Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten

  Kurze Einführung: NOVELLE → novella (ital.) Neuigkeit

  • Als literarischer Begriff bekannt seit BOCCACCIOs "Decamerone" (1348/53): An einem Ort unweit der Stadt Florenz, in der die Pest herrscht (1348), werden in einer Gesellschaft an zehn Tagen lebensbejahende Geschichten reihum erzählt. Nachahmungen dieser Form davon sind z.B.
  • CHAUCERs "Canterbury Tales" (1387/1400)
  • Marguerite de NAVARRAs "Heptameron" (1559)
  • und CERVANTES` "Exemplarische Novellen" (1613).
  • Auch in GOETHEs Novellenzyklus unterhält sich eine deutsche Adelsfamilie, die vor der französischen Revolution auf das rechte Rheinufer geflüchtet ist, mit dem Reihum-Erzählen von sechs Geschichten.

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten „Novelle”

Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795)

Veröffentlicht in der von Friedrich Schiller herausgegebenen Zeitschrift "Die Horen" 1795.
Zitiert wird nach Bd. 6 der Hamburger Ausgabe Hrsg. von Erich Trunz, Neubearbeitung 1981


In den "unglücklichen" Jahren 1792/3 flüchtet eine Adelsfamilie vor den französischen Truppen über den Rhein in rechtsrheinisches Gebiet und wartet dort auf den Ausgang der >Campagne in Frankreich< und der >Belagerung von Mainz<. In der Gesellschaft befinden sich die verwitwete Baroness von C., ihre bereits erwachsenen Kinder Friedrich und Luise, der Vetter Karl, ein alter Geistlicher (kath.), ein Hauslehrer und einige Bedienstete.

Da Vetter Karl ein jugendlicher Anhänger der französischen Revolutionsideale ist, kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen, vor allem mit einem befreundeten und zu Besuch weilenden Geheimen Rat, bis der Galgen und die Guillotine, je nach politischer Richtung, angedroht werden (133). Der Geheime Rat reist entrüstet ab, die Baronesse ist bestürzt und Karl entschuldigt sich zerknirscht. - Die Baronesse, die Seele der Gesellschaft, zieht hieraus Konsequenzen und fordert zu einer besseren und rücksichtsvolleren Geselligkeit auf: Wo ist nur die "gesellige Bildung" geblieben, da man noch bemüht war, alles Verletzende im geselligen Zusammensein zu vermeiden? Deshalb wünscht sie sich "belehrende und aufmunternde Gespräche", Erzählungen, Reiseberichte und "zierliche Gedichte". - Darauf einigt man sich und der alte Geistliche, ein Sammler von Geschichten, bietet einiges aus seinem Schatze an, aber nicht zu beliebiger Zeit, sondern als "leichte Nachspeise" für eine "von manchem Gutem schon gesättigte" Gesellschaft. Als sich dann am Abend - allerdings ohne der Baroness` Anwesenheit - unter den jungen Leuten ein Gespräch über Wunderglauben entwickelt, erzählt er die

→ "wahre" Geschichte von der Sängerin Antonelli in Neapel, welche vom Geist ihres abgewiesenen Liebhabers eineinhalb Jahre auf unerklärliche Weise verfolgt wird.

Dadurch angeregt erzählt Friedrich von einem → Poltergeist, und spät nachts, gegen halb zwölf, gibt es plötzlich einen Knall im Zimmer und eine Schreibtischplatte ist zerrissen. Bedienstete melden, dass in der Nähe ein Feuer ausgebrochen sei, wahrscheinlich auf dem benachbarten Gute der Tante. Dort steht übrigens der gleiche Schreibtisch vom gleichen Meister zur selben Zeit angefertigt ("unleugbare Sympathie"), und Fritz nimmt sich vor, folgenden Tags hinzureiten.

Abschließend erzählt Karl eine seltsame Geschichte aus den → Memoiren des Marschall von Bassompierre.

Warum sind solche Geschichten interessant? Nicht weil sie gut geformt oder gut erzählt wären, sondern weil sie WAHR sind!


Am Morgen danach legt die Baronesse dar, welche Art von Geschichten sie nicht liebt, nämlich eben diese "rhapsodischen Rätsel", welche zwar die Neugier wecken, den Geist aber nicht befriedigen. Sondern:

"Geben sie uns zum Anfang eine Geschichte von wenig Personen und Begebenheiten, die gut erfunden und gedacht ist, wahr, natürlich, und nicht gemein, soviel Handlung als unentbehrlich und soviel Gesinnung als nötig, die nicht still steht, sich nicht auf einem Flecke zu langsam bewegt, sich aber auch nicht übereilt, in der die Menschen erscheinen, wie man sie gern mag, nicht vollkommen, aber gut, nicht außerordentlich, aber interessant und liebens- würdig. Ihre Geschichte sei unterhaltend, so lange wir sie hören, befriedigend, wenn sie zu Ende ist, und hinterlasse uns einen stillen Reiz, weiter nachzudenken." (S.167)

Der Geistliche nimmt die Herausforderung an und erzählt die

→ Geschichte von einem reichen, geschäftstüchtigen italienischen Kapitän, welcher in seinem 50. Jahr eine junge Frau heiratet, dann aber aus innerer Unrast wieder auf eine längere Reise in See sticht. Vorher aber warnt er seine junge Schöne vor >unwürdigen< Liebhabern, wohl wissend dass sie früher oder später ihren natürlichen Neigungen nicht werde widerstehen können. Tatsächlich wird die junge Frau sehr umworben, doch erst als ein junger Rechtsgelehrter, der Prokurator, als rechtschaffener Mann von sich reden macht, wird sie schwach und bittet um seine Gunst. Der Herr ist hocherfreut, doch leider bindet ihn ein Gelübde, noch zwei weitere Monate streng zu fasten. Wenn sie ihm aber einen Monat davon abnehmen könne, dann sei er schneller damit fertig und der gemeinsamen Glückseligkeit stünde nichts mehr im Wege. Sie willigt ein, aber in den nächsten Wochen ändert sie unter seiner Anleitung ihre Lebensweise so vollständig durch Fasten und Gutes tun, dass sie am Ende dieser >Entsagungskur< mit ihrem "guten und mächtigen Ich" bekannt wird und willig zu entsagen bereit ist.

Die Baronesse dankt für diese "moralische Erzählung"(186) und wünscht sich eine "Parallelgeschichte", die zur Beleuchtung des diskutierten Moralischen beiträgt (Exkurs zu Immanuel Kant: Das Gute entsteht nur, wo die Pflicht sich gegen die Neigung durchsetzt! oder Schiller: Eine >schöne Seele< vermag das Gute aus natürlicher Neigung zu schaffen. K.D.). Luise wünscht sich ein "Familiengemälde", welches nicht im fernen Italien spielt.

So erzählt der Geistliche die → Geschichte von FERDINAND, der zwischen der Freigiebigkeit seines Vaters und der haushälterischen Sparsamkeit seiner Mutter aufwächst. Mit 18 Jahren wirbt er erfolgreich um die schöne Ottilie, die bei ihrer Tante wohnt, Leider aber fehlt ihm das nötige Geld, da sein Vater ihn sehr knapp hält. Schließlich entwendet er aus des väterlichen Schublade mehrfach Geld, um seine Liebe zu beschenken und vor ihrer Abreise versprechen sie sich ewige Treue.

Nun aber schlägt Ferdinand immer stärker das Gewissen und er beginnt zu sparen, um das Geld zurückerstatten zu können. Eine erfolgreiche Geschäftsreise hilft ihm dabei, doch zu Hause hat man den Diebstahl entdeckt und die heimlichen Nachforschungen der Mutter führten auf die richtige Spur. Ohne des Vaters Wissen stellt sie ihren Sohn zur Rede, dieser gesteht zwar reuig, doch sei glaubt ihm nicht, dass er zwar Geld genommen, nicht aber das vermisste Gold gestohlen hat. Auf dem Höhepunkt seines Elends aber findet sich das Gold wieder und alles fügt sich zum Besten - fast alles!

Denn Ottilie kehrt zwar in die Stadt zurück, allein sie weigert sich, mit Ferdinand in jene Gegend zu ziehen, in welcher er eine Handelsniederlassung gründen will. Auch ist da ein Vetter, der mit ihr vertraulichen Umgang pflegt. Aber Ferdinand gelingt es, schweren Herzens, aber vernünftigerweise, seiner Ottilie zu "entsagen" und gründet andernorts einen glücklichen Hausstand, wo er seinen Kindern auf "sonderbare Art der Erziehung"(207/8) das Entsagen beibringt.

Friedrich kehrt zurück und berichtet, dass bei der Tante der Schreibtisch just zu dem Zeitpunkt verbrannt sei, als der eigene zerbarst.

Nun "ließ man der Einbildungskraft .. vollkommen freien Lauf" und Karl bittet den Geistlichen um ein Märchen. Am Abend erzählt dieser dann auch "DAS MÄRCHEN", in welchem die "Einbildungskraft ... die wunderlichsten Bahnen" einschlägt:

"Sie macht keine Pläne, nimmt sich keinen Weg vor, sondern sie wird von ihren eigenen Flügeln getragen und geführt, und indem sie sich hin und her schwingt, bezeichnet sie die wunderlichsten Bahnen, die sich in ihrer Richtung stets verändern und wenden. Lassen Sie auf meinem gewöhnlichen Spaziergange erst die sonderbaren Bilder wieder in meiner Seele lebendig werden, die mich in frühern Jahren oft unterhielten. Diesen Abend verspreche ich Ihnen ein Märchen, durch das Sie an nichts und an alles erinnert werden sollen."
(Quelle: Projekt Gutenberg)


Das Märchen

(cc) Klaus Dautel

Impressum · Datenschutz