Linguistik für die Oberstufe Eine Unterrichtseinheit

Schritt 6: Ein Exkurs zum Projekt "Leichte Sprache"

Zur Einführung:
Am 3. November 2014 erschien in der FAZ ein Artikel, in dem sich Morten Friedel über den Trend zur vereinfachten Sprache, gemeint ist vor allem: vereinfachte Syntax, folgendermaßen äußert.

Häppchenweise

"Dem Siegeszug des einfachen Hauptsatzes (Parataxe) lässt sich derzeit wenig bis nichts entgegensetzen. Wohin der Leser auch blickt: Überall stehen knappe Sätze. [...]

Für die kalorienarme Häppchen-Mitteilung gibt es ein entsprechend simples Rezept: keine Adjektive, keine Substantive, keine Passivkonstruktionen, starke Verben und eben - kurze Sätze. Führen wir das an einem Beispielsatz aus Thomas Manns Roman "Buddenbrooks" vor, gewissermaßen dem natürlichen Feind jedes einfachen Satzes. Da steht gleich auf Seite eins: "Die Konsulin Buddenbrook, neben ihrer Schwiegermutter auf dem geradlinigen, weiß lackierten und mit einem goldenen Löwenkopf verzierten Sofa, dessen Polster hellgelb überzogen waren, warf einen Blick auf ihren Gatten, der in einem Armsessel bei ihr saß, und kam ihrer kleinen Tochter zu Hilfe, die der Großvater am Fenster auf den Knien hielt."

Das geht besser. Zum Beispiel so: "Die Konsulin Buddenbrook hockte neben ihrer Schwiegermutter. Auf einem Sofa. Sie starrte ihren Mann an. Dann half sie ihrer Tochter." Dabei zerreißt einen die Spannung förmlich. Der Leser fragt sich: Warum starrt die Konsulin ihren Mann an? Was wird der armen Tochter bloß angetan? Und: Was hat es mit diesem Sofa auf sich? Aus einem Roman wird ein Thriller. Aus achthundert Seiten Geschwafel werden dreihundert Seiten Verdichtung. Das ist gut. Beziehungsweise: Das kann man gut finden.

Wir bekennen uns eher zur Komplexität der Welt - und des Satzbaus. [...]"

Der vollständige Artikel - inklusive Foto von Thomas Mann - ist HIER nachzulesen.

Worauf der Autor vermutlich Bezug nimmt (vgl. Absatz 2), ist das Projekt "Leichte Sprache".
Leichte Sprache hat bereits vielerorts Einzug gehalten, nicht jedoch um Thomas Manns Syntax zu entzaubern (oder zu entzerren), sondern um bestimmten sozialen Gruppen einen direkteren Zugang zu relevanten gesellschaftlichen Bereichen und damit auch mehr gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.

Ein Blick auf die Webseite des Deutschen Bundestages lässt erkennen, worum es geht:

Quelle: www.bundestag.de/leichte_sprache/

Auch die Bundeskanzlerin präsentiert sich und ihre Aufgaben in Leichter Sprache, z.B. so:

Quelle: http://www.bundeskanzlerin.de/Webs/BKin/DE/Startseite/LeichteSprache/leichteSprache_node.html

Interessant ist die Begründung für Leichte Sprache:

Eine Diskussion wert sind die Regeln. Hier die wesentlichen:

Regeln für Leichte Sprache

Kurze Sätze
Bilden Sie kurze Sätze. Ein Satz sollte möglichst nicht mehr als 15 Wörter enthalten. Teilen Sie lange Sätze auf.

  • Beispiel: Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen verhindert die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung. Es garantiert die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Leben in der Gesellschaft. Es sichert Menschen mit Behinderung eine selbstbestimmte Lebensführung zu.
  • Nicht: Das deutsche Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen soll eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen beseitigen bzw. verhindern sowie die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen.

Einfache Sätze
Bilden Sie nur Hauptsätze. Hauptsätze sind kurze Sätze ohne Nebensätze.

    Beispiel: Dieter wurde in Karlsruhe geboren. Heute lebt er in Mainz.
    Nicht: Dieter, der in Karlsruhe geboren wurde, lebt heute in Mainz.

Alltagssprache
Alltagssprache ist für jedermann leicht verständlich. Die Begriffe der Alltagssprache verwenden viele Menschen. Ein anderes Wort für Alltagssprache ist Umgangssprache.

    Beispiel: Wir kaufen hier die Dinge für den täglichen Gebrauch.
    Nicht: Wir kaufen hier Gebrauchsgegenstände.

Gleiche Wörter
Verwenden Sie immer das gleiche Wort für eine Sache.

    Beispiel: Dieter hatte eine Idee. Diese Idee war hervorragend.
    Nicht: Dieter hatte einen Einfall. Seine Idee war hervorragend.

Fremdwörter und Fachbegriffe vermeiden
Falls Sie doch ein Fach- oder Fremdwort verwenden müssen, dann erklären Sie dieses kurz.

    Beispiel: Dieter zog sein Portemonnaie hervor. Portemonnaie ist ein Fremdwort aus dem Französischen.
    Ein Portemonnaie ist ein Geldbeutel.
    Nicht: Dieter zog sein Portemonnaie hervor.

Konjunktiv vermeiden
Konjunktiv ist ein Fremdwort. Der Konjunktiv ist eine sprachliche Form. Diese drückt eine Möglichkeit aus.

    Beispiel: Es kann heute noch regnen.
    Nicht: Es könnte heute noch regnen.

Passiv vermeiden
Bilden Sie Sätze lieber im Aktiv als im Passiv. Aktiv-Sätze benennen eine handelnde Person.

    Beispiel: In 3 Wochen wählen wir.
    Nicht: In 3 Wochen wird gewählt.

Positive Formulierungen
Verwenden Sie möglichst positive Formulierungen anstelle von Verneinungen.

    Beispiel: Bleib auf dem Gehweg.
    Nicht: Lauf nicht auf die Straße.

Verben verwenden
Vermeiden Sie Substantivierungen. Substantivierung bedeutet aus einem Tätigkeitswort oder einem Eigenschaftswort ein Hauptwort zu machen. Verwenden Sie stattdessen das Tätigkeitswort.

    Beispiel: In 3 Wochen wählen wir den Stadtrat.
    Nicht: In 3 Wochen ist die Wahl des Stadtrats.

Zahlen 1 bis 12 als Ziffern
Verwenden Sie auch bei den Zahlen 1 bis 12 Ziffern.

    Beispiel: In 3 Wochen wählen wir den Stadtrat.
    Nicht: In drei Wochen wählen wir den Stadtrat.

Prozentzahlen vermeiden
Falls Sie doch Prozentangaben verwenden müssen, umschreiben Sie diese.

    Beispiel: Jeder 3. Bürger beteiligte sich.
    Nicht: Die Wahlbeteiligung lag bei 33%.

Trennen von langen Wörtern
Zusammengesetzte Hauptwörter sind oft lang. Teilen Sie diese mit Trennungsstrichen. Das sieht übersichtlicher aus.

    Beispiel: Gleichstellungs-Gesetz
    Nicht: Gleichstellungsgesetz

Quelle: Landesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten für behinderte Menschen Baden-Württemberg e.V. (LAG:WfbM)
Ausführlicher dargestellt in einem PDF im Netzwerk Leichte Sprache (leichtesprache.org)
In überschaubarer Kürze und ohne Beispiele: Meine Zusammenfassung
Die Lebenshilfe Bremen stellt die Fußball-Regeln in Leichter Sprache als PDF zur Verfügung.

Arbeitsaufträge:
  1. Erkundigen Sie sich über die wesentlichen Regeln auf der Web-Seite des Netzwerks Leichte Sprache.
  2. Lesen Sie dazu Beispiele auf diesen Seiten: www.bundestag.de/leichte_sprache/.
  3. Diskutieren Sie Gründe, die für Leichte Sprache auch für Muttersprachler sprechen könnten. Anhaltspunkte finden Sie in der Broschüre des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und auf der Webseite von www.klarunddeutlich.de.
  4. Und jetzt kritisch: Was geht (konkret) durch welche Regel verloren? Was könnte insgesamt als problematisch angesehen werden? Ziehen Sie hierzu auch den Zeitungartikel "Häppchenweise" aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) vom 3. November 2014 heran.
  5. Übersetzen Sie in Leichte Sprache unter Verwendung der Regeln:
    Die Universität lädt herzlich zu dem Vortrag "Leichte Sprache - Einfache Sprache - oder: Die Kraft der leichten Sprache" ein. 
    Menschen mit Behinderung, Menschen mit Lernschwierigkeiten, aber auch viele andere finden offizielle Schreiben und andere Texte anstrengend bis unverständlich. 
    Diese Barrieren gilt es abzubauen oder zumindest Alternativen anzubieten. Eine verständliche Sprache mit kurzen Sätzen und wenig Fremdwörtern oder Fachausdrücken ermöglicht es einer großen Gruppe der Bevölkerung, aus Schriftverkehr und Gedrucktem Informationen zu entnehmen.

    Vergleichen Sie Ihre Lösung mit dem Vorschlag auf www.klarunddeutlich.de.

       

(cc) Klaus Dautel, 2015

Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht ganz themengerecht sein sollte.
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