Bei der Beurteilung der oben gestellten Frage ist das "Nicht Einverstandensein" entscheidend. Nun muß man sich fragen, was der Einzelne unternehmen kann, um dies den Mitmenschen kundzutun. Da gibt es sehr viele verschiedene Möglichkeiten. Wenn ich mich hier in der Demokratie mit diesem Thema beschäftige, stelle ich fest, daß meine Möglichkeiten sich deutlich von denen unterscheiden, die die Menschen in totalitären Staaten zur Verfügung haben.
Echte Protestaktionen, wie in meiner Fotomontage auf dem Titelblatt dargestellt, waren im Ostteil Deutschlands nach dem Bau der Mauer nicht mehr ohne Folgen für die an der Protestaktion beteiligten Personen möglich. (Q45) Denn aufgrund der oben zitierten Interpretation des Rechtes auf freie Meinungsäußerung fand der Großteil der Protesthandlungen in der DDR entweder nur im Stillen, im engen Bekanntenkreis, oder auch überhaupt nicht statt. Am Anfang eines jeden Protestes stellte sich jeder "Aufrührer" zunächst die Frage nach dem Sinn, da die Folgen des Widerspruchs meist persönliche Nachteile induzierten.
In demokratischen Staaten versucht man meist, Mitstreiter für die eigenen Ideen zu bekommen,
da in den meisten Fällen die Protestaktion eines Einzelnen keine besonders große Wirkung
erzielt. Dies ist heute genauso wie in den 60er Jahren. Eine solche Art von Zusammenfassung
Gleichgesinnter zu stärkeren Einheiten wird und wurde in Westdeutschland in der Regel
dadurch unterstützt, daß öffentliche Interessenverbände eingebunden werden oder versucht
wird, eine möglichst große Zahl von Menschen für eine Überzeugung zu gewinnen und sie zu
Mitstreitern zu machen, bevor man an die Öffentlichkeit geht. Eine solche Form der Interessenbündelung war in der DDR nur sehr schwer möglich. Konnte man als demokratiegewohnter
Bürger einmal am Fernsehen das Treiben eines "Parteitages" in der DDR verfolgen, so mußte
man befremdet erkennen, daß es hier offensichtlich nicht darum ging, eine "gemeinsame Linie"
aus vielen verschiedenen Vorschlägen zu einem Thema zu erarbeiten, wie das bei uns üblich ist,
sondern Parteitage waren eine Demonstration von Zustimmung zu einer einzigen vom
Politbüro vorgesetzten Meinung. Echte Diskussionen fanden im Plenum kaum statt. Dies ist bei
uns völlig anders. Hier wird im Parlament oder auf Parteitagen ein großes Spektrum an
verschiedenen Meinungen kundgetan und am Ende nach einem gemeinsamen Beschluß
gerungen.
In der DDR waren private und öffentliche Diskussionen gefährlich, denn es ist heute bekannt,
wie viele Institutionen des Staatssicherheitsdienstes es gab. Die "Kundschafter an unsichtbarer
Front" (Q46) die allein darauf spezialisiert waren, sogenannte "informelle Mitarbeiter" (IMs) in
verdächtige Gruppen einzuschleusen, um diese zu zerschlagen und deren Mitglieder zur
Rechenschaft zu ziehen. Deshalb war es oft sehr gefährlich zu versuchen, eine größere Gruppe
Gleichgesinnter zu einer ständig existierenden Einheit zusammenzufassen, wenn man mit etwas
unzufrieden war. Der mündlich oder schriftlich vorgetragene Protest hat meist nicht nur sein
Ziel verfehlt, sondern die strafrechtliche Verfolgung der Gruppe zur Folge gehabt. Dafür gibt
es unzählige Beispiele! Dies bedeutet, daß ein Protest allein als Bitte an die Politiker, sich doch
mit dieser und jener Frage einmal auseinanderzusetzen, nicht möglich war. Wenn wirklich
etwas erreicht werden sollte, dann mußte der einzelne oder die Gruppe den gewünschten
Zustand schon selbst herstellen. Um zu verhindern, daß man Repressalien dadurch zu erdulden
hatte, daß man öffentlich einen Mißstand angeprangert hatte, war es sehr beliebt, mit anonym
verfaßten Texten und Flugschriften das Volk zu informieren, ohne einen offenen (mit Namen
versehenen) Appell an Politiker auszusprechen. Als Beispiel läßt sich der im Buch "Gesicht zur
Wand" beschriebene Protest gegen die Zerstörung der "Paulinerkirche" in Leipzig nennen. (Q47)
Oppositionelle Massenbewegungen waren in der DDR in den 60er Jahren eher die Ausnahme.
Falls in der Bundesrepublik eine einzelne Person auf eine spektakuläre Weise ihren Protest zum
Ausdruck brachte, so hatte das meist durch das große Medieninteresse zur Folge, daß die
entsprechende Person über Nacht berühmt wurde. Dies ist wohl der Grund dafür, daß auch für
teilweise absolut schwachsinnige Dinge eine Riesenaktion gestartet wurde, um sich oder seine
eigene Gruppe im Rampenlicht zu profilieren. In der DDR wäre so etwas absolut undenkbar
gewesen, denn die negativen persönlichen Folgen hätten den Nutzen eines solchen Protestes
bei weitem überstiegen. Es geschah tatsächlich unzählige Male, daß Personen, die an sich gar
nicht gegen das System der DDR eingestellt waren, zum "Feind" abgestempelt und verhaftet
wurden, ohne daß man in dessen Umfeld erfuhr, warum er eigentlich verhaftet worden war
oder gegen was er eigentlich "protestiert" hatte. (Q48) Selbst die Orte, an denen die "Staatsfeinde"
inhaftiert wurden, waren meist geheim. Professor Fruchts "Erzieher" im Gefängnis Bauzten II
erzählte über die Haftanstalt, daß diese direkt in einem dicht besiedelten Wohngebiet lag und
nicht einmal die direkten Nachbarn dieses Gebäudekomplexes wußten, daß es sich hierbei um
ein streng bewachtes Gefängnis (überwiegend für politische Gefangene) handelte! Alle
offiziellen Medien waren fest in der Hand des Staates, der sämtliche Informationen erst durch
seine ideologischen Filter sickern ließ, bevor er sie zur Veröffentlichung weitergab.
Sinn und Folgen von unsinnigen Protesten waren in den beiden deutschen Staaten in den 60er
Jahren stark verschieden, was ich an einem Beispiel einmal verdeutlichen möchte: Nehmen wir
also auf westdeutscher Seite die Forderung, Lebensgemeinschaften von Lesben als
gleichwertig zur Ehe anzuerkennen, die meiner Meinung nur zur Erregung öffentlicher
Aufmerksamkeit bestimmt war und die zur Folge hatte, daß über Tage hinweg die Tagesschau
täglich über diese Aktionen berichtete, ohne daß bei ihnen am Ende etwas herauskam. Als
Beispiel eines unsinnigen Protestes in der DDR will ich das seitenverkehrte Aufkleben einer
Ulbricht-Briefmarke oder das Auf-Dem-Kopf-Lesen des "Neuen Deutschland" (Q49) nennen, was
zwar als Ziel nicht die Veränderung eines Zustandes hatte, aber trotzdem jedem, der dies sah,
anzeigen sollte, welche Einstellung man zu der alles vordenkenden Staatsgewalt vertrat. Die
Folgen derartigen Verhaltens waren dann meist: Diffamierung im engsten Bekanntenkreis,
Verlust der Arbeitsstelle, Ausschluß aus der Partei, Eintrag in behördliche
Führungszeugnisse.... Die Folgen waren vielfältig und in keinem Falle harmlos und das war
allgemein bekannt. Aufgrund dieser Tatsache waren es meist mutige Leute, die sich ihre
Bereitschaft zu protestieren reiflich überlegt hatten, bevor sie einen Schritt wagten.
Das erste Mal wird dies deutlich, als er 1939 ein Stipendium in Amerika ablehnte, weil er hoffte, in Deutschland daran mitwirken zu können, die antisemitischen Hetztiraden der Nationalsozialisten zu bremsen. Er arbeitete, so lange dies erfolgversprechend war, in Widerstandsorganisationen wie dem "Goerdeler Kreis" mit. Trotz seiner antimilitärischen Einstellung ging er als Arzt in den 2. Weltkrieg, obwohl er Möglichkeiten gehabt hätte, Deutschland "in letzter Minute" zu verlassen. Er fühlte sich als Arzt verpflichtet, verwundeten Soldaten zu helfen. Als er den Auftrag bekam, ein Erschießungskommando zu leiten, widersetzte er sich den Anweisungen und ließ die zum Tode bestimmten Flüchtlinge frei. Da auch die Nationalsozialisten erkennen mußten, daß Frucht nicht bereit war, gegen seine innere Überzeugung zu handeln, wurde er vom Kriegsdienst beurlaubt! Dies wäre eine einmalige Chance gewesen, sich in Sicherheit zu bringen und getrost und unversehrt das Ende des Krieges abzuwarten. Jeder andere junge Mann wäre froh gewesen, wenn er auf so einfache Weise dem Krieg hätte entrinnen können. - Nicht aber Adolf Henning Frucht. Er meldete sich gegen Ende des 2. Weltkrieges freiwillig (!), um Verwundeten aus der "Hölle von Stalingrad" zu helfen. Wir in unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft können uns wohl kaum noch vorstellen, welcher Mut und Idealismus erforderlich war, um einen derartigen Schritt zu tun!
Als Hitler schließlich 1945 besiegt war, entschied der Wissenschaftler, daß sein Platz im Osten Deutschlands sei, da er hier zum Aufbau des am Boden liegenden Gesundheitswesens dringend gebraucht wurde. Doch auch hier ließ er sich nicht beirren, an seinen humanitären Einstellungen festzuhalten. Er gefährdete sich immer wieder dadurch, daß er zum Nutzen der Medizin (er besorgte Penizillinkulturen für den Osten und gab dem Westen einen Impfstoff gegen die Kinderlähmung) oder Wissenschaft Kontakte zu westlichen Geheimdiensten pflegte.
Als Professor Frucht fürchten mußte, daß im östlichen Militärbündnis Kampfstoffe entwickelt und Pläne geschmiedet würden, wie man den Westen unterwerfen könnte, wurde er erneut aktiv. - Wenn man weiß, daß in der DDR in den 60iger Jahren schon das Hören eines westlichen Radiosenders ein Indiz dafür war, daß jemand "staatsfeindliches Potential" (StaSi- Deutsch) besaß, was sollte dann erst das Verraten militärisch hochbrisanter Geheimnisse an den Westen sein? (Anm.12) Ein Zitat von Professor Frucht selbst auf genau die Frage, wie er selbst sein Tun bezeichnete, lautete:
"Man sagte über mich: Ich betrieb das, was man Spionage nennt. Ich sage: Ich habe Informationen weitergegeben und nenne das: Verantwortung des Wissenschaftlers - das hat mit Ideologie, mit Verrat nichts zu tun, viel mehr mit Res publica, mit den öffentlichen Angelegenheiten, um die sich meine Familie seit 150 Jahren gekümmert hat." (Q50) Sein Hinweis auf die Tradition seiner Familie bestätigt meinen Standpunkt, daß Professor Frucht nicht ein "gewöhnlicher Spion" war, sondern ein Protestierer aus humanitären Beweggründen. Denn schon seine Verwandten, Ernst und Arvid von Harnack, sowie Dietrich Bonhoeffer waren wegen aktiven Widerstandes gegen die menschenverachtenden Taten des Nazi-Regimes zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Ich denke, daß gerade diese Worte mit ihrem Hinweis auf die Familientradition, in der es Widerstandskämpfer von großer Bekanntheit gab, sagen wollen, daß es sich bei Professor Fruchts Tat nicht um Protest gegen eine Regime sondern um einen humanitären Protest gehandelt hat. Es war keine typische, öffentliche Anprangerung von Mißständen, sondern ein "stiller Protest". Der Wissenschaftler wollte nicht gegen das Regime protestieren, sondern vielmehr einen couragierten Schritt gegen einen schrecklichen antihumanen Plan unternehmen, den Professor Frucht in der oben geschilderten Weise wohl auch gegen den Westen durchgeführt hätte (Spekulation!). Aus dieser Überzeugung heraus war Professor Frucht bereit, selbst das Risiko einer Verurteilung zu einer langen Haftstrafe oder gar einer Todesstrafe (Q51) bewußt auf sich zu nehmen. (Anm.13)
Professor Frucht wählte einen sehr einsamen Weg zu protestieren. Er lebte stets allein mit seinem geheimen Wissen und weihte noch nicht einmal seine nächsten Mitarbeiter oder seine Ehefrau über seine Vermutungen und die von ihm unternommenen Schritte ein, um niemand anderen außer sich selbst zu gefährden, falls seine Kontakte zu den westlichen Geheimdiensten "aufflogen". Da er immer mit Informationen höchster Geheimhaltungsstufe arbeitete, durfte wirklich niemand etwas von seinen Kontakten zu westlichen Geheimdiensten wissen. Dr. Kössler wußte zwar, daß er als Mitarbeiter Fruchts ein neues Kampfgas der NVA untersuchte, doch das war auch schon alles. Den Alaska-Plan setzte sich Frucht in seinem Kopf aus den Segmenten zusammen, die er von General Gestewitz in ihren gemeinsamen Gesprächen erfahren hatte. Der Wissenschaftler allein entschied, ob die Amerikaner davon Mitteilung bekommen sollten, oder nicht. Teilhaber an der Ausführung war natürlich noch sein Neffe Malte Heygster, alias Martin Rückert, der als Kurier die Information überbringen mußte. Er hatte zwar auf den ersten Blick den gefährlicheren Teil zu übernehmen, doch hatte er gegenüber seinem Onkel den Vorteil, daß er Bürger der Bundesrepublik Deutschland war und nach der ganzen Aktion die DDR nicht wieder betreten würde, so daß er vor der StaSi sicher war. Frucht war es, der mit den Folgen seines Tuns leben mußte und der für die Beschaffung der Informationen zur Rechenschaft gezogen werden würde, wenn etwas ans Tageslicht kommen sollte. Doch er warf damals sein Leben für die gute Sache in die Waagschale, um den möglichen Tod vieler Menschen verhindern zu können.
In einem Gespräch nach der Wende, das zur Aufklärung der Hintergründe der Spionageaktion
mit den damaligen Beteiligten stattfand, erläuterte Professor Frucht die Motive für seine Tat in
folgender Weise:
Professor Frucht: "Ich war immer ein Mensch mit internationalen Beziehungen und ich hatte
meinen eigenen Standpunkt. Jeder Staat braucht ein paar Verrückte - oder Außenseiter. Das
haben die Nazis geachtet und das hat genauso die DDR auch geachtet. Bis es dann zu doll
wurde. Ich habe mir das ja auch nicht ausgesucht. Entscheidend für mein Verhalten in der
Kampfstoff-Sache war, daß eine neuartige Anwendung [Kältekampfstoff] mit einem
neuartigen Mittel [Plan des Angriffs auf gegnerische Radarstationen] gemacht werden sollte
und ich glaubte, daß die Kombination von zwei neuen Sachen wirklich gefährlich wäre. Alle
Arten von Erfindung gehen immer sozusagen schrittweise. Doch wenn einer einen Sprung
macht, der kann damit wirklich was anfangen. Ich habe auch nie geglaubt, daß ich wüßte ob
man das Zeug, wovon Gestewitz sprach [Kältekampfstoff] anwenden könnte. Aber ich habe
gesagt, ich kann es nicht beurteilen, ich muß jemanden fragen. Doch in der DDR konnte ich
keinen fragen... ."
Dr. Rausch: "Im Klartext, das was sie an Informationen erhalten haben, das hat bei ihnen
bewirkt, daß sie was tun müssen?"
Prof. Frucht: "Ja. Ich will ihnen ein Beispiel geben. Die Engländer haben bis zum Schluß des
Krieges Forschungen mit sehr rückständigen Kampfstoffen gemacht, obwohl sie in Afrika
einen Mann gefangen hatten, der gesagt hat: "Wir haben ein neues Zeug: Tabun, Soman." -
Das heißt, es genügt nicht, den Leuten das Zeug hinzulegen, sie müssen es dir auch glauben.
Das ist das Hauptproblem bei der ganzen Information. Bei mir war das sehr ähnlich. Die
Amerikaner haben mich ja auch ganz schlecht behandelt und mir nicht geglaubt. (...) Ich hab
das ganze ja nicht gemacht, weil ich Vorteile haben wollte, sondern weil ich dachte, ich muß
was tun." (Q52)
Professor Frucht hatte schon öfters die Erfahrung gemacht, daß mit Protest auf der politischen Schiene nichts zu machen war. Er war vor allem erbittert, daß Wissenschaftler zwar Forschungsaufträge erhielten, beim Beschluß von Gesetzen jedoch immer nur Politiker entschieden. Er entschloß sich deswegen, den offiziellen, politischen Weg zu meiden und statt dessen die schon bestehende Verbindung zum CIA zu benutzen, um dem Westen Mitteilung von den Kampfstoffplänen des Ostens zu machen. Diese Art des "stillen, weil geheimen Protests" wurde, wie er im o. g. Gespräch schreibt, durch die sprunghafte militärische Entwicklung auf mehreren Fronten ausgelöst. An anderer Stelle in diesem Gespräch konkretisiert Professor Frucht die Bedeutung dieser Weiterentwicklung noch, indem er sagt, daß bei ihm durch die militärischen Veränderungen der Eindruck entstanden sei, daß sich durch die neuen Kräfteverhältnisse die Sowjetunion gegenüber dem Westen so stark bevorteiligt fühlen könnte, daß dies Anreiz für einen Angriffsschlag sein könnte. In seiner Argumentation zu dem Thema spielt das Wort "Kräftegleichgewicht" immer eine entscheidende Rolle. Nach dem 2. Weltkrieg war über Jahrzehnte dieses "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO fragwürdiger Garant für die Verhinderung eines während des Kalten Krieges ständig drohenden atomaren Weltkrieges. Mit Hilfe einer atomaren Hochrüstung verfolgten die USA und die UdSSR, als die Führungsmächte der beiden Bündnisse, eine auf Abschreckung gestützte Sicherheitspolitik. In der internationalen Politik hatte die Demonstration militärischer Stärke gegenüber potentiellen Angreifern immer das Ziel, diese von feindlichen Aktionen abzuhalten, weil sie einen vernichtenden Gegenschlag oder erhebliche Verluste fürchten mußten. Seit der Verfügbarkeit von Kernwaffen hat die Abschreckungsstrategie erheblich an Bedeutung gewonnen, weil es keinen Zweifel über das Vernichtungspotential dieser Waffen geben kann und somit wenig Spielraum für taktische Winkelzüge und kalkulierte Verluste bleibt. Wirksame Verteidigung ist gegen massive Atomangriffe praktisch unmöglich. Die Zerstörungskraft von Atomwaffen macht es umgekehrt aber leichter, den potentiellen Angreifer durch die Androhung massiver atomarer Vergeltung von einem Angriff abzuhalten. Der Angreifer kann sich also von einem Erstschlag zumindest dann keinen Vorteil versprechen, wenn es ihm mit diesem nicht gelingt, das gesamte militärische Potential des Gegners zu vernichten, weil er sonst bei einem Gegenschlag selbst vernichtet werden könnte. Doch genau das, so befürchtete Professor Frucht, würde der Fall sein, falls es der Sowjetunion nicht gelingen sollte, mit einem Schlag die amerikanische Radarkette zur Abwehr von Raketen- und Flugzeugangriffen außer Gefecht zu setzen. Seit A.-H. Frucht zu Professor Lohs, einem führenden (zivilen) Kampfstoffexperten der DDR, Kontakt hatte, wußte er über die heimtückischen Eigenschaften der chemischen und biologischen Waffen: sie sind nicht hörbar, nicht schmeckbar, nicht riechbar. Ihr Vorhandensein erkennt man erst an ihren Symptomen - die dann zum Tod führen. Jedoch gibt es Möglichkeiten, sich effektiv gegen Verletzungen durch den Kontakt mit solchen Waffen zu schützen, die also nur dann hochgefährlich sind, wenn sie überraschend eingesetzt werden und den Gegner unvorbereitet treffen. Professor Frucht war deshalb immer darauf bedacht dafür zu sorgen, "daß alle gegnerischen Blöcke alles über chemische Kampfstoffe wissen: Dann kann es keinen Überraschungsangriff auf Wehrlose geben." (Q53) Wenn den Amerikanern bekannt war, daß sie mit einer chemischen Atakke rechnen mußten, so konnten sie ihr die Effektivität nehmen und somit eine gefährliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der UdSSR verhindern. Es muß hinzugefügt werden, daß Professor Frucht damals nicht nur einen globalen Atomkrieg befürchtete, sondern auch die Möglichkeit in Betracht zog, daß die UdSSR durch massiven Druck die Amerikaner aus West-Berlin vertreiben wollte. "Es spielt hierbei die in den 60er/70er Jahren sehr häufig vorgefundene Meinung der Berliner Bevölkerung eine Rolle, der gesamte Ost-West Konflikt sei nur wegen Berlin so schlimm und alles drehe sich um die geteilte Frontstadt, die der zentrale Zankapfel der Auseinandersetzung sei." (Q54) Ob dies wirklich der Auslöser dafür war, daß Professor Frucht vordergründig an Berlin dachte, oder ob dies durch die von ihm beobachteten Truppenübungen in der Nähe der Zonengrenze unmittelbar vor dem Beginn der Berliner Blockade 1953 bedingt worden war, ist schwer zu beurteilen. Jedoch war es für ihn in erster Linie entscheidend, daß ein Konflikt und ein gefährliches Kräfteungleichgewicht überhaupt verhindert werden konnte, egal worum er sich drehte.