1795 - 1802

Der Hauslehrer Hölderlin

Hölderlin war nicht einfach nur Dichter, er hatte auch einen BERUF, nämlich Lehrer. So arbeitete er ein Jahr im Hause des Majors von Kalb im Thüringischen, fast drei Jahre bei der Bankiersfamilie Gontard in Frankfurt, drei Monate bei dem Kaufherrn Anton von Gonzenbach in der Schweiz und noch einmal drei Monate bei dem Konsul Meyer in Bordeaux.

Schon gleich nach Beendigung seines Studiums suchte Hölderlin eine "gute Hofmeisterstelle".
Zuerst einmal wollte er auf keinen Fall Pfarrer werden. Um sich der Zwangsverpflichtung durch die Landeskirchenleitung zu entziehen, musste er eine >auswärtige< Stelle nachweisen können, das bedeutete >im Ausland<, also außerhalb Schwabens, was zur Folge hatte, dass Hölderlin erstaunlich weit herumkam. Besonders vor Weihnachten wurde die Lage für einen nicht-angestellten Theologen in Württemberg brenzlig!

"Weil ich nun nicht gerade in einer öffentlichen Beschäfftigung begriffen bin, so muß ich erwarten, mit nächstem, besonders, da die Weihnachtsfeiertage heranrüken, zu einem Pfarrer geschickt zu werden, um ihn zu unterstützen, wenn ich nicht indeß oder doch unmittelbar nach diesem Termin irgend ein ander legitimes Verhältniß eingehe." (Nov.1795 StA 6,1 S.183)

Als glühender Verehrer von Kant und Schiller konnte es für Hölderlin keine höhere Aufgabe geben, als den Menschen zum glücklichen Gebrauch seiner Vernunft und seiner Sinne zu erziehen. Der Mutter schreibt er: "Das Lehramt ist ... überhaupt, so viel ich sehe, bei den jetzigen Zeiten wirksamer als das Predigtamt." (30.1.97 StA 6,1 S.233)

Und schließlich: Hölderlin war vaterlos und intellektuell heimatlos! Kein einträgliches Geschäft oder Gut wartete auf ihn. Sein privilegiertes Studium und seine höhere Bildung hatten ihn zudem seiner Herkunft entfremdet und keiner der traditionellen gesellschaftlichen Schichten konnte er sich zurechnen. Er war ein freischwebender Intellektueller.

Die Alternative, vor der Hölderlin nun stand war entweder die Erziehungsanstalt (heute >Schule< genannt) oder die Privaterziehung. Er wählte letzteres! "Schulmeistern könnt' ich unmöglich, und 40 Knaben nach reinen Grundsätzen und mit anhaltendem belebendem Eifer zu erziehen, ist wahrhaft eine Riesenarbeit, besonders wo häusliche Erziehung und anderweitige Anstalten so sehr entgegenwirken." (20.11.1796 StA 6,1 S.225)

Seit dem Ende der aufgeklärten Politik Friedrichs des Großen hatten viele politisch progressive Pädagogen und Publizisten ihren Glauben revidiert, dass sich innerhalb des aufgeklärt-absolutistischen Staates Bildungsreformen durchführen ließen. Sie betonten demgegenüber den Wert staatlich unbevormundeter Privaterziehung. So glaubt auch Hölderlin: "dass in unserer jetzigen Welt die Privaterziehung noch beinahe das einzige Asyl (sei), wohin man sich flüchten könnte mit seinen Wünschen und Bemühungen für die Bildung des Menschen." (2.9.95 StA 6,1 S.177)


"Erziehung" von Chodowiecki,
aus Ludwig Fertig: Die Hofmeister, Metzler 1979 S.59
Die Tätigkeit des >Hauslehrers< oder >Informators< war ans Haus gebunden und zielte vornehmlich auf Wissenserwerb und Bildung des Intellekts. Der Hauslehrer teilte sich die Erziehungsarbeit mit der Herrin des Hauses und gehörte somit in den häuslich-weiblichen Herrschaftsbereich. Für die Welt >da draußen<, die Geschäftswelt, hatten Informatoren aufgrund ihrer Herkunft und Ausbildung ohnehin wenig Sinn. Dagegen verband sie mit der Hausherrin die Neigung zur Muße, zu Musik und Literatur. Vor den darin lauern den Gefahren warnte ein 1796 veröffentlichtes Handbuch für Privaterzieher:

"dass der Hauslehrer vorzüglich viel Delicatesse im Umgang mit der Hausfrau nöthig hat, liegt in der Natur der Sache. Mit jedem zu sehr annähernden Schritt, jedem Suchen des Geheimnisses von ihrer Seite, wird der weise Mann einen Schritt zurücktreten. Er wird sogar je eher je lieber das Haus verlassen, worin die Ruhe - vielleicht endlich gar die Tugend - zweyer Personen in Gefahr kommt. ... Die Flucht allein macht hier den braven Mann." (A.H. Niemeyer, Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts für Eltern, Hauslehrer und Erzieher< Halle 1796 S.313)


Im selben Jahr trat Hölderlin seinen Dienst im Hause Gontard an: Der Leitspruch des Frankfurter Bankiers Gontard lautete >Les affaires avant tout<, zuerst die Geschäfte!
"...den Börsenkurs verstehe ich aufs Haar, aber wie die Kinder geleitet werden sollen oder was sie lernen müssen, das ist nicht meine Sache; dafür muß die Mutter sorgen." (StA 7,2 S.65)

Diese Mutter, Susette Gontard, war belesen, empfindsam und an Fragen moderner Pädagogik interessiert. Bei weitgehender Abwesenheit vom Hausherrn bildeten Susette Gontard, ihr Sohn, dessen Hauslehrer. die drei Töchter und deren Gouvernante eine enge pädagogisch-musische Einheit, in der gebildet geplaudert, angeregt musiziert und tüchtig gelernt wurde. Es war Hölderlins beste Zeit, so inspirierend, dass er nicht nur ein guter Hauslehrer und ein fleißiger Poet war, sondern auch leider den obigen Ratschlag vergaß: "Die Flucht allein macht hier den braven Mann!"


Chodowiecki,
aus Ludwig Fertig: Die Hofmeister, Metzler 1979 S.90
Das großes Vorbild für die junge Intelligenz hieß damals Jean Jaques Rousseau: Er vertrat den revolutionären Gedanken, dass Kinder ein Natur-Recht auf ihre Kindheit besäßen. Bisher galt das Kind als ein unterentwickelter Erwachsener, der möglichst schnell aus diesem defizitären Zustand herausgeholt werden musste - dies mit Strenge. Dagegen hält Rousseau: Die Natur will, "dass Kinder Kinder seien, ehe sie erwachsen werden. Wenn wir diese Ordnung umkehren wollen, so werden wir ... junge Doktoren und alte Kinder haben." (Nouvelle Heloise, 5.Teil, Dritter Brief)

Erst stärkt sich der Körper, dann übt sich der Geist. Deshalb soll der Erzieher die Regungen der Natur im Kinde nicht stören und ihm jeden Zwang ersparen. Aber er muss zugleich ein wachsames Auge für die im unschuldigen Spiele sich äußernden Talente besitzen, um diese sanft zu fördern. So wird das Kind nicht bloß >erzogen<, sondern >zum Menschen gebildet<. Friedrich Hölderlin dachte nicht anders, musste aber rasch feststellen, dass sich seine Zöglinge keineswegs mehr im Stand der natürlichen Unschuld befanden. Immer schon waren sie Gegenstand (und Opfer) pädagogischer Bemühungen gewesen! Hölderlin merkt rasch, dass dem Meister nicht in allem gefolgt werden kann:

"Aber darinn hat Rousseau Unrecht, dass er es ruhig abwarten will, bis die Menschheit im Kinde erwacht, und indeß sich gröstentheils mit einer negativen Erziehung begnügt, nur die bösen Eindrücke abhält, ohne auf gute zu sinnen." (Brief an Ebel v. 2.9.95, StA 6,1 S.194)

Eine positive Erziehung dagegen halte nicht bloß die schlechte Wirklichkeit vom Kind ab, versuche vielmehr, dem Kind Begegnungen mit einer besseren Welt zu ermöglichen. Der Erzieher hat die Aufgabe, aktiv eine pädagogische Situation herzustellen, welche dem Kind zu positiven Erfahrungen verhilft.

"Mit dieser andern bessern Welt muß ich das Kind umgeben, sie ihm nicht aufdringen (...) wie die Natur ihm entgegenkömt, muß ich ihm die Gegenstände zuführen, die groß und schön genug sind, sein höheres Bedürfnis, das Streben nach etwas Besserem oder wenn man so will seine Vernunft in ihm zu erweken." (a.a.O.)

Hölderlin entwickelt daraus seine positive Didaktik: Die Geschichte z.B. könne dem Kind Einblicke in "bessere Zeiten" gewähren, wenn der Stoff dem kindlichen Gemüt angemessen ausgewählt und dargestellt wird. "Ich würde aber das Kind nie fragen, ob es das Gesagte behalten hätte, denn es wäre ja nicht um die Geschichte, sondern um ihre Wirkungen aufs Herz zu tun, und sobald das Kind die Geschichte als ein Mittel zur Gedächtnis- oder auch Verstandesübung betrachten müßte, so würde die beabsichtigte Wirkung wegfallen." (a.a.o.)

Oder beim Sprachenlernen: Hier stellt er die ungezwungene Sprechübung vor die grammatikalische Systematik. "Das Kind eine Sprache systematisch zu lehren, möchte sehr schwer halten, wenn es geschehen sollte, noch ehe das Kind fähig ist, auf einen freigewählten Zweck hin sich anzustrengen, wo also Zwang und ungerechte Forderungen nicht leicht zu vermeiden wären. Doch kann man sich ja gesprächsweise mit einer Sprache so ziemlich familialisieren."(a.a.O.)

Hölderlin hatte eine Abneigung gegen verfrühte Systematik und äußeren Zwang, stellte die Bildung der Persönlichkeit über das reine Fachwissen - und er schien Erfolg zu haben! Von seinem ersten Schüler berichtet er: "Mein lieber Zögling hängt an mir, wie an einem Vater oder Bruder." (An die Großmutter, Feb.'94, StA 6,1 S.107)

Auch Charlotte von Kalb, selbst Rousseau-Anhängerin, ist begeistert: "Er sucht das Nachdenken seines Zöglings in wachsamer Tätigkeit zu erhalten, und sicher wird er alles aus seinem Unterricht entfernen was totes Eitles oder Wortwissen bedeutet."(An Karoline Herder im Juni '94, StA 7,1 S.7).

Aus dem Hause Gontard wird über Hölderlin so berichtet: "Er gefiel allen und erfüllte selbst die gespanntesten Anforderungen. Sein Äußeres war höchst einnehmend ... Auch die Kinder des Hauses, obgleich noch sehr jung, hingen bald mit großer Liebe an ihm." (Carl Jügel StA 7,2 S.65)

Eine der Töchter erinnert sich: "Wie oft lag er mit uns auf der Erde und lehrte uns spielend mancherlei." (Maria Belli Gontard. Lebens-Erinnerungen 1873)

Und nach Hölderlins Hinauswurf schreibt der kleine Henry Gontard: "Komm' bald wieder bei uns, mein Holder; bei wem sollen wir denn sonst lernen". (27.9.1798 StA 7,1 S. 59)

Dennoch ist Hölderlin kein zufriedener Hauslehrer geworden! Gleich seine erste Stelle endete auf eine Weise, die er als Scheitern empfand. Der anfänglich hoffnungsvolle Fritz von Kalb stellte sich als Problemfall heraus, an dem der Dorfpfarrer ebenso wie der vorige Hauslehrer verzweifelt waren. Die >Verstocktheit< des Knabens wurde auf ein >Laster< zurückgeführt, das der Hauslehrer durch unablässige Ablenkung, stetige Überwachung und "gerechte Strenge" verhindern musste: Die Selbst- befriedigung! Nach der damaligen Medizin führte dies zu Epilepsie, Stumpfsinn oder Rückenmarksschwindsucht. Kein Wunder, dass Hölderlin, der seine Aufgabe ernst nahm, sich dabei körperlich und seelisch verausgabte.

"..ich wagte meine Gesundheit durch fortgesetztes Nachtwachen, denn das machte sein Übel nötig, (...) und ich fing auch an, auf eine gefährliche Art an meinem Kopfe zu leiden, durch das öftere Wachen, wohl auch durch den Verdruß."(An Neuffer 19.1.1795 StA 6,1 S.150)


Auch wenn Frau von Kalb ihn zuerst nicht gehen lassen wollte, Hölderlin musste sich aus einer Situation retten, die nach damaligen Maßstäben pädagogisch aussichtslos war, ihn zugrunde zu richten drohte und es ihm unmöglich machte, sich um seinen eigenen Bildungsgang zu kümmern. In Frankfurt ging es ihm da besser, denn er wurde nicht nur gut bezahlt, sondern fand auch noch ausreichend Zeit zum Dichten. Hier ist es aber etwas ganz anderes, was ihn gehörig verdrießt: Der kapitalistische Geist der Metropole und das Repräsentationsbedürfnis des Großbürgertums.

"..dieses ganze Jahr haben wir fast beständig Besuche, Feste und Gott weiß! was alles gehabt, wo dann freilich meine Wenigkeit immer am schlimmsten wegkommt, weil der Hofmeister besonders in Frankfurt überall das fünfte Rad am Wagen ist, und doch der Schicklichkeit wegen muß dabei seyn." (An die Mutter Anfang 1798, StA 6,1 S.259)

Die eitle Umtriebigkeit der "Gesellschaftsmenschen" widersprach Hölderlins kleinstädtisch-schwäbischer Herkunft ebenso, wie sie seiner empfindsamen Seele fremd war. An die Schwester in Nürtingen schreibt er:

"Dein Glük ist ächt; Du lebst in einer Sphäre, wo nicht viele Reichen, und nicht viele Edelleute überhaupt nicht viel Aristokraten sind: und nur in der Gesellschaft, wo die goldene Mittelmäßigkeit zu Hause ist, ist noch Glück und Friede und Herz und reiner Sinn zu finden (...). Hier z.B. siehst Du, wenig ächte Menschen ausgenommen, lauter ungeheure Karikaturen." (An die Schwester, April '98 StA 6,1 S.270)

Die dem Hauslehrer-Dasein innewohnende Ambivalenz - sozial niederer Status einerseits und hoher Bildungsstand andererseits - schmerzte Hölderlin tief.

"Aber der unhöfliche Stolz, die geflissentliche tägliche Herabwürdigung aller Wissenschaft und aller Bildung, die Äußerungen, dass die Hofmeister auch Bedienten wären, dass sie nichts besonders für sich fordern könnten, weil man sie für das bezahle, was sie thäten, (...) - das kränkte mich, so sehr ich suchte, mich darüber weg zu setzen, doch immer mehr und gab mir manchmal einen stillen Ärger, der für Leib und Seele niemals gut ist." (An die Mutter 10.10.1798 StA 6,1 S.283)

In der Frankfurter Finanzwelt war Bildung zur Ware geworden, als solche hatte sie zwar einen Preis, aber keine Würde. Folglich war auch der Vermittler dieser Ware käuflich und austauschbar. Der Skandal im Hause Gontard und die Trennung von Susette hat Hölderlin gewiss seelisch sehr belastet, aber für seine Entfremdung vom Lehrerberuf dürfte dies nicht ausschlaggebend gewesen sein. Vielmehr kam er mit dem Umstand nicht zurecht, dass er als >Erzieher< sich in eine abhängige Existenz fügen musste, als Dichter aber der materiellen und geistigen Unabhängigkeit bedurfte. Nach seinem dritten Hauslehrer-Versuch zieht er eine nüchterne Bilanz:

"Die Thätigkeit des Erziehers (...) erschien mir nur darum als erstrebenswerth, weil das tägliche Leben mit den Kindern, die meiner Obhuth anvertraut waren, es möglich machte, ihre geistige Entwicklung von innen her zu befördern und (...) in ihnen das Bewußtsein zu erwecken, dass sie eines Tages auf dem Wege der Bildung allein fortschreiten müssen. Aber die wechselnden Verhältnisse, in denen sich das Leben eines Hofmeisters abspilt, waren weder meiner Natur noch meinem Lebensplan adäquat, und so war es immer mein Bestreben, danach eine Zeit der Independenz folgen zu lassen..." (Bief an Niethammer 23.6.1801 StA 7,2 S.579)

Es ging ihm gewiss um die Kinder, in denen er die noch unentfremdet ganzheitliche Natur des Menschen zu sehen glaubte; es ging ihm aber auch um die Bewahrung seiner eigenen Ganzheit. Diesen Widerspruch zwischen Beruf und Berufung vermochte er praktisch nicht >aufzuheben<. Er wollte sich im Lehrer-Beruf nicht erschöpfen, konnte als Dichter nicht überleben und besaß für seine Pläne als Herausgeber von literarischen Zeitschriften wohl nicht das nötige Durchsetzungsvermögen. Schiller vermutete zurecht, dass Hölderlins "idealischer Hang" es ihm nicht vergönnte, sich in die Welt zu schicken. Und er fügte hinzu:

"... wenn gleich ein mächtiges und glückliches Naturell über alles siegt, so däucht mir doch, dass manches brave Talent auf diese Art verloren geht." (Schiller an Goethe 17.8.1797 StA 7,2 S.197)

Dieser Aufsatz wurde verfasst und präsentiert
anlässlich eines Hölderlin-Abends am Hölderlin-Gymnasium Nürtingen.


Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.
Dautels ZUM-Materialien: Google-Fuss

Impressum - Datenschutz