Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Achtes Kapitel
Keimesgeschichte der Seele.
Monistische Studien über ontogenetische Psychologie.
Entwickelung des Seelenlebens im individuellen Leben der Person.
------
Inhalt: Bedeutung der Ontogenie für die Psychologie.
Entwickelung der Kindes-Seele. Beginn der Existenz der individuellen
Seele. Einschachtelung der Seele. Mytholgie des Seelen-Ursprungs.
Physiologie des Seelen-Ursprungs. Elementare Vorgänge bei der
Befruchtung. Kopulation der weiblichen Eizelle und der
männlichen Samenzelle. Zellenliebe. Vererbung der Seele von
Eltern und Voreltern. Ihre physiologische Natur als Mechanik des
Plasma. Seelenmischung (psychische Amphigonie). Rückschlag,
psychologischer Atavismus. Das biogenetische Grundgesetz in der
Psychologie. Palingenetische Wiederholung und cenogenetische
Abänderung. Embryonale und postembryonale Psychogenie.
Unsere menschliche Seele - gleichviel, wie man ihr Wesen auffaßt -
unterliegt einer stetigen Entwickelung. Diese ontogenetische
Thatsache ist für unsere monistische Psychologie von
fundamentaler Bedeutung, obwohl die meisten "Psychologen vom Fach"
ihr theils nur geringe, theils gar keine Berücksichtigung schenken.
Wie nun die individuelle Entwickelungsgeschichte nach Baer's
Ausdruck - und nach der jetzt allgemein herrschenden Ueberzeugung
der Biologen - der "wahre Lichtträger für alle
Untersuchungen über organische Körper ist", so wird
dieselbe auch über die wichtigsten Geheimnisse ihres Seelenlebens
uns erst das wahre Licht anzünden.
Obgleich nun diese "Keimesgeschichte der Menschen-Seele"
äußerst wichtig und interessant ist, hat sie doch bisher nur in
sehr beschränktem Umfange die verdiente Berücksichtigung
gefunden. Es waren bisher fast ausschließlich die
Pädagogen, welche sich mit einem Theile derselben
beschäftigen; durch ihren praktischen Beruf darauf angewiesen,
die Ausbildung der Seelenthätigkeit beim Kinde zu leiten und zu
überwachen, mußten sie auch theoretisches Interesse an den
dabei beobachteten psychogenetischen Thatsachen finden. Indessen
standen diese Pädagogen - soweit sie überhaupt
darüber nachdachten! - in der Neuzeit wie im Alterthum
größtentheils im Banne der herrschenden dualistischen
Psychologie; dagegen waren sie mit den wichtigsten Thatsachen der
vergleichenden Psychologie, sowie mit der Organization und Funktion
des Gehirns meistens nicht bekannt. Außerdem aber betrafen ihre
Beobachtungen größtentheils erst die Kinder in
schulpflichtigem Alter oder in den unmittelbar vorhergehenden
Lebensjahren. Die merkwürigen Erscheinungen, welche die
individuelle Psychogenie des Kindes gerade in den ersten Lebensjahren
darbietet, und welche alle denkenden Eltern freudig bewundern,
wurden fast niemals Gegenstand eingehender wissenschaftlicher
Studien. Hier hat erst Wilhelm Preyer (1881) Bahn gebrochen, in
seiner interessanten Schrift über "Die Seele des Kindes;
Beobachtungen über die geistige Entwickelung des Menschen in
den ersten Lebensjahren". Indessen müssen wir, um volle Klarheit
zu gewinnen, noch weiter zurückgehen, bis auf die erste
Entstehung der Seele im befruchteten Ei.
Entstehung der individuellen Seele. Der Ursprung und die
erste Entstehung des menschlichen Individuums - ebenso unsers
Körpers wie unserer Seele - galt noch im Anfange des 18.
Jahrhunderts für ein vollkommenes Geheimniß. Allerdings
hatte der große Caspar Friedrich Wolff schon 1759 in seiner
Theoria generationis das wahre Wesen der embryonalen
Entwickelung aufgedeckt und an der sicheren Hand kritischer
Beobachtung gezeigt, daß bei der Entwickelung des Keimes aus dem
einfachen Ei eine wahre Epigenesis, d. h. eine Reihe der
merkwürdigsten Neubildungs-Prozesse stattfinde. Allein die
damalige Physiologie, an ihrer Spitze der berühmte Albert
Haller, lehnte diese empirischen, unmittelbar mikroskopisch
zu demonstrirenden Erkenntnisse rundweg ab und hielt an dem
hergebrachten Dogma der embryonalen Präformation fest.
Nach diesem nahm man an, daß im menschlichen Ei - ebenso wie
im Ei aller Thiere - der Organismus mit allen seinen Theilen vorgebildet
oder präformirt sei; die "Entwickelung" des Keimes bestehe
eigentlich nur in einer "Auswickelung" (Evolutio) der
eingewickelten Theile. Als nothwendiger Folgeschluß dieses
Irrthums ergab sich daraus weiterhin die oben erwähnte
Einschachtelungs-Theorie (S. 27); da im weiblichen Embryo bereits der
Eierstock vorhanden wäre, mußte man annehmen, daß
in dessen Eiern wieder schon die Keime der nächsten Generation
eingeschachtelt vorhanden seien, und so weiter, in infinitum!
Diesem Dogma der "Ovulisten"-Schule stand gegenüber eine
andere, ebenso irrthümliche Ansicht, die der
"Animalkulisten"; diese glaubten, daß der eigentliche Keim
nicht in der weiblichen Eizelle der Mutter, sondern in der
männlichen Spermazelle des Vaters liege, und daß in diesem
"Samenthierchen" (Spermatozoon) die Einschachtelung der
Generations-Reihen zu suchen sei.
Leibniz übertrug diese Einschachtelungs-Lehre ganz
folgerichtig auch auf die menschliche Seele; er leugnete für
sie eine wahre Entwickelung (Epigenesis) ebenso wie für den
Körper und sagte seiner Theodicee: "So sollte ich meinen, daß
die Seelen, welche eines Tages menschliche Seelen sein werden, im
Samen, wie jene von anderen Species, dagewesen sind; daß sie in
den Voreltern bis auf Adam, also seit dem Anfange der Dinge, immer in
Form organisirter Körper existirt haben." Aehnliche Vorstellungen
erhielten sich sowohl in der Biologie wie in der Philosophie noch bis in
das dritte Decennium des 19. Jahrhunderts, wo ihnen die Reform der
Keimesgeschichte durch Baer den Todesstoß versetzte. Im
Gebiete der Psychologie haben sie aber selbst bis auf den heutigen Tag
noch vielfach Geltung; sie stellen nur eine Gruppe unter den vielen
seltsamen, mysthischen Vorstellungen dar, welche die Ontogenie der
Psyche auch heute noch aufweist.
Mythologie des Seelen-Ursprungs. Die näheren
Aufschlüsse, welche wir durch die vergleichende Ethnologie
neuerdings über die mannigfaltigen Mythenbildungen der
älteren Kultur-Völker sowohl als der heutigen Natur-Völker
gewonnen haben, sind auch für die Psychogenie von
großem Interesse; indessen würde es hier zu weit
führen, wenn wir darauf eingehen wollten; wir verweisen
darüber auf das treffliche Werk von Adalbert Svoboda:
"Gestalten des Glaubens" (1897). Betreffs ihres wissenschaftlichen
oder poetischen Gehaltes können die betreffenden
psychogenetischen Mythen etwa folgendermaßen in
fünf Gruppen geordnet werden: I Mythus der Seelen-Wanderung: die
Seele lebte früher im Körper eines
anderen Thieres und ist erst aus diesem in den menschlichen
Körper übergetreten; die ägyptischen Priester z. B.
behaupteten, daß die menschliche Seele nach dem Tode des Leibes
durch alle Thier-Gattungen hindurchwandere, nach 3000 Jahren aber
wieder in einen Menschenleib zurückkehre. II. Mythus der
Seelen-Einpflanzung: die Seele existirte selbstständig an
einem anderen Orte, in einer psychogenetischen Vorrathskammer (etwa
in einer Art von Keimschlaf oder latentem Leben); sie wird von
einem Vogel (bisweilen als Adler, gewöhnlich als "Klapperstorch"
gedacht) geholt und in den menschlichen Körper eingesetzt. III.
Mythus des Seelen-Schöpfung; der göttliche
Schöpfer, als persönlicher "Gott-Vater" gedacht, erschafft die
Seelen, hält sie vorräthig - bald in einem Seelenteich (als
"Plankton" lebend), bald an einem Seelenbaum (als Früchte einer
phanerogamen Pflanze gedacht); der Schöpfer nimmt dieselben
heraus und setzt sie (während des Zeugungs-Aktes) dem
menschlichen Keime ein. IV. Mythus der Seelen-Einschachtelung
(von Leibniz, vorher erwähnt). V. Mythus der
Seelentheilung (von Rudolf Wagner, 1855, auch von
anderen Physiologen angenommen); im Zeugungs-Akte spaltet sich ein
Teil von beiden (immateriellen!) Seelen ab, die den Körper der
beiden kopulirenden Eltern bewohnen; der mütterliche
Seelenkeim reitet auf der Eizelle, der väterliche auf dem
beweglichen Samenthierchen; indem diese beiden Keimzellen
verschmelzen, wachsen auch die beiden sie begleitenden Seelen zur
Bildung einer neuen immateriellen Seele zusammen.
Physiologie des Seelen-Ursprungs. Obwohl die
angeführten Dichtungen über die Entstehung der einzelnen
Menschen-Seele heute noch sehr weite Verbreitung und Anerkennung
besitzen, ist dennoch ihr rein mythologischer Charakter jetzt sicher
nachgewiesen. Die hochinteressanten und bewunderungswürdigen
Untersuchungen, welche im Laufe der letzten 28 Jahre über die
feineren Vorgänge bei der Befruchtung und Keimung des Eies
ausgeführt worden sind, haben ergeben, daß diese
mysteriösen Erscheinungen sämmtlich in das Gebiet der
Zellen-Physiologie gehören (vergl. oben S. 24). Sowohl die
weibliche Keim-Anlage, das Ei, als der männliche
Befruchtungskörper, das Spermium oder Samen-Element, sind
einfache Zellen. Diese lebendigen Zellen besitzen eine Summe von
physiologischen Eigenschaften, welche wir unter dem Begriff der
Zellseele zusammenfassen, ebenso wie bei den permanent
einzelligen Protisten (vergl. S. 24). Beiderlei Geschlechtszellen besitzen
das Vermögen der Bewegung und Empfindung. Die jugendliche
Eizelle oder das "Ur-Ei" bewegt sich nach Art einer Amöbe;
die sehr kleinen Samenkörperchen oder Spermien, von welchen
Millionen in jedem Tropfen des schleimartigen, männlichen
Samens (Sperma) sich finden, sind Geißelzellen und bewegen
sich mittelst ihrer schwingenden Geißel ebenso lebhaft
schwimmend im Sperma umher wie die gewöhnlichen
Geißel-Infusorien (Flagellaten).
Wenn nun die beiderlei Zellen in Folge der Begattung zusammentreffen,
oder wenn sie durch künstliche Befruchtung (z. B. bei Fischen) in
Berührung gebracht werden, ziehen sie sich gegenseitig an und
legen sich fest an einander. Die Ursache dieser cellularen Attraktion ist
eine chemische, dem Geruche oder Geschmacke verwandte Sinnes-Thätigkeit des
Plasma, die wir als "erotischen
Chemotopismus" bezeichnen; man kann sie auch geradezu (sowohl
im Sinne der Chemie als im Sinne der Roman-Liebe) "Zellen-Wahlverwandtschaft"
oder "sexuelle Zellenliebe" nennen.
Zahlreiche Geißelzellen des Sperma schwimmen auf die ruhige
Eizelle lebhaft hin und versuchen in deren Körper einzudringen.
Wie Hertwig (1875) gezeigt hat, gelingt es aber normaler Weise
nur einem einzigen glücklichen Bewerber, das ersehnte Ziel
wirklich zu erreichen. Sobald sich dieses bevorzugte "Samenthierchen"
mit seinem "Kopfe" (d. h. dem Zellenkern) in den Leib der Eizelle
eingebohrt hat, wird von der Eizelle eine dünne Schleimschicht
abgesondert, welche das Eindringen anderer männlicher Zellen
verhindert. Nur wenn Hertwig durch niedere Temperatur die
Eizelle in Kälte-Starre versetzte oder sie durch narkotische Mittel
(Chloroform, Morphium, Nikotin) betäubte, unterblieb die Bildung
dieser Schutzhülle; dann trat "Ueberbefruchtung oder
Polyspermie" ein, und zahlreiche Samenfäden bohrten sich in
den Leib der bewußtlosen Zelle ein (Anthropogenie S. 54.). Diese
merkwürdige Thatsache bezeugt ebenso einen niederen Grad von
"cellularem Instinkt" (oder mindestens von specifischer,
sinnlicher, lebhafter Empfindung) in den beiderlei Geschlechtszellen wie
die wichtigen Vorgänge, die gleich darauf sich in ihrem Innern
abspielen. Die beiderlei Zellenkerne, der weibliche Eikern und der
männliche Spermakern, ziehen sich gegenseitig an, nähern
sich und verschmelzen bei der Berührung vollständig
miteinander. So ist denn aus der befruchteten Eizelle jene wichtige neue
Zelle entstanden, welche wir Stammzelle (Cytula) nennen,
und aus deren wiederholter Theilung der ganze vielzellige Organismus
hervorgeht.
Die psychologischen Erkenntnisse, welche sich aus diesen
merkwürdigen, erst in den letzten 28 Jahren sicher beobachteten
Thatsachen der Befruchtung ergeben, sind überaus wichtig und
bisher nicht entfernt in ihrer allgemeinen Bedeutung erkannt. Wir
fassen hier die wesentlichesten Folgerungen in folgenden fünf
Sätzen zusammen: I. Jedes menschliche Individuum ist, wie jedes
andere Thier, im Beginne seiner Existenz eine einfache Zelle. II. Diese
Stammzelle (Cytula) entsteht überall auf dieselbe Weise,
durch Verschmelzung oder Kopulation von zwei getrennten Zellen
verschiedenen Ursprungs, der weiblichen Eizelle (Ovulum) und
der männlichen Spermazelle (Spermium). III. Beide
Geschlechtszellen besitzen eine verschiedene "Zellseele", d. h. beide sind
durch eine besondere Form von Empfindung und von Bewegung
ausgezeichnet. IV. In dem Momente der Befruchtung oder
Empfängniß verschmelzen nicht nur die Plasmakörper
der beiden Geschlechtszellen un ihre Kerne, sondern auch die "Seelen"
derselben; d. h. die Spannkräfte, welche in beiden enthalten und
an die Materie des Plasma untrennbar gebunden sind, vereinigen sich
zur Bildung einer neuen Spannkraft, des "Seelenkeimes" der
neugebildeten Stammzelle. V. Daher besitzt jede Person leiblche und
geistige Eigenschaften von beiden Eltern; durch Vererbung
überträgt der Kern der Eizelle einen Theil der
mütterlichen, der Kern der Spermazelle einen Theil der
väterlichen Eigenschaften.
Durch diese empirisch erkannten Erscheinungen der Konception wird
ferner die höchst wichtige Thatsache festgestellt, daß jeder
Mensch wie jedes andere Thier einen Beginn der individuellen
Existenz hat; die völlige Kopulation der beiden sexuellen
Zellkerne bezeichnet haarscharf den Augenblick, in welchem nicht nur
der Körper der neuen Stammzelle entsteht, sondern auch
ihre "Seele". Durch diese Thatsache allein schon wird der alte Mythus
von der Unsterblichkeit der Seele widerlegt, auf den wir
später zurückkommen. Ferner wird dadurch der noch sehr
verbreitete Aberglaube widerlegt, daß der Mensch seine
individuelle Existenz der "Gnade des liebenden Gottes" verdankt. Die
Ursache derselben beruht vielmehr einzig und allein auf dem
"Eros" seiner beiden Eltern, auf jenem mächtigen, allen
vielzelligen Thieren und Pflanzen gemeinsamen Geschlechtstriebe,
welcher zu deren Begattung führt. Das Wesentliche bei diesem
physiologischen Processe ist aber nicht, wie man früher annahm,
die "Umarmung" oder die damit verknüpften Liebespiele, sondern
einzig und allein die Einführung des männlichen Sperma in
die weiblichen Geschlechts-Kanäle. Nur dadurch wird es bei den
landbewohnenden Thieren möglich, daß der befruchtende
Samen mit der abgelösten Eizelle zusammenkommt (was beim
Menschen gewöhnlich innerhalb des Uterus geschieht). Bei
niederen, wasserbewohnenden Thieren (z. B. Fischen, Muscheln,
Medusen) werden beiderlei reife Geschlechts-Produkte einfach in das
Wasser entleert, und hier bleibt ihr Zusammentreffen dem Zufall
überlassen; dann fehlt eine eigentliche Begattung, und damit
zugleich fallen jene zusammengesetzten psychischen Funktionen des
"Liebeslebens" hinweg, die bei höheren Thieren eine so große
Rolle spielen. Daher fehlen auch allen niederen, nicht kopulierenden
Thieren jene interessanten Organe, die Darwin als
"sekundäre Sexual-Charaktere" bezeichnet hat, die Produkte der
geschlechtlichen Zuchtwahl: der Bart des Mannes, das Geweih des
Hirsches, das prachtvolle Gefieder der Paradiesvöggel und vieler
Hühner-Vögel, sowie viele anderen Auszeichnungen der
Männchen, welche den Weibchen fehlen. (Vergl. Wilhelm
Bölsche, Liebesleben der Natur, 3 Bände, 1901.)
Vererbung der Seele. Unter den angeführten
Folgeschlüssen der Konceptions-Physiologie ist für die
Psychologie ganz besonders wichtig die Vererbung der Seelen-Qualitäten
von beiden Eltern. Daß jedes Kind besondere
Eigenthümlichkeiten des Charakters, Temperament, Talent,
Sinneschärfe, Willens-Energie von beiden Eltern erbt, ist
allgemein bekannt. Ebenso bekannt ist die Thatsache, daß oft (oder
eigentlich allgemein!) auch psychische Eigenschaften von beiderlei
Großeltern durch Vererbung übertragen werden; ja
häufig stimmt in einzelnen Beziehungen der Mensch mehr mit den
Großeltern als mit den Eltern überein, und das gilt ebenso
von geistigen wie von körperlichen Eigenthümlichkeiten.
Alle die merkwürdigen Gesetze der Vererbung, welche ich
zuerst (1866) in der Generellen Morphologie formulirt und in der
Natürlichen Schöpfungsgeschichte populär behandelt
habe, besitzen ebenso allgemeine Gültigkeit für die
besonderen Erscheinungen der Seelenthätigkeit wie der
Körperbildung; ja sie treten uns häufig an der ersteren noch
viel auffallender und klarer entgegen, als an der letzteren.
Nun ist ja an sich das große Gebiet der Vererbung, für
dessen ungeheuere Bedeutung uns erst Darwin (1859) das
wissenschaftliche Verständniß eröffnet hat, reich an
dunkeln Räthseln und physiologischen Schwierigkeiten; wir
dürfen nicht beanspruchen, daß uns schon jetzt nach, 40
Jahren, alle Seiten desselben klar vor Augen liegen. Aber so viel haben
wir doch schon sicher gewonnen, daß wir die Vererbung als eine
physiologische Funktion des Organismus betrachten, die mit der
Thätigkeit seiner Fortpflanzung unmittelbar verknüpft ist;
und wie alle anderen Lebensthätigkeiten müssen wir auch
diese schließlich auf physikalische und chemische Processe, auf
Mechanik des Plasma zurückführen. Nun kennen wir
aber jetzt den Vorgang der Befruchtung selbst genau; wir wissen,
daß dabei ebenso der Spermakern die väterlichen, wie der
Eikern die mütterlichen Eigenschaften auf die neugebildete
Stammzelle überträgt. Die Vermischung beider Zellkerne ist
das eigentliche Hauptmoment der Vererbung; durch sie werden ebenso
die individuellen Eigenschaften der Seele wie des Leibes auf das
neugebildete Individuum übertragen. Diesen ontogenetischen
Thatsachen steht die dualistische und mystische Psychologie der noch
heute herrschenden Schulen rathlos gegenüber, während sie
sich durch unsere monistische Psychogenie in einfachster Weise
vollkommen erklären.
Seelenmischung (psychische Amphigonie). Die physiologische
Thatsache, auf welche es für die richtige Beurtheilung der
individuellen Psychogenie vor Allem ankommt, ist die
Kontinuität der Psyche in der Generations-Reihe. Wenn im
Konceptions-Momente auch thatsächlich ein neues Individuum
entsteht, so ist dasselbe doch weder hinsichtlich seiner geistigen noch
leiblichen Qualität eine unabhängige Neubildung, sondern
lediglich das Produkt aus der Verschmelzung der beiden elterlichen
Faktoren, der mütterlichen Eizelle und der väterlichen
Spermazelle. Die Zellseelen dieser beiden Geschlechtszellen
verschmelzen im Befruchtungs-Akte ebenso vollständig zur
Bildung einer neuen Zellseele, wie die beiden Zellkerne, welche
die materiellen Träger dieser psychischen Spannkräfte sind,
zu einem neuen Zellkern sich verbinden. Da wir nun sehen,
daß die Individuen einer und derselben Art - ja selbst die
Geschwister, die von einem gemeinsamen Eltern-Paare abstammen -
stets gewisse, wenn auch geringfügige Unterschiede zeigen, so
müssen wir annehmen, daß solche auch schon in der
chemischen Plasma-Konstitution der kopulirenden Keimzellen selbst
vorhanden sind (Gesetz der individuellen Variation, Natürl.
Schöpfungsgeschichte, X. Auflage, S. 215).
Aus diesen Thatsachen allein schon läßt sich die unendliche
Mannigfaltigkeit der individuellen Seelen- und Form-Erscheinungen in
der organischen Natur begreifen. In extremer, aber einseitiger
Konsequenz ergiebt sich daraus die Auffassung von Weismann,
welcher die Amphimixis, die Mischung des Keimplasma bei der
geschlechtlichen Zeugung, sogar als die allgemeine und
ausschließliche Ursache der individuellen Variabilität
betrachtet. Diese exklusive Auffassung, die mit seiner Theorie von der
Kontinuität des Keimplasma zusammenhängt, ist nach
meiner Ansicht übertrieben; vielmehr halte ich an der
Ueberzeugung fest, daß die mächtigen Gesetze der
progressiven Vererbung und der damit verknüpften
funktionellen Anpassung ebenso für die Seele wie für
den Leib gelten. Die neuen Eigenschaften, welche des Individuum
während seines Lebens erworben hat, können theilweise auf
die molekulare Zusammensetzung des Keimplasma in der Eizelle und
Samenzelle zurückwirken und können so durch Vererbung
unter gewissen Bedingungen (natürlich nur als latente
Spannkräfte) auf die nächste Generation übertragen
werden.
Psychologischer Atavismus. Wenn bei der Seelen-Mischung im
Augenblicke der Empfängniß zunächst auch nur die
Spannkräfte der beiden Eltern-Seelen mittelst Verschmelzung der
beiden erotischen Zellkerne erblich übertragen werden, so kann
damit doch zugleich der erbliche psychische Einfluß älterer,
oft weit zurückliegender Generationen mit fortgepflanzt werden.
Denn auch die Gesetze der latenten Vererbung oder des
Atavismus gelten ebenso für die Psyche wie für die
anatomische Organisation. Die merkwürdigsten Erscheinungen
dieses "Rückschlags" begegnen uns in sehr einfacher und
lehrreicher Form beim "Generationswechsel" der Polypen und Medusen.
Hier wechseln regelmäßig zwei sehr verschiedene
Generationen so mit einander ab, daß die erste der dritten,
fünften u. s. w. gleich ist, dagegen die zweite (von jenen sehr
verschiedene) der vierten, sechsten u. s. w. (Natürl.
Schöpfgsg. S. 185). Beim Menschen wie bei den höheren
Thieren und Pflanzen, wo in Folge kontinuirlicher Vererbung jede
Generation der anderen gleicht, fehlt jener reguläre
Generationswechsel; aber trotzdem fallen uns auch hier vielfach
Erscheinungen des Rückschlags oder Atavismus auf, welche
auf dasselbe Gesetz der latenten Vererbung zurückzuführen
sind.
Gerade in feineren Züges des Seelenlebens, im Besitze bestimmter
künstlerischer Talente oder Neigungen, in der Energie des
Charakters, in der Leidenschaft des Temperamentes gleichen oft
hervorragende Menschen mehr ihren Großeltern als den Eltern;
nicht selten tritt auch ein auffälliger Charakterzug hervor, den
weder diese noch jene besaßen, der aber in einem älteren
Gliede der Ahnenreihe vor langer Zeit sich offenbart hatte. Auch in
diesen merkwürdigen Atavismen gelten dieselben
Vererbungsgesetze für die Psyche wie für die Physiognomie,
für die individuelle Qualität der Sinnesorgane, der Muskeln,
des Skeletts und anderer Körpertheile. Am auffälligsten
können wir dieselben in regierenden Dynastien und in alten
Adels-Geschlechtern verfolgten, deren hervorragende Thätigkeit
im Staatsleben zur genaueren historischen Darstellung der Individuen in
der Generations-Kette Veranlassung gegeben hat, so z. B. bei den
Hohenzollern, Hohenstaufen, Oraniern, Bourbonen u. s. w., und nicht
minder bei den römischen Cäsaren.
Das Biogenetische Grundgesetz in der Psychologie (1866). Der
Kausal-Zusammenhang der biontischen (individuellen) und
der phyletischen (historischen) Entwickelung, den ich schon in
der Generellen Morphologie als oberstes Gesetz an die Spitze aller
biogenetischen Untersuchungen gestellt hatte, besitzt ebenso allgemeine
Geltung für die Psychologie wie für die
Morphologie. Die besondere Bedeutung für den Menschen
beansprucht, habe ich (1874) im ersten Vortrage meiner Anthropogenie
ausgeführt: "Das Grundgesetz der organischen Entwickelung". Wie
bei allen anderen Organismen, so ist auch beim Menschen "die
Keimesgeschichte ein Auszug der Stammesgeschichte". Diese
gedrängte und abgekürzte Rekapitulation ist um so
vollständiger, je mehr durch beständige Vererbung die
ursprüngliche Auszugsentwickelung (Palingenesis)
beibehalten wird; hingegen wird sie um so unvollständiger, je
mehr durch wechselnde Anpassung die spätere
Störungsentwickelung (Cenogenesis) eingeführt
wird (Anthropogenie S. 11, 19).
Indem wir dieses Grundgesetz auf die Entwickelungsgeschichte der
Seele anwenden, müssen wir ganz besonderen Nachduck darauf
legen, daß stets beide Seiten desselben kritisch im Auge zu
behalten sind. Denn beim Menschen wie bei allen höheren Thieren
und Pflanzen haben im Laufe der phyletischen Jahr-Millionen so
beträchtliche Störungen oder Cenogenesen sich
ausgebildet, daß dadurch das ursprüngliche, reine Bild der
Palingenese oder des "Geschichts-Auszuges" stark getrübt
und verändert erscheint. Während einerseits durch die
Gesetze der gleichzeitigen und gleichörtlichen Vererbung die
palingenetische Rekapitulation erhalten bleibt, wird sie
andererseits durch die Gesetze der abgekürzten und vereinfachten
Vererbung wesentlich cenogenetisch verändert (Nat.
Schöpfgsg. S. 190). Zunächst ist das deutlich erkennbar in
der Keimesgeschichte der Seelen-Organe, des Nerven-Systems, der
Muskeln und dasselbe aber auch von ver Seelen-Thätigkeit, die
untrennbar an die normale Ausbildung dieser Organe gebunden ist. Die
Keimesgeschichte derselben ist beim Menschen, wie bei allen anderen
lebendig gebärenden Thieren, schon deshalb stark cenogenetisch
abgeändert, weil die volle Ausbildung des Keimes hier
längere Zeit innerhalb des mütterlichen Körpers
stattfindet. Wir müssen daher als zwei Hauptperioden der
individuellen Psychogenie unterscheiden; I. die embryonale und II. die
postembryonale Entwickelungsgeschichte der Seele.
Embryonale Psychogenie. Der menschliche Keim oder Embryo
entwickelt sich normaler Weise im Mutterleibe während des
Zeitraums von neun Monaten (oder 270 Tagen). Während dieses
Zeitraums ist er vollkommen von der Außenweilt abgeschlossen
und nicht allein durch die dicke Muskelwand des mütterlichen
Fruchtbehälters (Uterus) geschützt, sondern auch
durch die besonderen Fruchthüllen (Embryolemmen)
welche allen drei höheren Wirbelthier-Klassen gemeinsam
zukommen, den Reptilien, Vögeln und Säugethieren. Bei
allen drei Amnioten-Klassen entwickeln sich diese Fruchthüllen
(Amnion oder Wasserhaut und Serolemma oder
seröse Haut) genau in derselben Weise. Es sind das Schutz-Einrichtungen,
welche von den ältesten Reptilien (Proreptilien),
den gemeinsamen Stammformen der Amnioten, erst in der Perm-Periode (gegen Ende
des paläozoischen Zeitalters) erworben
wurden, als diese höheren Wirbelthiere sich an das
beständige Landleben und die Luftathmung gewöhnten. Ihre
vorhergehenden Ahnen, die Amphibien der Steinkohlen-Periode, lebten
und athmeten noch im Wasser, wie ihre älteren Vorfahren, die
Fische.
Bei diesen älteren und niederen wasserbewohnenden
Wirbelthieren besaß die Keimesgeschichte noch in viel
höherem Grade den palingenetischen Charakter, wie es auch noch
bei den meisten Fischen und Amphibien der Gegenwart der Fall ist. Die
bekannten Kaulquappen, die Larven der Salamander und Frösche,
bewahren noch heute in der ersten Zeit ihres freien Wasserlebens den
Körperbau ihrer Fisch-Ahnen; sie gleichen ihnen auch in der
Lebensweise, in der Kiemenathmung, in der Funktion ihrer Sinnes-Organe und ihrer
anderen Seelen-Organe. Erst wenn die interessante
Metamorphose der schwimmenden Kaulquappen eintritt, und wenn sie
sich an das Landleben gewöhnen, verwandelt sich ihr
fischähnlicher Körper in das vierfüßige,
kriechende Amphibium; an die Stelle der Kiemen-Athmung im Wasser
tritt die ausschließliche Luftathmung durch Lungen, und mit der
veränderten Lebensweise erlangt auch der Seelen-Apparat,
Nervensystem und Sinnes-Organe, einen höheren Grad der
Ausbildung. Wenn wir die Psychogenie der Kaulquappen von Anfang bis
zu Ende vollständig verfolgen könnten, würden wir
das biogenetische Grundgesetz vielfach auf die Entwickelung ihrer Seele
anwenden können. Denn sie entwickeln sich unmittelbar unter
den wechselnden Bedingungen der Außenwelt und müssen
diesen frühzeitig ihre Empfindung und Bewegung anpassen. Die
schwimmende Kaulquappe besitzt nicht nur die Organization, sondern
auch die Lebensweise und Seelenthätigkeit des Fisches und
erlangt erst durch ihre Verwandlung diejenige des Frosches.
Beim Menschen wie bei allen anderen Amnioten ist das nicht der Fall;
ihr Embryo ist schon durch den Einschluß in die schützenden
Eihüllen dem direkten Einflusse der Außenwelt entzogen und
jeder Wechselwirkung mit derselben entwöhnt. Außerdem
aber bietet die besondere Brutpflege der Amnionthiere ihrem
Keime viel günstigere Bedingungen für cenogenetische
Abkürzung der palingenetischen Entwickelung. Vor Allem
gehört dahin die vortreffliche Ernährung des Keims; sie
geschieht bei den Reptilien, Vögeln und Monotremen (bei
eierlegenden Säugethieren) durch den großen gelben
Nahrungsdotter, welcher dem Ei beigegeben ist, bei den übrigen
Mammalien hingegen (Beutelthieren und Zottenthieren) durch das Blut
der Mutter, welches durch die Blutgefäße des Dottersackes
und der Allantois dem Keime zugeführt wird. Bei den
höchstentwickelten Zottenthieren (Placentalia) hat
diese zweckmäßige Ernährungsform durch Ausbildung
des Mutterkuchens (Placenta) den höchsten Grad der
Vollkommenheit erreicht; daher ist der Embryo schon vor der Geburt
hier vollkommen ausgebildet. Seine Seele aber befindet sich
während dieser ganzen Zeit im Zustande des Keimschlafes,
einem Ruhezustande, welchen Preyer mit Recht dem
Winterschlafe der Thiere verglichen hat. Einen gleichen, lange
dauernden Schlaf finden wir auch im Puppenzustande jener Insekten,
welche eine vollkommene Verwandlung durchmachen (Schmetterlinge,
Immen, Fliegen, Käfer u. s. w.). Hier ist der Puppenschlaf,
während dessen die wichtigsten Umbildungen der Organe und
Gewebe vor sich gehen, um so interessanter, als der vorhergehende
Zustand der frei lebenden Larve (Raupe, Engerling oder Made) ein sehr
entwickeltes Seelenleben besitzt, und als dieses bedeutend unter
derjenigen Stufe steht, welche später (nach dem Puppenschlaf)
das vollendete, geflügelte und geschlechtsreife Insekt zeigt.
Postembryonale Psychogenie. Die Seelenthätigkeit des
Menschen durchläuft während seines individuellen Lebens,
ebenso wie bei den meisten höheren Thieren, eine Reihe von
Entwickelungsstufen; als die wichtigsten derselben können wir
wohl folgende fünf Haupt-Abschnitte unterscheiden: 1. die Seele
des Neugeborenen bis zum Erwachen des Selbstbewußtseins und
zum Erlernen der Sprache, 2. die Seele des Knaben und des
Mädchens bis zur Pupertät (zum Erwachen des
Geschlechtstriebes), 3. die Seele des Jünglings und der Jungfrau bis
zum Eintritt der sexuellen Verbindung (die Periode der "Ideale"), 4. der
Seele des erwachsenen Mannes und der reifen Frau (Periode der vollen
Reife und der Familien-Gründung, beim Manne meistens bis
ungefähr zum sechzigsten, beim Weibe bis zum fünfzigsten
Lebensjahre, bis zum Eintritt der Involution), 5. die Seele des Greises
und der Greisin (Periode der Rückbildung). Das Seelenleben des
Menschen durchläuft also dieselben Entwickelungsstufen der
aufsteigenden Fortbildung, der vollen Reife und der absteigenden
Rückbildung wie jede andere Lebensthätigkeit des
Organismus.
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Copyright 1997.
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