Georg Büchner  LENZ

Oberlins Tagebuch - Büchners Erzählung

Warum ist Büchners Text "große Literatur" und Oberlins nicht?
Oberlins Tagebuch (1778)

Oberlins Perspektive ist die des distanzierten

  • Berichterstatters: Schilderung äußerer Umstände (Namen, Orte, Begleiterscheinungen)
  • Beobachters: Teilnahme, Ratlosigkeit, Argwohn, Betroffenheit
  • Beurteilers: moralisierende Erklärungsversuche,
    für ihn ist Wahnsinn die Folge von moralischer Schuld:
    von Sünde (S. 43),
    von Ausschweifungen,
    von Ungehorsam gegen den Vater (51)

Die Person Lenz bleibt Fremdkörper in Oberlins Welt
Lenz ist ihm - bei allem Mitfühlen und Mitleiden - lediglich ein Beispiel und ein Opfer des allgemeinen Sittenverfalls (51).
Büchners Erzählung (1835)

Perspektive des Erzählers:

  • keine moralisierende Haltung
    stattdessen einfühlende Innenschau
    verstehend statt erklärend
    beschreibend statt beurteilend
  • Straffe Komposition: Konzentration auf zwei Personen (Lenz-Oberlin)
    Verknappung der Dialoge
  • Thematische Bereicherung:
    Naturbeschreibung und -erleben
    ästhetische Reflexion
    religiöser Halt und Glaubenszweifel
Büchners Erzählung ist ein für den Leser "offener Text". Er enthält die Aufforderung zum "Mitempfinden" von "Leid und Freude" des Menschen.
Die Erzählung "Lenz" ist der Versuch, das in dem Kunstgespräch dargelegte Programm zu realisieren:
"Man versuche es einmal und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel ...."
Zwei Textstellen: Vom Anfang ...
Ich kannte ihn nicht. Im ersten Blick sah ich ihn, den Haaren und hängenden Locken nach für einen Schreinergesellen an; seine freimüthige Manier aber zeigte bald, daß mich die Haare betrogen hatten. - "Seyn Sie mir willkommen, ob Sie mir schon unbekannt." - "Ich bin ein Freund von K...'s und bringe ein Compliment von ihm." - "Der Name, wenn's beliebt?" - "Lenz." - "Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt?" (Ich erinnerte mich einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben wurden). Er antwortete: " Ja, aber belieben Sie mich nicht darnach zu beurtheilen."
Wir waren vergnügt unter einander; er zeichnete uns verschiedene Kleidungen der Russen und Liefländer vor; wir sprachen von ihrer Lebensart, u.s.w. Wir logierten ihn in das Besuchszimmer im Schulhause."
Man saß am Tische, er hinein; die blonden Locken hingen ihm um das bleiche Gesicht, es zuckte ihm in den Augen und um den Mund, seine Kleider waren zerrissen. Oberlin hieß ihn willkommen, er hielt ihn für einen Handwerker. "Seyn Sie mir willkommen, obschon Sie mir unbekannt." - Ich bin ein Freund von und bringe Ihnen Grüße von ihm. "Der Name, wenn's beliebt"... Lenz. "Ha, ha, ha, ist er nicht gedruckt? Habe ich nicht einige Dramen gelesen, die einem Herrn dieses Namens zugeschrieben werden?" Ja, aber belieben Sie mich nicht darnach zu beurtheilen. Man sprach weiter, er suchte nach Worten und erzählte rasch, aber auf der Folter; nach und nach wurde er ruhig, das heimliche Zimmer und die stillen Gesichter, die aus dem Schatten hervortraten, das helle Kindergesicht, auf dem alles Licht zu ruhen schien und das neugierig, vertraulich aufschaute, bis zur Mutter, die hinten im Schatten engelgleich stille saß. Er fing an zu erzählen, von seiner Heimath; er zeichnete allerhand Trachten, man drängte sich theilnehmend um ihn, er war gleich zu Haus, sein blasses Kindergesicht, das jetzt lächelte, sein lebendiges Erzählen; er wurde ruhig, es war ihm als träten alte Gestalten, vergessene Gesichter wieder aus dem Dunkeln, alte Lieder wachten auf, er war weg, weit weg.
... und vom Ende
Denn fürchterlich und höllisch war es, was er ausstund, und es durchbohrte und zerschnitt mir das Herz, wenn ich an seiner Seite die folgen der Principien, die so manche heutige Modebücher einflößen, die Folgen seines Ungehorsames gegen seinen Vater, seiner herumschweifenden Lebensart, seiner unzweckmäßigen Beschäftigungen, seines häufigen Umganges mit Frauenzimmern, durchempfinden mußte. Es war mir schrecklich und ich empfand eigene, nie empfundene Marter, wenn er, auf den Knien liegend, seine Hand in meiner, seinen Kopf auf meinem Knie gestützt, sein blasses, mit kaltem Schweiß bedecktes Gesicht in meinen Schlafrock verhüllt, am ganzen Leib bebend und zitternd; wenn er so, nicht beichtete, aber die Ausflüsse seines gemarterten Gewissens und unbefriedigten Sehnsucht nicht zurückhalten konnte. Der Trieb der geistigen Erhaltung jagte ihn auf; er stürzte sich in Oberlins Arme, er klammerte sich an ihn, als wolle er sich in ihm drängen, er war das einzige Wesen, das für ihn lebte und durch den ihm wieder das Leben offenbart wurde. Allmählig brachten ihn Oberlins Worte denn zu sich, er lag auf den Knieen vor Oberlin, seine Hände in den Händen Oberlins, sein mit kaltem Schweiß bedecktes Gesicht auf dessen Schooß, am ganzen Leibe bebend und zitternd. Oberlin empfand unendliches Mitleid, die Familie lag auf den Knieen und betete für den Unglücklichen, die Mägde flohen und hielten ihn für einen Besessenen.
Quelle: Klett Leseheft Georg Bücher "Lenz" mit J.F.Oberlins 'Tagebuch' S.39/51 (Oberlin), S.5/28 (Büchner)


© Klaus Dautel, 2001

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Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz Themen-gerecht sein sollte.
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