Stimmen des Westens

Werner Welzig, Der Deutsche Roman im 20. Jahrhundert (1970)

Im Zentrum von Wolfs ... Erzählung stehen die angehende Lehrerin Rita Seidel und der am Ende seiner Hochschulausbildung angelangte Chemiker Manfred Herrfurth. Die aus dem Rükktlick in chronologischer Abfolge bis zu dem Zielpunkt des Jahres 1961 berichtete Geschichte der Liebe, die zwischen diesen beiden wächst, mündet in die Geschichte Deutschlands. Manfred Herrfurth geht nach Westberlin, da er dort bessere Arbeitsbedingungen findet. Rita Seidel folgt ihm zwar, doch nur für einen kurzen Besuch. Sie verzichtet auf den Mann, den sie liebt, und kehrt in den Staat zurück, in dem sie aufgewachsen ist und dem sie sich zugehörig fühlt. "Der geteilte Himmel" ist die Geschichte einer Liebe, die sich nicht erfüllt, die sich nach Auffassung der Autorin nicht erfüllen kann, da die Geschicke des Staates die Liebenden vor Fragen stellen, die sie auf Grund ihres Charakters und ihres Werdeganges unterschiiedlich beantworten müssen. Christa Wolf bindet ihre Figuren mit voller Deutlichkelt an die gesellschaftlichte Umgebung, der sie entstammen. Schon der Romaneingang Symbol der fordernden Macht der Umwelt: Geballter Rauch aus hundert Fabrikschornsteinen legt sich schwer auf die Menschen, und das nach Chemie stinkende Wasser schmeckt ihnen bitter.
Trotz der kräftigen politischen und ideologischen Akente, die vor allem Prolog und Epilog setzen, welche die 3o Kapitel des Romans umnschließen, trotz der nachdrücklichen Bindung der Figureren an ihre Umgebung, trotz des von idyllischer Isoliertheit zu sozialer Verantwortlichkeit führenden Handlungsschemas und trotz der kräftigen Ironie gegenüber dem Westen und der eigenen, noch verbliebenen Bourgeoisie ist "Der geteilte Himmel" in erster Linie eine Liebesgeschichte, nicht frei von Sentimentalität.
Quelle: Kröner Stuttgart 1970 S.279


Geschichte der deutschen Literatur - Vom 18. Jh bis zur Gegenwart, hrsg. von Viktor Zmegac (1984):

Christa Wolf

...Aber auch Autoren, die sich dem Bitterfelder Ansatz mit weniger gemischten Gefühlen anschlossen, hatten ihre Schwierigkeiten, die neuen Erlebnisse in der Arbeitswelt mit ihren Literaturvorstellungen in Einklang zu bringen. Vier exemplarische Romane dieser Jahre, Christa Wolfs Der geteilte Himmel (1963), Erik Neutschs Spur der Steine (1964), Strittmatters Ole Bienkopp (1963) und Karl-Heinz Jakobs Beschreibung eines Sommers (1961) ... wurden ... Gegenstand einer breiten, zum Teil heftigen Diskussion in der DDR-Öffentlichkeit und gehören noch heute zu den meist gelesenen und diskutierten Werken der DDR-Literatur.
In "Der geteilte Himmel" versucht Christa Wolf (geb. 1929), Arbeitserfahrungen ihrer Protagonisten Rita Seidel während eines Betriebspraktikums im Waggonwerk mit einer übergreifenden Liebesgeschichte zu verbinden, die in deutlicher Anlehnung an Seghers' Roman die Entscheidung Ritas für die schwierige DDR-Wirklichkeit und gegen den individualistischen Defätismus begründen soll, der ihren Geliebten Manfred schließlich zur Republikflucht treibt. So überzeugend Wolf die Darstellung der Probleme und Schwierigkeiten am Arbeitsplatz und der Auseinandersetzung zwischen den »guten Kommunisten« Meternagel, Wendland und Schwarzenbach und den Bürokraten und Intriganten gelungen ist, die Liebesgeschichte mit dem elegant verzweifelten Chemiedoktoranden Manfred, die westliche Leser so stark beschäftigt hat, wirkt dagegen blaß und konstruiert, wie ein leicht veredelter Lore-Roman, und kann das symbolische Gerüst, das Wolf darauf errichtet, kaum tragen. Die Nüchternheit der Gespräche mit den »Vatergestalten« Meternagel und Wendland läßt sich nur schwer mit den Lyrismen der Liebeshandlung und erst recht mit der übersteigerten Sputnik-Symbolik des Schlusses auf einen Nenner bringen; am Ende fällt es dem Leser schwer, Ritas Ankunft in der DDR-Wirklichkeit für bare Münze zu nehmen. Die Entscheidung im Roman betrifft eben weniger die Alternative Osten/ Westen als die Schwierigkeiten einer Studentin, sich von ihren romantisierenden Vorstellungen von Liebe und individuellem Glück zu befreien, als sie zum erstenmal mit der anderen Wirklichkeit der Arbeitswelt konfrontiert wird. Es ist bezeichnend, daß Manfred innerhalb der Fabel völlig isoliert wirkt, er stellt keine Position in der DDR-Gesellschaft dar, die überwunden werden soll, sondern den Außenseiter, dessen Integration nicht gelingt. Folglich muß er aus der Handlung »herausgeschossen« werden: Manfred ist im Grunde nur eine Projektion von Ritas eigener Schwierigkeit, sich in der Wirklichkeit zurechtzufinden, und die Scheinlösung seiner Republikflucht kann nicht befriedigen; am Ende bleibt Rita trotz allen neuen Einsichten immer noch die feinfühlige Außenseiterin, die sie am Anfang war. Sie findet in der realen Gesellschaft keinen Ersatz für Manfred, keinen Partner für ihre individuellen Träume der Selbstverwirklichung; stattdessen hat sie Vatersätze gefunden, die ihr ihre Kenntnisse der rauhen Umwelt schonend vermitteln.
Die weitere Entwicklung der Autorin sollte deutlich genug demonstrieren, daß es sich bei Rita nur um eine Scheinintegration handelt. In Nachdenken über Christa T. wie in den darauffolgenden Werken geht es vor allem um das Erlebnis der Ausgeschlossenheit, des Nicht-Dazu-Gehörens, das in der westlichen Rezeption vordergründig als demokratische Kritik an dem SED-Staat aufgefaßt wird.
Quelle: Digitale Bibliothek Bd. 24 1999


Walter Killy: Literaturlexikon - Autoren und Werke deutscher Sprache (1993)

Wolf, Christa, geb. Ihlenfeld, * 18. 3. 1929 Landsberg/Warthe (heute: Gorzów Wielkopolski/Polen).

... Nach ersten, heute vergessenen Anfängen mit der Moskauer Novelle (Halle 1961) entwickelte W. ihre Leitmotive. Seit dem Roman "Der geteilte Himmel" (ebd. 1963, Bln. 1964. Film 1964; Regie: Konrad Wolf) stellt sie die Utopie der personalen Ganzheit den Sinnverlusten in der Realität gegenüber, begreift sie den Kampf alter Verhältnisse mit den Zielen u. Wünschen einer in die Zukunft blickenden Gesellschaft als existentiellen Konflikt, sinnt sie der Verbindlichkeit moralischer Maßstäbe im individuellen Dasein nach. W.s Werk kann man als eine vielfach variierte Selbsterforschung ansehen, wobei zunehmend zivilisationskrit. Züge u. emanzipator. Gesichtspunkte zum Vorschein kommen. Ihre Frage nach dem Individualitätsrecht des einzelnen ist gegen einen absolut gesetzten Kollektivismus gerichtet, doch ist sie auch als Suche nach der Abweichung in der Gesellschaft verallgemeinerbar. W. ist mit ihrem in beiden dt. Staaten viel beachteten Werk zur repräsentativen Schriftstellerin des geteilten Deutschland geworden. Mit einer Liebesgeschichte erzählt W. im Roman "Der geteilte Himmel" von aktuellen Problemen am Vorabend des Mauerbaus. Der Himmel, »dieses ganze Gewölbe von Hoffnung und Sehnsucht, von Liebe und Trauer«, teilt sich schließlich endgültig. Der Chemiker Manfred Herrfurth u. seine Verlobte Rita Seidel, eine Pädagogikstudentin, trennen sich: Vergeblich versucht Rita, Manfred zur Rückkehr zu bewegen; er ist aufgrund von Schwierigkeiten mit den Planungsbehörden nach West-Berlin gegangen. Ritas Rückweg bewirkt einen krisenhaften seel. Prozeß, der ihr jedoch die Eingliederung in die DDR wieder ermöglicht. Die kunstvolle Technik der übergangslosen Rückblenden u. der Schichtung von Zeitebenen hebt dieses Buch weit über die Erzeugnisse der »Ankunftsliteratur« hinaus, löste jedoch auch heftige Kontroversen aus.
Quelle: Digitale Bibliothek Bd. 9 Directmedia Berlin 1998

Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht ganz themengerecht sein sollte.
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