Der Literaturhistoriker Georg Lukacs schreibt über die "Gretchen-Tragödie"
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In "Dichtung und Wahrheit" erwähnt Goethe, daß nach seinen Erzählungen über die Gretchen-Tragödie sein Jugendgenosse H.L. Wagner ein Plagiat an ihm beging. Wieweit kann man hier wirklich von einem Plagiat sprechen? Wagner stellt das tragische Schicksal eines verführten Mädchens im Sinne der Zeit dar: als krasses Beispiel klassenmäßiger Unterdrückung der Bürger und Kleinbürger durch den Adel. Ähnliche Dramen sind in dieser Zeit in sehr großer Zahl entstanden, die hervorragendsten der jungen Generation sind die von Reinhold Lenz. Den Gipfelpunkt erreicht die Gestaltung dieses Beispiels der damaligen Klassenunterdrückung in Lessings "Emilia Galotti" und in Schillers "Kabale und Liebe".
Die Beliebtheit dieses Themas ist keineswegs zufällig (...) Sozial ist ... die Tragödie des verführten Bürgermädchens nur EIN Fall unter den vielen Übergriffen des Feudalismus. Vom Standpunkt der dichterischen Gestaltung aber hat dieses Thema solche Vorzüge, dass es nicht zufälligerweise zum dramatischen Hauptthema der deutschen Aufklärung wurde. Vor allem sind hier in ziemlich prägnanter Weise, in einem leicht nacherlebbaren typischen Einzelfall die widerwärtigsten, das ganze Bürgertum ... spontan empörenden Züge der Unterdrückung konzentriert ...
Weiter bietet gerade dieses Thema am wirksamsten den am weitesten im Vordergrund stehenden Gegensatz: den der beiden Moralen, der moralischen Verkommenheit, des moralischen Nihilismus beim Adel und des gesunden, sittlichen Gefühls beim Bürgertum. Endlich kann hier die Schwäche der Bürger, ihre Ohnmacht gegenüber dem Adel vollkommen wahrheitsgetreu dargestellt werden, und es kann doch ihr passiver, echt gewachsener, nicht gewaltsam emporgeschraubter Heroismus zum Ausdruck gelangen. So ist es nicht zufällig, daß selbst bei dem politisch leidenschaftlichsten Dramatiker des Sturm und Drang, beim jungen Schiller, der Soldatenverkauf durch die Fürsten nur eine Episode in der zentralen Liebestragödie bildet.
G.Lukacs: Faust-Studien (1940), in: Faust und Faustus, Hamburg 1971 S.179/80
- Warum wird Wagner gegen Goethes Plagiats-Vorwurf in Schutz genommen?
- Welche Gründe für die Beliebtheit dieses Themas unter zeitgenössischen Autoren werden angegeben?
- Gibt Georg Lukacs die Problemstellung von Wagners Drama richtig wieder (vgl. Zeile 4ff)?
Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.