Spießer und Literaten Auch eine Literaturgeschichte

    Der Kleinbürger im 20. Jh.

Kleinbürgertum,

Ödön von Horvath

Eine Aufwertung des Spießers zum Protagonisten erfolgt bei Ö.v.Horvath und seinem neuen Volksstück: Kleinbürger sind doch (fast) alle.

Ö.v.Horvath : Gebrauchsanweisung (1932)

Der Lehrer als Kleinbürger

„Jugend ohne Gott” (Roman 1937) - Erstes Kapitel: Die Neger

"Auf meinem Tische stehen Blumen. Lieblich. Ein Geschenk meiner braven Hausfrau, denn heute ist mein Geburtstag.
Aber ich brauche den Tisch und rücke die Blumen beiseite und auch den Brief meiner alten Eltern. Meine Mutter schrieb: »Zu Deinem vierunddreissigsten Geburtstage wünsche ich Dir, mein liebes Kind, das Allerbeste. Gott der Allmächtige gebe Dir Gesundheit, Glück und Zufriedenheit!« Und mein Vater schrieb: »Zu Deinem vierunddreissigsten Geburtstage, mein lieber Sohn, wünsche ich Dir alles Gute. Gott der Allmächtige gebe Dir Glück, Zufriedenheit und Gesundheit!«
Glück kann man immer brauchen, denke ich mir, und gesund bist Du auch, gottlob! Ich klopfe auf Holz. Aber zufrieden? Nein, zufrieden bin ich eigentlich nicht. Doch das ist ja schließlich niemand.
Ich setze mich an den Tisch, entkorke eine rote Tinte, mach mir dabei die Finger tintig und ärgere mich darüber. Man sollt endlich mal eine Tinte erfinden, mit der man sich unmöglich tintig machen kann!
Nein, zufrieden bin ich wahrlich nicht.
Denk nicht so dumm, herrsch ich mich an. Du hast doch eine sichere Stellung mit Pensionsberechtigung und das ist in der heutigen Zeit, wo niemand weiss, ob sich morgen die Erde noch drehen wird, allerhand! Wie viele würden sich sämtliche Finger ablecken, wenn sie an deiner Stelle wären?! Wie gering ist doch der Prozentsatz der Lehramtskandidaten, die wirklich Lehrer werden können! Danke Gott, dass Du zum Lehrkörper eines Städtischen Gymnasiums gehörst und dass Du also ohne wirtschaftliche Sorgen alt und blöd werden darfst! Du kannst doch auch hundert Jahre alt werden, vielleicht wirst Du sogar mal der älteste Einwohner des Vaterlandes! Dann kommst Du an Deinem Geburtstag in die Illustrierte und darunter wird stehen: »Er ist noch bei regem Geiste.« Und das alles mit Pension! Bedenk und versündig Dich nicht!
Ich versündige mich nicht und beginne zu arbeiten.
Sechsundzwanzig blaue Hefte liegen neben mir, sechsundzwanzig Buben, so um das vierzehnte Jahr herum, hatten gestern in der Geographiestunde einen Aufsatz zu schreiben, ich unterrichte nämlich Geschichte und Geographie.
Draussen scheint noch die Sonne, fein muss es sein im Park! Doch Beruf ist Pflicht, ich korrigiere die Hefte und schreibe in mein Büchlein hinein, wer etwas taugt oder nicht.
Das von der Aufsichtsbehörde vorgeschriebene Thema der Aufsätze lautet: »Warum müssen wir Kolonien haben?« Ja, warum? Nun, lasset uns hören!
Der erste Schüler beginnt mit einem B: er heisst Bauer, mit dem Vornamen Franz. In dieser Klasse gibts keinen, der mit A beginnt, dafür haben wir aber gleich fünf mit B. Eine Seltenheit, so viele B's bei insgesamt sechsundzwanzig Schülern! Aber zwei B's sind Zwillinge, daher das Ungewöhnliche. Automatisch überfliege ich die Namensliste in meinem Büchlein und stelle fest, daß B nur von S fast erreicht wird stimmt, vier beginnen mit S, drei mit M, je zwei mit E, G, L und R, je einer mit F, H, N, T, W, Z, während keiner der Buben mit A, C, D, I, O, P, Q, U, V, X, Y beginnt.
Nun, Franz Bauer, warum brauchen wir Kolonien?"
Quelle: Ö.v.Horvath "Jugend ohne Gott", Kapitel 1, dtv 2010 4. Auflage 2014,
der Text folgt der Erstausgabe von 1937


  1. Unterstreiche alles, was dir "kleinbürgerlich" erscheint.
  2. Begründe deine Unterstreichungen.
  3. Wie beurteilst Du die Person des Lehrers?
  4. Möchtest Du den Roman weiterlesen?

Der ewige Spießer (1930)

Ö.v.Horvath im Prolog zum Roman:

Daraus eine Leseempfehlung als Beispiel böser bzw. boshafter Satire: Die Beschreibung eines spanischen Stierkampfs im Kapitel 23.

"Was ist in Spanien das spanischste? Natürlich der Stierkampf, auf spanisch: Corrida de toros - besonders Rigmor konnte ihn kaum mehr erwarten.
Die Stierkampfarena hatte riesige Dimensionen, und sie war noch größer, wenn man bedenkt, daß allein Barcelona drei solch gigantische Arenen besitzt. Trotzdem war alles ausverkauft, es dürften ungefähr zwanzigtausend Menschen dabeigewesen sein, und Schmitz erhielt nur mehr im Schleichhandel drei Karten im Schatten.
Die Spanier sind eine edle Nation und schreiten gern gemessen einher mit ihren nationalen Bauchbinden und angenehmen weißen Schuhen. Sogar auf den Toiletten steht "Ritter" statt "Herren", so stolz sind die Spanier. Fast jeder scheint sein eigener Don Quichotte oder Sancho Pansa zu sein.
Gleich neben dem Hauptportal erblickte Schmitz die Stierkampfmetzgerei, hier wurden die Stierleichen von gestern als Schnitzel verkauft. Ein großes Polizeiaufgebot sorgte für Ruhe und Ordnung.
Drinnen in der Arena musizierte eine starke Kapelle, und der feierliche Einzug der Herren Stierkämpfer begann pünktlich. "Sie werden da etwas prachtvoll Historisches erleben", erinnerte sich Kobler an die Worte des Renaissancemenschen von Verona. Und das war nun auch ein farbenprächtiges Bild. Die Herren Stierkämpfer traten vor das Präsidium in der Ehrenloge und begrüßten es streng zeremoniell.
Und dann kam der Stier, ein kleiner schwarzer andalusischer Stier. Er war schon jetzt wütend, denn in seinem Rücken stak bereits ein Messer, und das war programmgemäß. In der Arena standen jetzt nur drei Herren mit roten Mänteln und ohne Waffen. Geblendet durch die plötzliche Sonne, hielt der Stier einen Augenblick, dann entdeckte er die roten Mäntel und stürzte drauflos, aber graziös wichen die Herren dem plumpen Tier aus. Großer Beifall. Auch Rigmor und Kobler applaudierten - da lauschte der Stier. Es schien, als fasse er es erst jetzt, daß ihm was Böses bevorsteht.
...
Nun geriet aber das Publikum ganz in Ekstase, hundert Strohhüte flogen dem Tod zu. Schmitz war empört. "Das ist ja der reinste Lustmord!" entrüstete er sich. "Diese Spanier begeilen sich ja an dem Todeskampf eines edlen, nützlichen Tieres! Höchste Zeit, daß ich meinen Artikel gegen die Vivisektion schreib! Recht geschieht's uns, daß wir den Weltkrieg gehabt haben, was sind wir doch für Bestien! Na, das ist ja widerlich, da sollt aber der Völkerbund einschreiten!" Aber auf Kobler wirkte der Stierkampf wieder ganz anders. So ein Torero ist ein sehr angesehener Mann und ein rentabler Beruf, dachte er. Es ist ja natürlich eine Schweinerei, aber er wird ja sogar vom König empfangen, und alle Weiber laufen ihm nach! Und auf Rigmor wirkte der Stierkampf wieder anders: Sie hatte eine nervöse Angst, daß einem der Herren Stierkämpfer was zustoßen könnte - sie konnte kaum hinsehen, als wäre sie auch ein armes, verfolgtes Tier, immer öfter sah sie infolgedessen Kobler an, um nicht hinabsehen zu müssen, und kam dabei auf ganz andere Gedanken. "Möchten Sie, daß ich Torero wär?" fragte er. "Nein!" rief sie ängstlich, aber dann lächelte sie plötzlich graziös und schmiegte sich noch mehr an ihn, denn es fiel ihr was Ungehöriges ein."
Quelle: Ö.v.H. Der ewige Spießer. Erbaulicher Roman in drei Teilen. Suhrkamp Frankfurt 1980 S. 89-91
oder Projekt Gutenberg


Hinweis: Ö.v.Horvaths Roman Der ewige Spießer (1930) gibt es bei Radio Bayern 2 als Hörspiel zum Hören und zum Herunterladen.

 

  ♣  

(cc) Klaus Dautel, 2015

Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.
Dautels ZUM-Materialien: Google-Fuss

Impressum - Datenschutz