Neue Erkenntnisse und Kurskorrektur in meiner Aufgabenstellung

Eigentlich hatte ich gedacht, ich könne die Informationen, die mir im Buch "Der Kälteste Krieg" geliefert wurden, einfach übernehmen und nur meine eigenen Forschungsergebnisse, die auf den nach "der Wende" neu zugänglichen Materialien aufbauen "anflicken". Doch es kamen im Laufe der Zeit bei mir Zweifel auf, ob die Darstellung aus dem "Kältesten Krieg" den tatsächlich stattgefundenen Ereignissen entsprach. Es war wie eine glückliche Fügung. Ich wollte noch einmal eine große Forschungsreise unternehmen und meine Recherchen damit abschließen. Auf dem Programm standen der Kölner Journalist, Karl-Willhelm Fricke, der früher von der Staatssicherheit aus West-Berlin entführt worden war und Professor Frucht vor dessen Tod noch einige Male getroffen hat. Zum Zweiten sollte es noch ein Besuch bei Dr. Peter Rausch in Munster (Örtze) sein. Dieser hatte 1966 Proben des "Kältekampfstoffes" zu Testzwecken in Professor Fruchts Institut gebracht. Für die Kurskorrektur war in meinem Fall allein das Gespräch mit Herrn Dr. Rausch entscheidend, denn es ergab sich eine völlig neue Dimension in der Geschichte!

Mein Gastgeber empfing meinen Vater und mich sehr herzlich und gab uns sofort zu verstehen, daß ich wahrscheinlich am Ende meines Besuches sehr enttäuscht sein würde, denn er könne mir bestimmt nicht das sagen, was ich hören wollte. Daraufhin merkte ich an, daß ich für jeden neuen Aspekt und jeden Widerspruch genauso dankbar sei, wie für eine eventuelle Bestätigung meines bisherigen Forschungsergebnisses. Das Gespräch begann auch gleich mit einem "Hammer". Dr. Rausch sagte mir, es habe die ganze Zeit keinen Kältekampfstoff gegeben und es gebe heute auch noch keinen. Deshalb hielt der Chemiker den Alaska Plan für eine medienwirksame Erfindung der Autoren des Buches "Der kälteste Krieg". Diese Aussage bedeutete natürlich, daß Professor Frucht (wenn man davon ausgeht, daß die gerade bekommene Information der Wahrheit entsprach) irgend etwas anderes verriet, als das, was er zu verraten glaubte. Meine logische erste Gegenfrage war natürlich: "Was hat er denn dann verraten, wenn es kein Kältekampfstoff war?" Die Antwort kam in einer Weise, wie sie mir besonders wertvoll war. Dr. Rausch begann den Hergang des Informationstransfers zwischen ihm und Professor Frucht aus dem Frühjahr 1967 noch einmal ganz genau zu schildern. Professor Frucht fragte damals Dr. Rausch, als dieser ihm die Flaschen mit dem angeblichen Kältekampfstoff ins Institut gebracht hatte: "Aufschreiben kann man das (er meinte damit die Formel des Stoffes) wohl nicht?" Die Antwort lautete: "Doch, doch - das stand in einer Sondernummer der Zeitschrift für Militärmedizin der DDR und ist kein Geheimnis." Frucht warf einen Blick auf die Formel, die der Leutnant ihm auf einen Zettel skizziert hatte. "Das ist aber keine große Erfindung", sagte der Professor, denn es existierten scheinbar Zweifel. Als Erklärung hörte er, es sei nur eine geringe Modifikation einer bereits bekannten Formel, die die militärische Effektivität extrem steigere. In dieser Weise schilderte mir Dr. Rausch die Situation in der Professor Frucht an die Information gelangt war, die er später an die Amerikaner weitergab. Dr Rausch erklärte mir, daß es sich bei der weitergegebenen Information um die Formel des Stoffes handelte, den die DDR-Militärspezialisten bisher für den damals neuen amerikanischen Kampfstoff VX gehalten hatten.

Professor Frucht muß die Substanzen, die er von Dr. Rausch erhalten hatte, und die inzwischen schon in seinem Bücherschrank in einer Glasflasche stand, für den geheimen Kältekampfstoff gehalten haben, von dem ihm einige "hohe Militärs" (Anm.14) erzählt hatten.

Ich stellte mir also die Frage, was sich denn an dem ganzen Szenario alles geändert hätte, wenn es zur damaligen Zeit wirklich keinen Kältekampfstoff gegeben hätte. Meine Feststellung war erschütternd, denn ich merkte, daß sie den gesamten Wahrheitsanspruch der bisherigen Kenntnisse zunichte machte, denn ohne Kältekampfstoff konnte es auch keinen Alaska-Plan (Ausschaltung der amerikanischen Radarbasen in Alaska mit Hilfe kälteresistenter Kampfstoffe) geben - und für die Weitergabe des Alaska-Planes an die Amerikaner ist Professor Frucht ja schließlich der Spionage bezichtigt worden. Sollte Dr. Rausch in dieser Frage also mit seiner Behauptung Recht haben, mußte das bedeuten, daß sich entweder Professor Frucht getäuscht hatte und das, was General Gestewitz erwähnte, nur falsch verstanden hatte oder aber er mußte von dem General, gezielt falsch informiert worden sein! Eine solche Behauptung konnte ich allerdings zunächst unmöglich veröffentlichen, weil sie die Basis für Professor Fruchts Spionage aus Protest zerschlug, ohne einen neuen Weg aufzuzeigen, wie sich die Dinge ereignet haben könnten. Also stellte ich mir die Frage nach der Existenz einer kälteresistenten C-Waffe, die im Moment den Kern meiner Argumentation darstellte und ich setzte zunächst alles daran, herauszufinden, ob ich jetzt tatsächlich im Besitz der richtigen Formel war, die Professor Frucht als Kältekampfstoffformel an die Amerikaner verraten hatte, bevor ich begann zu ermitteln, welche Eigenschaften dieser Stoff eigentlich hatte. Doch woher sollte ich erfahren, was der Wissenschaftler damals wirklich verraten hatte. Ich hatte drei Lösungen für mein Problem:

Die erste waren die StaSi-Akten, in denen ja die Formel wahrscheinlich vermerkt sein mußte, wenn man sieht, wie präzise das MfS Frucht auf Schritt und Tritt überwacht hatte. Ich kam jedoch nicht an die StaSi-Akten heran, da meine Anfrage bei der Gauck-Behörde auf Einsichtnahme in die Akten direkt abgelehnt wurde. - Es wäre zudem wohl auch ein recht hoffnungsloses Unterfangen in einem Berg von Akten eine einzige Formel zu finden, die laut Maria Frucht in den Akten sowieso nicht zu finden gewesen wäre, weil sich dort kein Wort über einen Kältekampfstoff und die mit ihm zusammenhängende Geschichte finden ließ, was wohl zum Zweck des Schutzes der DDR passiert sein muß.

Eine zweite Informationsquelle wären die Akten der CIA in Amerika, doch stellte es sich für mich als Schüler mit begrenzter Zeit als unmöglich heraus, irgendwie an diese, immer noch unter Verschluß gehaltenen Akten, heranzukommen. Obwohl ich versuchte, per Internet Kontakt zu einer Person herzustellen, die für Fruchts damaligen Verteidiger, Wolfgang Vogel CIA-Akten besorgt hatte, bekam ich auf meine Anfrage gar keine Antwort. Gwynne Roberts (einer der Autoren von "Der Kälteste Krieg") hatte mir schon gesagt, es sei zwecklos in Amerika nach Informationen zu suchen, es sei sogar gefährlich, da das Thema "Chemische Waffen" dort noch immer sehr brisant und mit Vorsicht zu genießen sei.

Mr. Roberts ist übrigens die dritte Quelle, von der ich die Formel erfahren könnte, denn ich gehe nach dem, was in einer Fußnote seines Buches steht, davon aus, daß Professor Frucht ihm bei der Erstellung des Buches die richtige Formel zur Verfügung gestellt hatte. Mr. Roberts sagt, er könne sich diesbezüglich nicht an Einzelheiten erinnern, und er fand die Formel in seinem Berg von Informationen leider nicht mehr.

Tatsächlich läßt sich die Theorie, der Kampfstoff sei gar nicht neu und schon gar nicht unbekannt, auch aus "Der Kälteste Krieg" zurückverfolgen. Im Anhang des Buches über die "Tammelinschen Ester", einer der giftigsten Verbindungen überhaupt, wird erwähnt, Professor Frucht habe den Kampfstoff für eine Modifizierung von VX gehalten und tatsächlich ist die übermittelte Formel dem amerikanischen Kampfstoff sehr ähnlich. Die Ergebnisse einer Nachforschung über die Formel, die Professor Frucht den Amerikanern als Formel des "Kältegases" weitergegeben hatte, wird durch Spezialisten im "Der Kälteste Krieg" folgendermaßen beurteilt:
In Stockholm erklärte Dr. Tammelin, er habe den Eindruck, daß Fruchts Erklärungen aus "zweiter Hand" stammten und daß es "ziemlich schwierig" sei, ihnen zu folgen. Er sagte, daß die erwähnte Strukturformel unter Spezialisten schon seit etlichen Jahren bekannt sei, erklärte aber, es sei ihm nicht möglich, etwas darüber auszusagen, ob sie schon "an die Öffentlichkeit" gelangt gewesen sei, bevor Frucht die DDR verließ. (Q62)

Heute weiß ich: Die Formel für VX war bereits veröffentlicht worden. Erstens in einer DDR - "Zeitschrift für Militärmedizin" in der Sonderausgabe 1966 durch Dr. Rausch und zweitens konnte ich sie auch im "Lehrbuch für Militärchemie" wiederfinden, das bereits 1967 veröffentlicht worden war. Man nahm in der DDR an, daß dies die Formel einer neuen amerikanischen C-Waffe mit Namen "VX" war. Um die Bestätigung dafür zu erhalten, daß Professor Frucht unter Einsatz seiner Freiheit den Amerikanern offensichtlich 1966 etwas verraten hat, was diese selbst erfunden hatten fragte ich noch zwei voneinander unabhängige Experten für Militärchemie.

1. Dr. S. Kremer ist Leiter des Wehrwissenschaftlichen Instituts für Schutztechnologien und ABC-Schutz bei der Bundeswehr. Er schrieb mir am 06.01.99, daß im Lehrbuch für Miltärchemie (DDR) zu lesen ist, daß VX in den imperialistischen Staaten bereits 1961 produziert wurde, die Formel als "VX" aber erst 1972 veröffentlicht wurde. Daß durch leichte Abwandlungen dieser Formel eine Kältegas entstehen könne hält er für abwegig und er fährt fort: "Ob es sich bei der Kreation des "Kältegases" um eine bewußte oder aus Unkenntnis folgende Irreführung handelte, läßt sich jedoch nicht ableiten".

2. Der zweite Experte ist Leiter der "Gesellschaft des Bundes zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten mbH". Er schrieb mir am 07.01.99: "Es ist vielleicht für Sie von Interesse, daß die Firma Bayer sich bereits mit deutschem Patent Nr. 3014943 von 1957, sowie dem amerikanischen Patent Nr.3014943 vom 26.12.1961 eine Substanzklasse als Pestizid schützen ließ, die bei geeigneter Substituentenwahl sowohl VX, als auch die von Ihnen erwähnte Verbindung einschließt."... "Der Begriff des Kältekampfstoffes ist mir nicht bekannt. Meines Erachtens bestand auch nie die militärische Notwendigkeit einer speziellen Entwicklung hierzu; die Nervenkampfstoffe Tabun, Sarin und Soman sind mit Schmelzpunkten zwischen -50 und -70 °C bereits sehr niedrig schmelzend".

Mit den obigen Stellungnahmen scheint bewiesen zu sein, daß Professor Frucht nicht, wie er damals annahm, etwas völlig revolutionär Neues an den CIA verriet, sondern tatsächlich eine den Amerikanern bekannte Formel! (Anm.15)

Nun muß man die Frage stellen, warum erhielt Professor Frucht 1966 in der DDR eine den Amerikanern längst bekannte Formel unter dem Deckmantel höchster Geheimhaltung zugespielt? Hat man im Osten damals nicht gewußt, daß dies die Formel von VX war oder was wollte man mit einer solchen Finte bezwecken? Dr. Rausch kann nachweisen, daß dem Militär die Substanz als VX bereits zu der Zeit bekannt war.
Die auf einem Tonband des Gesprächs zwischen Professor Frucht und Dr. Rausch 1992 genannten Fakten legen die Vermutung nahe, daß der Professor damals auf eine Lügengeschichte hereingefallen ist. In diesem Gespräch wollte der Professor all die Ungereimtheiten im Zusammenhang mit seiner Verhaftung nach Öffnung der Mauer noch einmal lückenlos aufklären.

Eine merkwürdige Tatsache ist, daß sich die Amerikaner niemals um eine Freilassung Professor Fruchts bemühten. Dies mutet eigenartig an, wenn man davon ausgeht, daß der Wissenschaftler durch seinen selbstlosen Einsatz dazu beigetragen haben sollte, das militärische Kräftegleichgewicht zwischen Ost und West zu stabilisieren. In vielen anderen, nicht so bedeutenden Fällen hatten die Amerikaner indes immer alles unternommen, um die in der DDR inhaftierten Personen frei zu bekommen. Warum in diesem Fall nicht? - Und wie läßt sich erklären, daß General Gestwitz und die anderen "hohen Militärs", die dem militärisch nicht sicherheitsüberprüften Professor Frucht stückchenweise Informationen zukommen ließen, die er zum "Alaska-Plan" zusammenbaute, nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. - Aus dem gesamten Umfeld des Professors wurde niemand anders verhaftet und General Gestewitz erhielt sogar 1976 den Vaterländischen Verdienstorden in Gold!

Frau Dr. Maria Frucht gibt, wie auch die Autoren, die bisher über die Frucht-Affaire recherchiert haben, auf diese Fragen folgende Antworten:

* Professor Frucht war kein Bürger der USA
* Er war kein offizieller Agent des CIA
Deshalb wurde er von den USA fallengelassen.

General Gestewitz wurde für die Preisgabe geheimer Informationen an Nicht-Befugte nicht bestraft, weil

1. das die Aufmerksamkeit der Amerikaner auf die Informationen von Professor Frucht gelenkt hätte, und sie gespürt hätten, daß an dieser Geschichte etwas Wahres zu finden sei.
2. die DDR dokumentiert hätte, daß sie (trotz des internationalen Verbots) doch über chemische Kampfstoffe verfügte, wenn sie einen Prozeß wegen Preisgabe des Kampfstoff-Geheimnisses angefangen hätte.

Es gibt aber auch noch andere Möglichkeiten, diese Seltsamkeiten zu erklären, denn selbst A.- H. Frucht erwähnte diese Themen in einem Gespräch (von dem mir ein Tonbandmitschnitt vorliegt) vom Dezember 1992, mit den Beteiligten der Aktion von 1967 noch einmal, und erfragte die Standpunkte seiner Gäste, um für diese Widersprüche eine Begründung zu finden. Er ließ sich deshalb von Herrn Dr. Rausch noch einmal ausführlich erklären, was damals aus dessen Sicht vorgefallen war. Der Professor stellte im Verlauf immer wieder Fragen nach Personen und militärischen Zusammenhängen, die der damalige Militärchemiker offensichtlich nicht so beantwortete, wie Professor Frucht es erwartet hatte. Daraufhin sagte er schließlich: "Wir sind auf Informationen der StaSi in Weißensee hereingefallen, der Stoff hätte eine sehr hohe Giftigkeit gehabt". Darauf antwortet Dr. Rausch: "Derjenige, der Ihnen das erzählt hat, hat die Unwahrheit gesagt. Was er damit bezweckt hat, weiß ich nicht!" (Q63) Noch viele weitere Andeutungen Professor Fruchts ließen mich aufhorchen, und so forschte ich weiter, wer und warum man ihm falsche Angaben über den vermeintlichen Kältekampfstoff gemacht haben könnte.

Aus verschiedenen Publikationen, die sich mit dem Wesen der StaSi befaßten, erfuhr ich, daß es offensichtlich zur täglichen Praxis der StaSi gehörte, Personen, die in öffentlichem oder militärischem Interesse standen, auf eine besondere Art und Weise auf deren Loyalität gegenüber der DDR zu testen. Auch Professor Dr. Wolfgang Vogel, A.-H. Fruchts Verteidiger, hatte erst mehrere Fälle, die nur der Überprüfung der Vertrauenswürdigkeit seiner Person dienten, zu absolvieren, bevor er das Vertrauen der Regierung genoß und als "Anwalt zwischen Ost und West" bekannt wurde. (Q64)
Bestätigung hierfür ist auch in einem Artikel von Karl Wilhelm Fricke in einer Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament" zu finden. In diesem Artikel beschreibt der Journalist genau die Strukturen und Aufgabenbereiche der ehemaligen "Hauptverwaltung A im Ministerium für Staatssicherheit" (HV A) Dort nennt er die Aufgaben der Abteilung X, die für "Aktive Maßnahmen, Desinformation und Zersetzung" zuständig war. In dem Artikel zitiert Fricke Markus Wolf, der die Aufgaben der Abteilung X selbst so beschreibt: "Die Hauptaufgabe unserer Abteilung für aktive Maßnahmen bestand darin, die subversiven Aktivitäten der gegnerischen Seite publik zu machen und gleichzeitig durch den gezielten Einsatz von Fakten und Dokumenten, angereichert mit selbstfabriziertem Material, Personen und Institutionen der Bundesrepublik in Mißkredit zu bringen, die der DDR feindlich geworden waren". Die Maßnahmen die zu diesem Zweck ergriffen werden sollten, finden sich in der Richtlinie Nr. 1/76. Hier heißt es: Die Maßnahmen gehen "von der systematischen Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter, nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben ..." bis zur "systematischen Organisation beruflicher und gesellschaftlicher Mißerfolge zur Untergrabung des Selbstvertrauens einzelner Personen." (Q65)

Sollte dies auch mit Professor Frucht geschehen sein?

Im Vorschlag des MfS vom 01. Juni 1967 zur Verurteilung von Professor Frucht, war eine weitere Kuriosität zu finden: Im unteren Teil wurde handschriftlich ein Vermerk gemacht, in dem es (soweit ich das richtig entziffern kann!) heißt: "In der gerichtlichen Hauptverhandlung müßte Frucht zum Tode verurteilt und aus politisch operativem Interesse des General Volpert begnadigt werden. Die Höchststrafe wird mit der Militäroberstaatsanwaltschaft abgesprochen." (Das Dokument finden Sie im Anhang) General Volpert hatte eine besonders wichtige Funktion in der HVA inne. Er war derjenige, der auch Dr. Wolfgang Vogel auf seine Loyalität gegenüber der DDR prüfte, indem er ihm mehrmals fingierte Fälle zuspielte und genauestens mit Hilfe von Doppelagenten überprüfte, ob der Anwalt diese im Sinne der DDR behandelte. (Q66) General Volpert kam übrigens kurz nach der Wende unter mysteriösen Umständen in einer Sauna zu Tode.... (Q67) Die Tatsache, daß Gerenal Volpert in den Fall Frucht involviert ist, ist für mich ein weiteres Indiz dafür, daß man den Professor ganz bewußt mit falschen Informationen "gefüttert" haben muß, um zu sehen, ob er sich der DDR gegenüber loyal verhalten würde.

Nachdem zu Anfang immer noch Meinungsverschiedenheit zwischen mir und den Autoren von "der Kälteste Krieg" über die Einstellung zum Alaska-Plan herrschte, konnte ich Anfang Januar doch in einem Telefonat Clive Freeman überzeugen, daß eine Überprüfung von Professor Frucht durch die HVA ein realistisches Szenario gewesen sein könnte. Ich habe damit bei ihm offenbar einige Steine ins Rollen gebracht, denn er schickte mir am 03.01.99 ein Fax, das Mitschriften eines Interviews mit einem Militärchemiker der ehemaligen NVA enthielt. Dieses Fax rettete mich, denn es lieferte den Beweis, daß ich ganz offensichtlich nicht nur in wirren Theorien nachgegangen war, sondern die Erklärung für manchen Widerspruch gefunden hatte!! (siehe Anhang)

Wie sich alles ereignet haben könnte:

Ich will hier einmal versuchen, die Geschichte in einer mir heute schlüssigen, eigenen Version zu rekapitulieren:

Professor Frucht hatte Anfang der 60er Jahre seine Forschungen mit den Leuchtbakterien zum Nachweis von Giften veröffentlicht. Daraufhin erkannten auch militärisch wichtige Personen, daß die Forschungen des Wissenschaftlers auch hier bedeutsam sein konnten. Man wußte aber, daß Professor Frucht immer "gen Westen schielte", da er alle Neuigkeiten, die von hier kommen konnten, "aufsaugte". Dies war natürlich ideologisch verblendeten Personen nicht geheuer, da sie derartigen Drang, westliche Informationen zu bekommen natürlich immer nur als "imperialistisch verwerflich" betrachteten. Professor Frucht hatte einen guten, fast freundschaftlichen Kontakt zu dem Miltärmediziner General Gestewitz. Beide führten viele Gespräche miteinander. Dabei erkannte auch der General, daß Professor Frucht viele Ideen hatte, die auch militärisch gut zu Einsatz zu bringen seien. Dies erörterte der General wahrscheinlich mit seinen Kollegen und evtl. auch mit seinem Freund, dem Verteidigungsminister Heinz Hoffmann. Man versuchte dann auf höchster Ebene, einen Weg zu finden, wie man überprüfen könne, ob Professor Frucht auch ein zuverlässiger Mitarbeiter sei, wenn er für militärisch hochbrisante Themen forschen würde. Ich könnte mir vorstellen, daß hier das Ministerium für Staatssicherheit mit seiner Abteilung X eine Mischung aus "wahren, überprüfbaren und diskreditierenden sowie unwahren, glaubhaften, nicht widerlegbaren und damit ebenfalls diskreditierenden Angaben" (Q68), zusammenstellte, um den Wissenschaftler erst einmal auf die Probe zu stellen. Es wäre auch möglich, daß man schon zu diesem Zeitpunkt wußte, daß Professor Frucht einen losen Kontakt zum CIA hatte und man wollte evtl. austesten, welchen Weg die Informationen nahmen, die er an den Geheimdienst weitergab. Hier lassen sich verschiedene Vermutungen anstellen, die ich aber wegen der fehlenden Stellungnahmen aus Amerika nur spekulativ äußern kann. Dieses Thema wird im Anhang näher ausgeführt.

Sinn des Protests

Bis Mitte Januar 1999 war ich fast pausenlos damit beschäftigt, für meine Idee, die ich am Ende meines Besuches bei Dr. Rausch am 11.11.98 in Munster gehabt hatte, eine Bestätigung zu finden. Da die Beurteilung, ob das, was Professor Frucht getan hat, eine Form von Protest war und ob dieser sinnvoll war, von dem wahren Verlauf der Tat abhing, mußte ich diese Forschungen anstellen und zur Begründung meines Standpunktes auch an dieser Stelle ausführlich darlegen.

Ich hatte bereits unmittelbar nach meinem Besuch in Munster versucht, in dem Buch, "Der kälteste Krieg" die Beweise für meine Vermutungen zu finden. Deshalb las ich dieses ein zweites Mal und versuchte dort Begründungen für meine These zu finden. Da mir zunächst keine weiteren Beweise zugänglich waren, analysierte ich einige Textstellen, die mir Ungereimtheiten aufzuweisen schienen. Die genaue Textanalyse hier heute abzudrucken, würde nur dazu führen, daß das eigentliche Wettbewerbsthema zu sehr "verwässert" würde. Da der Text aber fertig war, bevor ich stichhaltigere Beweise fand, will ich ihn zur Ergänzung des oben Gesagten wenigstens als Anlage für den interessierten Lesen beifügen.

Dadurch, daß Professor Frucht wohl kurz vor seiner Festnahme gezielt mit falschen Informationen "gefüttert" worden war, ist die Frage nach der Beurteilung, ob sein Protest sinnvoll war oder nicht, heute etwas anders zu bewerten, als ich dies ursprünglich geahnt hatte. Durch den relativierten militärischen Sinn muß man auf die Frage, ob der Protest sinnvoll war, oder nicht, sehr vorsichtig und differenziert antworten. Wenn man die Folgen für die Person des Wissenschaftlers betrachtet, war der Protest sicherlich unsinnig und tragisch. Dieser Meinung war auch Dr. Rausch, als ich mit ihm meine Theorie, daß der Professor offensichtlich nur aufgrund einer Intrige der Stasi verhaftet worden war, erörtert hatte, sagte er: "Das was Professor Frucht tat, war ganz klar Protest, wenn er auch für seine Person besonders tragisch war." Herr Dr. Rausch, der mich durch seine Angaben auf die Idee brachte, daß Professor Frucht eventuell gezielt falsch informiert worden sein könnte, nahm sich auch später immer wieder viel Zeit, um meine Frage, ob der Protest sinnvoll war oder nicht, zu beantworten. Er sagte zunächst, daß das Szenario der Gefährdung des Weltfriedens nur in Professor Fruchts Kopf existiert habe, es sei fiktiv gewesen. Deshalb ist auch aus einer distanzierten Perspektive die auf den jetzigen Kenntnissen aufbaut, der Protest sicherlich nicht als sinnvoll zu bezeichnen, weil hinter der Tat kein real existenter Gefahrenhintergrund stand. Professor Frucht protestierte gegen einen Plan, den es wahrscheinlich überhaupt nicht gab. Insofern war der Protest nach Dr. Rausch's Meinung nicht sinnvoll.
Er sagte mir jedoch auch, daß der Wissenschaftler offensichtlich so sehr davon überzeugt gewesen sei, daß er mutig sein Leben riskierte. Für das Wertgefühl und die innere Einstellung Professor Fruchts zur "Res publica" war seine Tat der einzig richtige Weg. Auch die Form des Protests war richtig gewählt, denn er hat damit sein Ziel erreicht, die Amerikaner zu informieren und zum Handeln zu veranlassen. Wenn man sieht, mit welcher Kraft sich der Wissenschaftler noch bis ins hohe Alter dafür eingesetzt hat, daß Politiker und die Öffentlichkeit über die "Bivalenz der Forschung" (Anm.16) (am Beispiel Professor Habers) und die Gefahr, die von chemischen Kampfstoffen ausgeht, informiert werden, findet man Bestätigung dafür, daß Professor Frucht aus Gewissensgründen Spionage betrieb. Er beabsichtigte mit seinem Verrat nicht, der DDR oder den Sowjets zu schaden, sondern er wollte generell die Gefahr eines militärischen Ungleichgewichtes verhindern. Nach seiner Ausweisung in den Westen kritisierte er öffentlich mehrfach in Reportagen, Interviews und Veröffentlichungen die Sorglosigkeit, mit der Politiker und Juristen über Kampfstoffe reden, ohne zur Beurteilung ihrer Gefährlichkeit auf Wissenschaftler zu hören. (Q69)
Zwei der von mir während meiner Forschungsarbeit befragte Personen (Gwynne Roberts und Dr. Günter Brauch) erklärten mir, daß sie von Professor Fruchts Engagement gegen die menschenfeindliche Aufrüstung mit biologischen und chemischen Waffen so sehr angesteckt wurden, daß sie heute selbst auf diesem Gebiet tätig sind und versuchen, die Bevölkerung und Politiker für die damit verbundenen Gefahren zu sensibilisieren. Auch ich bin inzwischen mit dem "Geist" Adolf Henning Fruchts "infiziert" und versuche, wann immer es geht, vor den Gefahren der Aufrüstung und dem zu sorglosen Umgang mit der Wissenschaft (und deren Bivalenz) zu warnen.
Es ist entscheidend zu sehen, daß es für Professor Frucht damals sinnvoll war, den Protest durchzuführen, auch wenn er die Korrektheit der Informationen, die ihn zum Handeln veranlaßten nicht überprüfen konnte. Deshalb kann man nicht so pauschal sagen, daß der Protest unsinnig war, nur weil er auf einem fiktiven Gefahrenhintergrund basierte. Er steht uns heute aber trotzdem zur Mahnung und zum Vorbild für geradliniges Verhalten und er war in sofern letztendlich doch sinnvoll!

Eigene Beurteilung des Protests

Der Weg, den Professor Frucht wählte, um sein Ziel zu erreichen, nämlich ein Verbrechen der östlichen Welt mit weitreichenden Folgen für den Weltfrieden zu verhindern, war nach meiner Meinung der einzig Richtige. Ein vernünftiger und gescheiter Mensch wie Professor Frucht konnte nicht anders handeln, wenn er solchen herrschaftsgierigen Machenschaften wie dem Alaska-Plan den Erfolg entziehen wollte. Es war ihm schlicht und einfach die Möglichkeit genommen, auf andere Art und Weise etwas dagegen zu tun. Er hätte sich nicht einfach mit einem Megaphon und Spruchbändern in einen belebten Stadtteil Ostberlins stellen, und seine Meinung vertreten können, nein, es mußte ein lautloser aber entschlossener Schritt gegen die Bedrohung und für den Frieden gemacht werden. Nur die Involvierung stärkerer Kräfte (hier westliche Geheimdienste) blieb ihm als Protest: Denn Militärs konnte und kann man nicht mit Worten aufhalten, man kann ihnen nur etwas entgegenstellen, was stärker ist. Dies war es, was Frucht bewegte, als er den Amerikanern die Möglichkeit gab, sich auf einen Gasangriff der befürchteten Kategorie vorzubereiten, und auf den Plan des sowjetischen Militärs zu reagieren.

Obwohl es heute fast sicher zu sein scheint, daß Professor Frucht zumindest in der entscheidenden Phase wohl tragischerweise in eine Falle gegangen ist, steht für mich heute fest, daß der Wissenschaftler damals aus Protest gegen das Machtstreben und aus Sorge um die vor Chemiewaffen ungeschützte Bevölkerung handelte. "Er kannte die Bösartigkeit der chemischen Kampfstoffe seit einiger Zeit (nicht hörbar, nicht riechbar, nicht schmeckbar). Erst an den Auswirkungen, wenn es zu spät war, war der Einsatz von chemischen Waffen erkennbar. Deshalb wollte der Wissenschaftler, daß alle gegnerischen Blöcke alles über chemische Waffen wußten. Nur so konnte man einen Überraschungsangriff auf Wehrlose verhindern" (Q70), sagte er immer wieder, wenn er gefragt wurde, warum er Informationen an den CIA weitergegeben habe.

Bei meinen Recherchen konnte ich immer wieder erkennen, daß der Wissenschaftler sein ganzes Leben lang immer geradlinig und zielstrebig seinen humanistischen Zielen folgte. Von diesen ließ er sich auch nicht durch drohende Gefahren für seine Stellung oder sein Leben abbringen (siehe dazu auch biographische Hintergründe + Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst). Von Dr. Brauch und den Journalisten Freeman und Roberts erfuhr ich, daß Professor Frucht nach seiner Freilassung aus Bautzen alles daran setzte, die Öffentlichkeit für die Gefährlichkeit der Bivalenz von ursprünglich zu friedlichen Zwecken gedachte Forschungen zu sensibilisieren (Bivalenz = Forschungsprodukte, die für friedliche Einsatzgebiete gefunden wurden, z.B. Düngemittel, können auch als chemische Waffen eingesetzt werden). Welchen Grund hätte der Wissenschaftler haben können, wenn ihn nicht durch seine humanistische Einstellung ein innerer Drang zur Aufklärung über diese Gefahren getrieben hätte. Aus allem, was ich in den letzten Monaten erfahren habe, erachte ich Professor Fruchts Protest für so bemerkenswert, daß ich ein Stück deutscher (tragischer) Geschichte anhand seines Schicksals aufgearbeitet habe. Der im nachhinein sichtbar gewordene fehlende Sinn seines Protestes schmälert den Wert von Professor Fruchts Tat in keinster Weise, der Protest bekommt nur eine neue, sehr tragische Dimension, denn 10 verlorene und qualvolle Jahre im Gefängnis unter unzumutbaren Bedingungen, mit Isolationsfolter und Krankheit können durch kein Geld der Welt aufgewogen werden. Allein der (Fehl-)glaube, etwas Gutes bewirkt zu haben, hat ihn über diese ewig erscheinende Zeit gebracht und gerettet. Eine Menge Menschen haben ihm vorgeworfen, er spiegele falsche Tatsachen vor und wolle sich an der ganzen Geschichte bereichern, einfach weil im Nachhinein sein Schicksal zu unglaublich klingt. Professor Frucht bemühte sich Zeit seines Lebens darum, seine Erlebnisse für möglichst viele Menschen zu konservieren, was auch der Auslöser für das Buch "Der kälteste Krieg" war. Das Werk (an dem keiner der Beteiligten finanzielle Erfolge verbuchen konnte) wurde, und das ist die tragische Fortsetzung der Leiden Professor Fruchts, schon bald nach seinem Erscheinen vom Bundesnachrichtendienst aufgekauft, "um den Amerikanern, die in dem Buch sehr schlecht wegkommen, einen Gefallen zu erweisen" (Q71). Daß man damit einen fraglichen Erfolg gelandet hat, liegt auf der Hand. Und deshalb habe ich mich Professor Fruchts Geschichte angenommen, um sie in ihrer ganzen (tragischen) Spannweite zu konservieren, denn ich glaube, daß wir gerade heute, wo die neuere Geschichte immer wieder in den Medien beschönigt wird, Vorbilder wie Professor Frucht brauchen!

<== ==>

Impressum · Datenschutz