Die Höfische
Welt
Im Lauf des
12. Jahrhunderts festigte sich das neu gebildete ritterliche Tugendsystem
als Maßstab für die "höfischen" Ideale. "Ritter" zu sein war nicht
länger mit dem Makel der niederen Herkunft belastet, denn mit
diesen Idealen konnte der ministeriale, dienstadlige Ritterstand
dem Standesgefühl des Hochadels und dessen purer Macht etwa Gleichwertiges
entgegensetzen. Den Ritter, der diesem neuem Ideal entsprach,
nannte man guot, reine, vrum, lobesam, tiure, ûz erwelt oder einfach
edel. Dem mittelalterlichen Denken entsprach es, dass Tugend und
Frömmigkeit sowohl in der Literatur als auch in der Bildenden
Kunst durch körperliche Schönheit wiedergegeben wurden. Äußerliche
Schönheit ist also ein Spiegel innerer Vollkommenheit. daher wird
Kriemhild vorgestellt als eine "edle junge Frau, wie sie in allen
Ländern nicht schöner sein konnte".
Diese höfische
Welt stand völlig unter dem Begriff der Ehre (êre). Ehre ist es,
was die Burgunderkönige verteidigen, wenn Sigfried am Hof erscheint,
Ehre ist es, was die Burgunder letztlich in den Tod treibt.
Aber diese
höfische Welt wirkt letztlich nur als dünner Firnis aufgetragen,
aufgetragen auf ältere, fast heidnische, unzivilisierte und gewaltbereite
Welten. Christentum und Kirche kommen so nur an einer einzigen
Stelle vor, und die Kirche selbst - auf die Kulisse der Realität
übertragen also der Wormser Dom - gibt eigentlich nur die Kulisse
ab für den alles bestimmenden Streit der Königinnen.
Ebenso durchscheinend
wird diese dünne Folie von Ritterlichkeit, als Sigfried nach Worms
kommt, um um Kriemhild zu werben. Er kommt nicht als Königssohn
in standesgemäßem Gepränge, sondern er beschließt, sich als fahrender
Recke zu tarnen und Kriemhild als Beute zu fordern. Dem Erzähler
muss das besonders entgegengekommen sein, denn so konnte er Sigfried
als das darstellen, was er in der sagenhaften Überlieferung ja
auch war: Der Pflegesohn eines Schmieds und "Partner" von Trollen
und Elfen.
Sigfried beschließt
nicht, um Kriemhild zu werben, nein, er sagt sich und seinen Kumpanen:
"So will ich Kriemhild nehmen". Die Bedenken seines Vaters, Gunther
und seine Mannen seien zu stark, wischt er beiseite: "Ich traue
mich, mir Land und Leute zu erzwingen!" Und auf den Einwand seines
Vaters Sigmund, mit Gewalt könne niemand diese Frau gewinnen,
bekräftigt er seinen Vorsatz, nur durch seine eigene starke Hand
wolle er die Frau bezwingen.
In Worms macht
sich nach der Ankunft Sigfrieds und seiner 12 Männer - der Schreiber
des Liedes schwelgt kurz in der Beschreibung der prächtigen Ausstattung
- Ratlosigkeit breit, denn der Held hat es nicht nötig, sich vorzustellen.
Allein Hagen von Tronje erkennt den Fremdling, obwohl er ihn noch
nie zuvor gesehen hat, und berichtet von seinen Jugend-Abenteuern.
Aber obwohl
der Burgunderhof ihn damit als "reichen Königssohn" erkennt, setzt
Sigfried das Spiel fort und fordert von Gunther Krone und Land.
Auch das ist weit entfernt von "höfischen" Sitten und Gepflogenheiten
des 13. Jahrhunderts, das ist die Sprache der Eroberer der Völkerwanderungszeit.
Und erst, als das Wortgefecht vor den Toren der Burg abgeebbt
war, kam Sigfried (oder dem Schreiber?) in den Sinn, warum er
eigentlich hier war: "Da gedachte auch Sîvrit an die hêrlîchen
meit". Zu sehen bekommt er sie allerdings eine ganze Weile nicht,
und es fällt auch kein Wort, warum er eigentlich an den Hof kam.
Ein ganzes Jahr vergeht so!
Kriemhild
beginnt schnell, von "ihrem" Helden zu träumen. Auch ohne Minnesang,
auch ohne geduldiges Werben, wie es die zeitgenössische Literatur
doch gerade vormachte.
Bei ihr zeigt
der Schreiber gleichwohl, dass er sich in den höfischen Bildern
auskannte. Er zitiert das Falkenmotiv und lässt die Königstochter
träumen, dass ein von ihr aufgezogener Falke von zwei Adlern in
der Luft zerrissen würde. Der Falke, das ist auch im Falkenlied
des von Kürenberg der Liebste, nur bei diesem fliegt er - in diesem
Fall die geliebte Frau - weg und hinterlässt eine tiefe Sehnsucht,
bei Kriemhild erleidet er den Tod. Vorausdeutung auf das Ende
des Nibelungenlieds.
|