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Erarbeitung von Essay-Stilistik an ausgewählten Textbeispielen Da die Texte großer Essayisten sich m.E. selten für effektiven Unterrichtseinsatz eignen, entweder weil sie zu altsprachlich sind oder zu lang oder zu unzeitgemäß, schlage ich zwei Vorgehensweisen vor: |
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Hinweise zu Vorgehensweise 1:
Zur Anregung sind hier die ersten Absätze zitiert:-
"Ich habe nie recht verstanden, wozu Nationen da sind. Jene Leute, die am liebsten von ihnen sprechen, haben mir’s am allerwenigsten erklären können, ja, sie haben es nicht einmal versucht. Ich meine die enragierten Nationalisten und ihre Widersacher, die enragierten Anti-Nationalisten.
Seit ungefähr dreißig Jahren höre ich die einen wie die anderen sagen, daß ich ein Deutscher bin. Ich verstehe ihre Emphase nicht recht, denn was sie mir versichern, das bezweifle ich gar nicht, ich will es gerne glauben, es ist mir seit geraumer Zeit durchaus geläufig. Dennoch werden die Leute es nicht müde, jene bescheidene Tatsache immer wieder vorzubringen. Ich sehe es ihren Gesichtern an, daß sie das Gefühl haben, als hätten sie damit etwas bewiesen, als hätten sie mich aufgeklärt über meine eigene Natur und als wäre es nun an mir, mich entsprechend, nämlich als Deutscher, zu verhalten.
Aber wie? Soll ich stolz sein? Soll ich mich genieren? Soll ich die Verantwortung übernehmen, und wenn ja, wofür? Soll ich mich verteidigen, und wenn ja, wogegen? Ich weiß es nicht [...]".
Und der Schluss:
"Ein Deutscher zu sein, das scheint mir kein schwierigeres oder leichteres Los als irgendein anderes. Es ist keine Kondition à part, sondern eine Herkunft unter vielen. Ich sehe keinen Anlaß, sie zu beklagen oder zu verleugnen, und keinen, etwas Hervorragendes in ihr zu sehen. Es liegt im Begriff jeder Herkunft, daß man sich nie ganz von ihr trennt; aber ebenso liegt es in ihrem Begriff, daß man sich jeden Tag von ihr entfernt. Meine Mitmenschen, die den Umstand, daß ich ein Deutscher bin, wichtiger nehmen, als ich es tue, will ich nicht unnütz vor den Kopf stoßen. Daß ich ein Deutscher bin, diesen Umstand werde ich akzeptieren, wo es möglich, und ignorieren, wo es nötig ist."
"Bin ich ein Deutscher?" (Hans Magnus Enzensberger, Die ZEIT 5.Juni 1964) Auffälligkeiten und Besonderheiten a) im Hinblick auf die Haltung des Sprechers b) im Hinblick auf die Argumentation, c) im Hinblick auf die sprachlichen Mittel Ergebnisse: zu a) Der Titel enthält eine irritierende Frage. Wie soll eine Antwort darauf lauten? Der Einstieg stellt eine provokativ zugespitzte Aussage dar und enthält ein persönliches Statement. Der Autor spricht von sich selbst, viele Sätze beginnen mit ich. Es wird eine Ratlosigkeit behauptet, die nicht ganz glaubwürdig erscheint. Der Autor stellt sich und seine Meinung demonstrativ den "Leuten" gegenüber. zu b) Nationalität sei eine von vielen "Rollenerwartungen" Dadurch Abwertung einer für viele "Leute" sehr bedeutsamen Idee. Diese Idee habe ihre Zeit und ihren Nutzen gehabt ("steinzeitliche Urhorde"), sei aber nun "obsolet" geworden. Sogar zu einer gefährlichen Fiktion. Gerade für jemanden, der "aus Deutschland kommt"(!), müsste das am augenfälligsten sein. Dennoch lebe sie als "Phantom" und Illusion weiter, die Behaglichkeit ausstrahle wie ein Möbelstück "von der Stange". zu c) Der Text ist gekennzeichnet durch die deutliche Ich-Perspektive, die sich in vielen Ich-Sätzen darstellt. Es werden Unbestimmtheitsformeln verwendet, die den Sprecher weniger angreifbar machen: "Ich weiß es nicht.", "Ich erkläre mir das so...", "das scheint mir ...", "Wenn ich den Geschichtsbüchern trauen darf ...". Frageketten ("Soll ich ...") erwecken den Eindruck von ernsthafter Selbstbefragung, dienen aber der Abgrenzung vom "Gegenüber". Überraschende Vergleiche wirken befremdlich oder humorvoll, jedenfalls abwertend. Der besonders durch die Fremdwörter anspruchsvolle Wortschatz setzt eine intellektuelle, in der Sache sympathisierende Leserschaft voraus bzw. möchte diese ansprechen. Der Schluss ist pointiert formuliert, nimmt Rückbezug auf den Anfang und bleibt in der Sache weiterhin offen. |
Zusatz:
Die provokative Zuspitzung als Mittel der Leserbeeinflussung ist keineswegs eine moderne journalistische Strategie. Der Essay von Michel de Montaigne mit dem Titel "Über die Kindererziehung" fängt zum Beispiel so an.
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"Man schreit uns unaufhörlich in die Ohren, als ob man etwas in einen Trichter schüttete; und wir haben nichts weiter zu tun, als nachzusprechen, was man uns vorgesprochen hat. Nun wünschte ich, daß unser Lehrer diesen Fehler vermiede und gleich von Anfang an [...] begönne, sie [die Zöglinge] auf die Probe zu stellen, sie den Geschmack der Dinge kosten und sie selbst auswählen und unterscheiden zu lassen [...]. Ich will nicht, daß er dem Zögling alles vorhält und nur selber redet; ich will, daß er ihm zuhört, wenn er seinerseits redet."
Und wenige Absätze später:
"Es ist kein Wunder, wenn diejenigen, die es nach heutiger Gewohnheit unternehmen, in derselben Unterrichtsstunde und nach einem Plan mehrere kindliche Geister zu unterrichten, die doch nach Umfang und Bildung so verschieden sind, in dieser ganzen Kinderschar kaum zwei oder drei finden, die irgendeinen Nutzen aus diesem Unterricht ziehen."
Zit. nach Matthias Greffrath: Montaigne - Ein Panorama. Eichborn 1993 S. 281/2
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Hinweise zu Vorgehensweise 2:
- siehe Downloads in der "Materialkiste".
Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht ganz themengerecht sein sollte.