diesem Tag fährt der Konsul für lange Zeit ins Ausland.

IX./X.
Am Montag Morgen lässt er sich bei seinem Onkel Robert Wilram anmelden; dieser aber sieht sich nicht in der Lage zu helfen. Er ist seit Jahren mit einer jungen Dame verheiratet, der er sein ganzes Geld zur Verwaltung überschrieben hat. Sie tut dies sehr erfolgreich, diktiert dem alten Herrn aber sehr streng die Bedingungen ihrer Ehe. Der Leutnant erfährt mit Erstaunen, dass er diese Dame schon kennt und sie vor einigen Jahren einmal für 10 Gulden >gekauft< und dann verlassen hat.

XI.
Er bringt die Adresse dieser Leopoldine in Erfahrung, sucht sie auf und findet eine selbstbewusste Geschäftsfrau, die ihn zwar freundlich behandelt, ihm aber nur unbestimmte Hoffnungen macht: Er werde heute Abend gegen halb acht Bescheid erhalten.

XII./XIII.
Tatsächlich kommt sie am Abend selbst in die Stube des Leutnants, lässt sich bewirten und verführen, spricht aber keine Silbe von dem Geld. Er wagt nicht zu fragen, nährt aber durch ihr Verhalten in sich die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang.

XIV.
Im Morgengrauen erwacht er und sieht, wie sie sich zum Gehen fertig macht. Schon als er nach dem Geld fragen will, hinterlässt sie beiläufig tausend Gulden. Ihm wird langsam bewusst, dass dies eine Revanche war für die angetane Schmach drei Jahre zuvor. Er erkennt, dass er "bereit gewesen war, sich zu verkaufen. Und nicht ihr allein ... auf dem Grunde seiner Seele ... begann er eine verborgene und doch unentrinnbare Gerechtigkeit zu verspüren ..." Er lässt durch seinen Diener dem v.Bogner den Tausend-Gulden-Schein zustellen, und befiehlt ihm, desweiteren jegliche Störung seiner Ruhe zu verhindern.

XV.
Drei Stunden später steht v.Bogner, in dem Drang, nach erfolgter Revision seinem Retter zu danken, vor der Tür. Auch der Regimentsarzt taucht auf und sogar der gute Onkel Robert mit einem Kuvert, der 11000 Gulden enthält, welche ihm seine Frau Leopoldine am Morgen noch gegeben hat. Da niemand öffnet, wird der Schlosser geholt. Man findet den Leutnant tot . Onkel Robert gewahrt auf dem Tisch noch Reste des Gastmahls vom Vorabend, eine dunkle Ahnung überfällt ihn plötzlich, doch der brave Bursche Joseph rettet seinen Leutnant:" --- ein Herr Kamerad." -
"Und der sinnlose Gedanke, der dem Alten flüchtig durch den Kopf gefahren war, verwehte in nichts."

FLUCHT IN DIE FINSTERNIS (1931)

Der Protagonist dieser Geschichte ist Robert, Wittwer, 40 und als Beamter im Wiener Erziehungsministerium tätig (Titel: Legationsrat). Er kehrt von einer sechsmonatigen Erholungsreise nach Wien zurück und nimmt die Arbeit in seinem Amt wieder auf.

Er war verheiratet mit einer etwas einfältigen und übergewichtigen Dame, deren dilettantisches Klavierspiel ihn eher belästigte als erfreute. Sie starb an Herzversagen.

Während des langen Erholungsurlaubs verlor Robert seine Geliebte an einen Amerikaner, mit dem sie ihn verließ. Über deren Verbleib ist ihm nichts bekannt.

Roberts älterer Bruder, Otto, ist ein angesehener Wiener Arzt, zu dem Robert ein sehr enges Verhältnis hat und auf dessen Rat hin er diese sechsmonatige Reise unternommen hatte: Sie sollte seinen überreizten Gemüts- und Seelenzustand heilen helfen, denn Robert war zunehmend durch Nervosität und Wahnvorstellungen aufgefallen. Zudem hatte er seinem Bruder eine schriftliche Erlaubnis ausgestellt, ihn im Falle einer unheilbaren Geisteskrankheit auf sanftem Wege zu Tode bringen zu dürfen.

Die Handlung besteht zu einem großen Teil aus inneren Monologen, in denen wir erfahren, wie Robert zwischen immer noch bestehenden Wahnvorstellungen und klaren Einschätzungen seiner Lage hin- und hergerissen wird. Zuweilen ist er sich nicht sicher, ob er seine Gattin nicht vergiftet und seine Geliebte nicht umgebracht hat. Er beobachtet sich sehr intensiv und entdeckt immer noch nervöse Zuckungen des Augenlides, was ihn sehr beunruhigt.

In den letzten Tagen seiner Reise lernt er Paula Rolff kennen, eine anmutige, aber nicht mehr ganz junge Dame, Tochter eines reichen Anwaltes. Paula hatte zusammen mit ihrer Mutter Wien verlassen, da ihr Vater zur Vorbereitung einer seiner Fälle Ruhe brauchte. Eines Abends jedoch sind die Damen ohne Erklärung abgereist. Zurück in Wien stellt sich heraus, dass der Anwalt Wien fluchtartig verlassen hatte wegen des Verdachts auf geschäftlicher Irregularitäten. Tatsächlich ergibt sich, dass der Vater nicht mehr nach Wien zurückkehren wird und also die luxuriöse Wohnung aufgelöst werden müsse.

In dieser Situation besucht Robert die beiden Frauen und es entsteht eine engere Beziehung zwischen ihm und Paula, die zu dem Entschluss führt, eine gemeinsame Wohnung zu beziehen, welche auch bald gefunden wird. Des weiteren nimmt Robert seine Tätigkeit am Amt mit Energie und neuen Ideen wieder auf und er findet wieder Anschluss an die Kollegenschaft und den alten Bekanntenkreis. Zudem erhält er einen Brief von Alberta, aus dem er entnimmt, dass sie glücklich in Chicago lebe und Wien - ebenso auch ihn - im nächsten Jahr besuchen möchte. Alles könnte in bester Ordnung sein.

Zugleich aber bekommt er diese Wahnvorstellungen nicht los und sie kreisen immer mehr um das Dokument, welches er seinem Bruder ausgestellt hat: Die Tötungserlaubnis. Seine Gedanken spitzen sich immer mehr auf die Idee zu, dass sein Bruder im Falle eigener Verwirrtheit von dieser Erlaubnis Gebrauch machen könnte. Was wäre, wenn er, Robert nunmehr gesund, aber der Bruder verrückt würde? Wer würde das merken, wer würde das von dem angesehen Arzt vermuten? Wer würde dagegen ihm glauben, dem ehemals Kranken?

Immer mehr deutet Robert das Verhalten seines Bruder in diesem, seinem Sinne bis zu dem Punkte, da er meint Gewissheit zu haben, dass er bei einer anstehenden Einladung in Ottos Haus von diesem vergiftet werden würde. Er beschließt die Flucht noch am selben Tage und fordert seine Braut Paula auf, ohne ihr allerdings den wahren Grund seines Handelns zu erklären, sich ihm anzuschließen. Er fährt mit der Bahn auf das Land, wo er in einem einfachen Gasthof die Ankunft seiner Braut erwartet. Zugleich schreibt er seine Geschichte und seinen Verdacht auf, in der Hoffnung, sein Verhalten dadurch erklären zu können. Paula aber kommt nicht, wie besprochen, mit dem Abendzug. Auch ein Telegramm trifft nicht ein. Robert wartet im Bett auf den nächtlichen Zwei-Uhr-Zug, wirre Träume und Gedanken lassen ihn die Zeit vergessen, es klopft, sein Bruder steht in der Tür in einen Pelzmantel gehüllt, er will den verwirrten und aufgeschreckten Robert beruhigen, nimmt ihn brüderlich in den Arm, doch Robert sieht darin seinen Verdacht nur bestätigt und erschießt ihn in dieser Umarmung.

Er stürzt aus dem Haus in die winterliche Berglandschaft, sein zerschundener Leichnam wird drei Tage später an einem Abhang gefunden.

(cc) Klaus Dautel

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