Adalbert Stifter 1805 - 1868

Brigitta - Novelle (1844/1847)

Steppenwanderung
Der Ich-Erzähler, zur Zeit der Handlung ein junger Mann, der sich unstet auf langen Reisen befindet, lernt in Italien einen Mann in den besten Jahren kennen, der nicht nur klug und sehr ansehnlich ist, sondern auch eine gewinnende Art besitzt, die insbesondere auf Frauen stark wirkt. Keine Frau jedoch findet wirkliche Nähe zu ihm. Die beiden Männer verbringen viel Zeit miteinander und verstehen sich derart gut, dass der ältere den jüngeren einen Tages brieflich einlädt, ihn auf seinem Anwesen in der ungarischen Steppe zu besuchen und dort so lange zu wohnen, wie es ihm beliebt. Dort nämlich habe er ein Glück und die Ruhe gefunden, die ihn nun nicht mehr durch die Welt treibe.
Der Ich-Erzähler macht sich tatsächlich auf die Reise und durchwandert zuerst das ihm so fremde und exotische Steppenland, bevor er sich endgültig zum Anwesen seines Gastgebers begibt. Hierbei begegnet er einer Frau zu Pferde, die ihm bei der Suche des Anwesens Uwar behilflich ist. Dieses erreicht er in der Nacht.

Steppenhaus
Erst am folgendenTag kehrt der Hausherr von einer Geschäftsreise zurück und heißt ihn herzlich willkommen. Die alte Vertrautheit stellt sich schnell wieder ein und in den nächsten Tagen und Wochen führt ihn der Major‘, wie er nur geheißen wird, durch sein weitreichendes Anwesen. Dabei erweist sich dieses als ein sehr gut geordnetes und erfolgreich bewirtschaftetes Anwesen, in welchem ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Herr und Knecht besteht und unter der Anleitung des kundigen Majors immer neue fruchtbare landwirtschaftliche Projekte unternommen werden. Es ist eine Sozialutopie, die hier von den Augen des Lesers ausgebreitet wird: Das Gut ist seinerseits wieder Teil eines Bundes von unternehmungslustigen Gutsherren, die regelmäßig Versammlungen abhalten und respektvoll miteinander umgehen. Wie sich herausstellt, ist auch die Dame zu Pferd ein Teil dieses Bundes und hat an dessen Zustandekommen einen großen Anteil.

Steppenvergangenheit
Anlässlich eines Besuches bei dieser Dame, Brigitta Maroscheli, wird nun deren Geschichte erzählt. Wie sie als eher hässliches Kind von ihren Eltern vernachlässigt und darüber zur Einzelgängerin geworden ist, wie dennoch ein wohlhabender junger Mann sich für sie interessiert hat und sie schließlich sogar heiratete, wie die Ehe zunächst glücklich verlief und ein Sohn Gustaf geboren wurde, wie schließlich die jugne Familie auf das Landgut des Ehemannes zog und sich dieser dort als untreu erwies, so dass Brigitta die Scheidung herbeiführte. Wie schließlich die Mutter mit dem Sohne zurückblieb und der Ehemann in die weite Welt verschwand. Daraufhin ließ sich Brigitta auf dem Gut Marosheli nieder, wo sie nicht nur auf ihrem eigenen Anwesen die öde Steppe in fruchtbares Acker- udn Weideland umwandelte, sondern auch diesen demokratischen Bund der Großbauern in die Wege leitete.
Der Major stellt sich dem Erzähler als ein großer Verehrer dieser Frau dar, beide haben jedoch eine Vereinbarung getroffen, ihre Beziehung als reine Freundschaft in gegenseitigem Respekt zu gestalten.

Steppengegenwart
Anlässlich eines plötzlichen Ereignisses tritt eine Wendung in der Beziehung der beiden ein. Gustav, der Sohn Brigittas, wird im Winter von einem Rudel hungriger Wölfe angefallen und schwer verletzt. Der Major vermag ihn zu retten und in sein Haus zu bringen. Rasch wird auch die Mutter geholt, welche sorge- und liebevoll ihren Sohn pflegt. In dieser Krisensituation brechen die beiden ihre Übereinkunft und geben sich als das zu erkennen, was sie schon immer waren, nämlich Mann und Frau. Sie fallen sich in die Arme, jetzt erst hat der Major die Liebe seiner Frau verdient, und die bisherigen Jahre in der Steppe nebeneinander, die Jahre der respektvoll distanzierten Freundschaft sind zu Ende.

Dem Erzähler eröffnet sich jetzt die wahre Geschichte der beiden: Der Major ist der untreue Ehemann, der sich nach langen Jahren unsteten In-der-Welt-Herumreisens endlich in der Nähe seiner immer noch geliebten Frau niederließ, und in edler Büßerschaft akzeptierte, mit ihr lediglich in Freundschaft verkehren zu dürfen. Auch der Sohn Gustav erfuhr dabei nichts von der Vaterschaft des Majors, zu dem er aber all die Jahre eine enge Beziehung gepflegt hatte. Nun hat die Familie wieder zusammengefunden, es hat zusammengefunden, was für einander bestimmt ist.

Kommentar:

Dies ist eine rührende, auch rührselige Geschichte, in der die Vision einer tätigen erfinderischen Lebensgemeinschaft (in der 'Wüste') verknüpft wird mit dem Idealbild einer disziplinierten, respektvollen Beziehung zwischen Mann und Frau. Das Verbindungsglied stellt die Hauptfigure Brigitta dar, eine durch frühes Leid und innere Stärke emanzipierte Frau - durchaus im modernen Sinne von autonom, selbstbestimmt. Sie begegnet dem Leser und dem Erzähler in der Novelle auch zuallererst als stolze Reiterin in der Steppe, die rätselhaft bleibt, aber dem Wanderer zu seinem Ziel verhilft. Am Ende der Novelle ist sie die liebende, verzeihende Gattin und Mutter.

Die Gattungsbezeichnung Novelle könnte sich durch die Konzentration auf die beiden Personen erklären, aber auch aus der unerhörten Begegebenheit, die die beiden Verlorenen wieder zusammengeführt hat. Allerdings ist die Struktur dieser "Novelle‘ ausgesprochen eigenwillig: Die Ereignisse mit und um die Hauptperson nehmen nur die Hälfte des Raumes ein, den die Erzählung insgesamt einnimmt. Erst in der zweiten Hälfte der Geschichte gewinnt Brigitta an Gestalt und erst in dem letzten Kapitel entfaltet sich eine dramatische Handlung.

In der zweiten Fassung, der veröffentlichten 'Studienfassung', ließ Stifter die Bezeichnung 'Novelle' weg.

(cc) Klaus Dautel

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