Goethe - E.T.A. Hoffmann - Hesse

Männer um die 50

Ein Major - Gustav von Aschenbach - Harry Haller - Walter Faber - [Faust]

Das 30. Jahr gilt vielen als ein kritisches, man denke an den 68er-Slogan „Trau keinem über 30“ - oder lese die Erzählung von Ingeborg Bachmann: „Das dreißigste Jahr“.
Das 50. Jahr scheint aber ein besonders kritisches zu sein. Jedenfalls gibt es in der deutschsprachigen Literatur einige bedeutsame Protagonisten, denen gerade in diesem Jahr etwas Besonderes widerfährt, mit dem sie nicht mehr gerechnet haben.
Hierzu fünf Textstellen und abschließende Aufgaben:

  1. J.W. Goethe: Der Mann von fünfzig Jahren
  2. Thomas Mann: Tod in Venedig
  3. Hermann Hesse: Der Steppenwolf
  4. Max Frisch: Homo faber
  5. Wikipedia-Artikel: Midlife-Crisis (Auszüge)
  6. Aufgaben zum Textverständnis und zur Selbstbefraguung
  7. Zusatz: Wie alt ist Faust - vorher und nachher?

  

I. Johann Wolfgang von Goethe: Der Mann von fünfzig Jahren
    Erzählung aus „Wilhelm Meisters Wanderjahre” (geschrieben 1807/08)

Ein Major, fünfzig Jahre alt, kehrt von einer Reise zu seiner geliebten Schwester heim, einer verwitweten Baronin. Diese eröffnet ihm, dass ihre Tochter Hilarie ihn „wirklich und von ganzer Seele“ liebe. Dies löst beim Major verwirrende Empfindungen aus, die auch von seinem „alten Reitknecht“ beobachtet werden.

„Hilarie gesellte sich zu ihnen, und der Major fühlte sich, wider seinen Willen, abermals verändert. Ihre Gegenwart deuchte ihn noch lieber und werter als vorher; ihr Betragen schien ihm liebevoller, und schon fing er an, den Worten seiner Schwester Glauben beizumessen. Die Empfindung war für ihn höchst angenehm, ob er sich gleich solche weder gestehen noch erlauben wollte. Freilich war Hilarie höchst liebenswürdig, indem sich in ihrem Betragen die zarte Scheu gegen einen Liebhaber und die freie Bequemlichkeit gegen einen Oheim auf das innigste verband; denn sie liebte ihn wirklich und von ganzer Seele. Der Garten war in seiner vollen Frühlingspracht, und der Major, der so viele alte Bäume sich wieder belauben sah, konnte auch an die Wiederkehr seines eignen Frühlings glauben. Und wer hätte sich nicht in der Gegenwart des liebenswürdigsten Mädchens dazu verführen lassen!
So verging ihnen der Tag zusammen; alle häuslichen Epochen wurden mit der größten Gemütlichkeit durchlebt; abends nach Tisch setzte sich Hilarie wieder ans Klavier; der Major hörte mit andern Ohren als heute früh; eine Melodie schlang sich in die andere, ein Lied schloß sich ans andere, und kaum vermochte die Mitternacht die kleine Gesellschaft zu trennen.
Als der Major auf seinem Zimmer ankam, fand er alles nach seiner alten, gewohnten Bequemlichkeit eingerichtet; sogar einige Kupferstiche, bei denen er gern verweilte, waren aus andern Zimmern herübergehängt; und da er einmal aufmerksam geworden war, so sah er sich bis auf jeden einzelnen kleinen Umstand versorgt und geschmeichelt.
Nur wenige Stunden Schlaf bedurfte er diesmal; seine Lebensgeister waren früh aufgeregt. Aber nun merkte er auf einmal, daß eine neue Ordnung der Dinge manches Unbequeme nach sich ziehe. Er hatte seinem alten Reitknecht, der zugleich die Stelle des Bedienten und Kammerdieners vertrat, seit mehreren Jahren kein böses Wort gegeben: denn alles ging in der strengsten Ordnung seinen gewöhnlichen Gang; die Pferde waren versorgt und die Kleidungsstücke zu rechter Stunde gereinigt; aber der Herr war früher aufgestanden, und nichts wollte passen.
Sodann gesellte sich noch ein anderer Umstand hinzu, um die Ungeduld und eine Art böser Laune des Majors zu vermehren. Sonst war ihm alles an sich und seinem Diener recht gewesen; nun aber fand er sich, als er vor den Spiegel trat, nicht so, wie er zu sein wünschte. Einige graue Haare konnte er nicht leugnen, und von Runzeln schien sich auch etwas eingefunden zu haben. Er wischte und puderte mehr als sonst und mußte es doch zuletzt lassen, wie es sein konnte. Auch mit der Kleidung und ihrer Sauberkeit war er nicht zufrieden. Da sollten sich immer noch Fasern auf dem Rock und noch Staub auf den Stiefeln finden. Der Alte wußte nicht, was er sagen sollte, und war erstaunt, einen so veränderten Herrn vor sich zu sehen.
Ungeachtet aller dieser Hindernisse war der Major schon früh genug im Garten. Hilarien, die er zu finden hoffte, fand er wirklich. Sie brachte ihm einen Blumenstrauß entgegen, und er hatte nicht den Mut, sie wie sonst zu küssen und an sein Herz zu drücken. Er befand sich in der angenehmsten Verlegenheit von der Welt und überließ sich seinen Gefühlen, ohne zu denken, wohin das führen könne."
(Zitiert nach Bibliothek Gutenberg)

II. Thomas Mann: Der Tod in Venedig (1911)

„Anfang Mai 1911 ... unternimmt der über 50-jährige, für seine Werke geadelte Schriftsteller Gustav von Aschenbach einen Spaziergang durch den Englischen Garten in München, der ihn bis vor den „Nördlichen Friedhof“ führt. Auf der Freitreppe zur Aussegnungshalle fällt ihm ein seltsamer Mann in Wanderkleidung auf, der ihn „so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein“ anblickt, dass Aschenbach sich abwendet. Im Weitergehen wirkt das Wanderhafte in der Erscheinung des Fremden in Aschenbach nach.“ (Wikipedia-Artikel „Der Tod in Venedig“)

„Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monatelang eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der Prinzregentenstraße zu München aus allein einen weiteren Spaziergang unternommen. [...]
Wohl möglich, daß Aschenbach es bei seiner halb zerstreuten, halb inquisitiven Musterung des Fremden an Rücksicht hatte fehlen lassen, denn plötzlich ward er gewahr, daß jener seinen Blick erwiderte und zwar so kriegerisch, so gerade ins Auge hinein, so offenkundig gesonnen, die Sache aufs Äu­ßerste zu treiben, und den Blick des andern zum Ab­zug zu zwingen, daß Aschenbach, peinlich berührt, sich abwandte und einen Gang die Zäune entlang begann, mit dem beiläufigen Entschluß, des Menschen nicht weiter achtzuhaben. Er hatte ihn in der nächsten Minute vergessen. Mochte nun aber das Wandererhafte in der Erscheinung des Fremden auf seine Einbildungskraft gewirkt haben oder sonst irgendein physischer oder seelischer Einfluß im Spiele sein: eine seltsame Ausweitung seines Innern ward ihm ganz überraschend bewußt, eine Art schweifender Unruhe, ein jugendlich durstiges Verlangen in die Ferne, ein Gefühl, so lebhaft, so neu oder doch so längst entwöhnt und verlernt, daß er, die Hände auf dem Rücken und den Blick am Boden, gefesselt stehen blieb, um die Empfindung auf Wesen und Ziel zu prüfen.
Es war Reiselust, nichts weiter; aber wahrhaft als Anfall auftretend und ins Leidenschaftliche, ja bis zur Sinnestäuschung gesteigert. Seine Begierde ward sehend, seine Einbildungskraft, noch nicht zur Ruhe gekommen seit den Stunden der Arbeit, schuf sich ein Beispiel für alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde, die sie auf einmal sich vorzustellen bestrebt war: er sah, sah eine Landschaft, ein tropisches Sumpfgebiet unter dickdunstigem Himmel, feucht, üppig und ungeheuer, eine Art Urweltwildnis aus Inseln, Morästen und Schlamm führenden Wasserarmen, – sah aus geilem Farrengewucher, aus Gründen von fettem, gequollenem und abenteuerlich blühendem Pflanzenwerk haarige Palmenschäfte nah und ferne emporstreben, sah wunderlich ungestalte Bäume ihre Wurzeln durch die Luft in den Boden, in stockende, grünschattig spiegelnde Fluten versenken, wo zwischen schwimmenden Blumen, die milchweiß und groß wie Schüsseln waren, Vögel von fremder Art, hochschultrig, mit unförmigen Schnä­beln, im Seichten standen und unbeweglich zur Seite blickten, sah zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln – und fühlte sein Herz pochen vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen.
Zitiert nach www.gutenberg.org

III. Hermann Hesse: Der Steppenwolf (1927)

„Harry Haller, „ein Mann von annähernd fünfzig Jahren“, lässt sich für zehn Monate in einer größeren Stadt nieder, die er vor 25 Jahren schon einmal besucht hat. In dieser erzählten Zeitspanne überwindet er seine tiefe Depression und seinen Gesellschaftsekel durch einen „Lernprozess“ unter Anleitung neuer Freunde.“ (Wikipedia-Artikel: Der Steppenwolf)

Aus dem „Tractat vom Steppenwolf“

„Jeder weiß, in irgendeinem Winkel seiner Seele, recht wohl, dass Selbstmord zwar ein Ausweg, aber doch nur ein etwas schäbiger und illegitimer Notausgang ist, dass es im Grunde edler und schöner ist, sich vom Leben selbst besiegen und hinstrecken zu lassen als von der eigenen Hand. Dies Wissen, dies schlechte Gewissen, dessen Quelle dieselbe ist wie etwa für das böse Gewissen der sogenannten Selbstbefriediger, veranlasst die meisten „Selbstmörder“ zu einem dauernden Kampf gegen ihre Versuchung. Sie kämpfen, wie der Kleptomane gegen sein Laster kämpft. Auch dem Steppenwolf war dieser Kampf wohl bekannt, mit vielerlei wechselnden Waffen hatte er ihn gestritten. Schließlich kam er, im Alter von etwa siebenundvierzig Jahren, auf einen glücklichen und nicht humorlosen Einfall, der ihm oft Freude machte. Er setzte seinen fünfzigsten Geburtstag als den Tag fest, an welchem er sich den Selbstmord erlauben wolle. An diesem Tag, so vereinbarte er mit sich selber, sollte es ihm freistehen, den Notausgang zu benützen oder nicht, je nach der Laune des Tages. Mochte ihm nun geschehen was da wollte, mochte er krank werden, verarmen, Leid und Bitternis erfahren – alles war befristet, alles konnte allerhöchstens nur diese wenigen Jahre, Monate, Tage andauern, deren Zahl täglich kleiner wurde! Und in der Tat ertrug er manches Ungemach jetzt viel leichter, das ihn früher tiefer und länger gequält, ja vielleicht bis zur Wurzel erschüttert hätte. Wenn es ihm aus irgendwelchem Grunde besonders schlecht ging, wenn zur Verödung, Vereinsamung und Verwilderung seines Lebens noch besondere Schmerzen oder Verluste hinzukamen, dann konnte er zu den Schmerzen sagen: „Wartet nur, noch zwei Jahre, dann bin ich euer Herr!“ Und dann vertiefte er sich mit Liebe in die Vorstellung, wie an seinem fünfzigsten Geburtstag morgens die Briefe und Gratulationen ankommen würden, während er, seines Rasiermessers sicher, Abschied von allen Schmerzen nahm und die Tür hinter sich zuzog. Dann konnte die Gicht in den Knochen, dann konnten Schwermut, Kopfschmerz und Magenweh sehen, wo sie blieben.“
Hermann Hesse: Der Steppenwolf, Frankfurt 1975, S. 55f

IV. Max Frisch: Homo faber. Ein Bericht (1957)

Walter Faber, ein Ingenieur, der im Auftrag der UNESCO in der ganzen Welt unterwegs ist und sein ungebundenes Leben als Techniker zu genießen scheint, möchte seiner anhänglichen New Yorker Freundin Ivy so schnell wie möglich entkommen und reist mit dem Schiff über den Atlantik nach Europa. Auf der Reise begegnet er einer sehr jungen Frau, Sabeth, die seine Aufmerksamkeit und Männlichkeit erregt.

„Ich saß in der Bar -
Reisebekanntschaften!
Ich wurde sentimental, was sonst nicht meine Art ist, und es gab einen großen Ball, wie offenbar üblich, es war der letzte Abend an bord, zufällig mein fünfzigster Geburtstag; davon sagte ich natürlich nichts.
Es war mein erster Heiratsantrag.
Eigentlich saß ich mit Mister Lewin, der sich aus Bällen mit Tanz auch nichts machte, ich hatte (ohne den besonderen Anlaß zu verraten) zu einem Burgunder eingeladen, zum besten, was an Bord überhaupt zu haben war (man ist nur einmal 50, dachte ich): Beaune 1933, großartig im Bouquet, im Nachgeschmack etwas dürftig, zu kurz, leider auch zu wenig trübe, was Mister Lewis, dem sogar kalifornischer Burgundy mundet, nichts ausmachte. Ich war enttäuscht (ich hatte mir meinen 50. Geburtstag etwas anders vorgestellt, offen gestanden!) von dem Wein, aber sonst zufrieden. Sabeth erschien nur so auf einne Sprung, um einen Schluck von ihrem Citron-pressé zu nehmen, dann schon wieder ein Tänzer, ihr Schnäuzchen-Grafiker, dazwischen Schiffsoffiziere in Gala, blank wie in einer Operette, Sabeth in ihrem immer gleichen blauen Abendkleidchen, nicht geschmacklos, aber billig, zu kindlich ... Ich überlegte, ob ich nicht zu Bett gehen wollte, ich spürte meinen Magen, und wir saßen zu nahe bei der Musik ...“
(Max Frisch, Homo faber, Frankfurt 1977, S. 88f)

V. Aus dem Wikipedia-Artikel: Midlife-Crisis

„Mit dem Begriff Midlife-Crisis (engl. für „Lebensmittekrise“) meint man einen psychischen Zustand der Unsicherheit im Lebensabschnitt von etwa 40, 45 bis Anfang 50 Jahren. […]
Als Anzeichen der Midlife-Crisis werden sehr unterschiedliche Beschwerden benannt. Meist berichten die Betroffenen von Stimmungsschwankungen, Grübeleien, innerer Unsicherheit, Unzufriedenheit mit dem bisher Erreichten (beruflich, partnerschaftlich, familiär). Die Gefahr von Überschneidungen der Anzeichen einer Midlife-Crisis mit den Symptomen einer psychischen Erkrankung im eigentlichen Sinne ist dabei groß ... . Sofern sich aus den Belastungen keine psychische Erkrankung entwickelt, gehen die meisten Menschen aus diesem Lebensabschnitt mit dem Gefühl gestärkter innerer Reife und bewussterer Lebenshaltung heraus.[…]
Dem Begriff der Midlife-Crisis liegt die Annahme zugrunde, dass die meisten Menschen ihr Dasein nach einem Lebensziel ausrichten. Bei aller individueller Unterschiedlichkeit werden die Chancen zur Verwirklichung des eigenen Lebensziels in der Lebensmitte häufig reflektiert, was zu Verstimmungen und Unsicherheiten auch hinsichtlich der eigenen Identität (Rolle in Familie, Beruf, Sozialleben etc.) im Sinne des Begriffs führen kann. […]
In der „Mitte des Lebens“ treffen einerseits häufig belastende Lebensereignisse (eingeschränkte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit, Trennungs- und Verlusterfahrungen, s. u.) zusammen. Andererseits ist gerade im relativen Zeiterleben die Mitte des Lebens eine Zäsur: Während sich der junge Mensch seine verbleibende Lebenszeit als das mehrfache des bereits gelebten Lebens vorzustellen vermag, wird in der Lebensmitte die Vorstellung von der verbleibenden Zeit in der Relation zur bereits verlebten Zeit erheblich verkürzt. Im Rahmen dieses veränderten subjektiven Zeiterlebens werden (nicht immer bewusst) Bilanzierungen vorgenommen, die eine Grundlage für die kritische Reflexion des bisher Erreichten darstellen und sich bis hin zur Identitäts- und Sinnkrise entwickeln können.
Als mögliche Ursache einer Midlife-Crisis kann aber auch der nun deutlich wahrnehmbare körperliche Alterungsprozess in Frage kommen.”
(Aus dem Wikipedia-Artikel Midlife-Crisis Abruf 25.8.2017)

Arbeitsauftrag:

  1. Markiere die wesentlichen Informationen in diesem Auszug aus dem Wikipedia-Artikel (oder lies den vollständigen Artikel).
  2. Wende diese Informationen auf zwei der vorliegenden Texte an.
  3. Beschreibe in Deinen Worten die Gemüts- bzw. Stimmungslagen der Protagonisten.
  4. Welche würdest Du aus Deiner Sicht als 'alterstypisch' und welche als 'altersunabhängig' einstufen?
  5. Lass' Dir von Mitschüler_innen deren Erkenntnisse mitteilen und vergleicht.
  6. Wozu sollte man sich als junger Mensch überhaupt mit diesem Thema beschäftigen? Findest Du die Quarterlife Crisis interessanter?
  7. Und als Fleißaufgabe: Schlage einmal die Lebensdaten der Schriftsteller nach.

 

  

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