Tugenden
Bei all diesen
ritterlichen Tugenden gibt es nur ein kleines Problem: Jeder,
und allen voran der Erzähler, führt sie im Munde, aber keiner
lebt sie, keiner hält sich an sie als Richtschnur für sein Leben.
Dasselbe gilt für die christlichen Ideale. Herrschertugenden wie
Stärke, Milde sind für Gunther ein Fremdwort, er ist ein Schwächling,
und ohne vorbildliche Charakterzüge. Sigfried hat nichts von der
Ernsthaftigkeit eines echten "Helden", von seinem Einzug in Worms
bis zu dem Zeitpunkt, als er Brünhilds Ring und Gürtel als Trophäe
weitergibt, wird er nur als der Übermütige, der Gedankenlose gezeigt,
dessen Torheit aber weit schlimmere Folgen hat als z.B. die Torheit
eines Parzival. Seine magischen Kräfte setzt er nicht - wie im
Märchen - ein, um dem Guten zum Sieg zu verhelfen, sondern um
Beihilfe zu Verrat und Betrug zu leisten. Auch Hagen kann beim
besten Willen nicht als Verkörperung einer christlichen oder ritterlichen
Tugend gesehen werden.
Die Königinnen
schließlich sind alles andere als demütige Vertreterinnen ihres
Geschlechts, weit ab von allen Frauentugenden. Die heilige Elisabeth
von Thüringen ist eine Zeitgenossin des Schreibers der ältesten
Handschrift. Kriemhild wandelt sich vom liebenden Weib zur Rachefurie,
die alles um sie herum mit in den Tod reißt. Ihr einziger Lebensinhalt
ist diese Rache, so wie vermutlich auch ihr Mann (der Held) zu
seinen Lebzeiten ihr einziger Lebensinhalt war.
Am Ende trifft
sie auch selbst das Schicksal einer Rachefurie, die alle Grenzen
des Menschlichen in ihrer Raserei verlassen hat: "ze stücken was
gehouwen dô daz edele wîp" - mit dem Schwert getötet durch die
Hand des einzigen, der noch menschliche Züge trägt, durch Dietrich
von Bern, den Helden der germanischen Sage, dessen Qualität sicher
wohl jeder Umdichtung entzog. Dass sie selbst hier noch als "edeles
wîp" bezeichnet wird, enthüllt den formelhaften Charakter dieser
Bezeichnung.
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