Protest (Anm.10)

An dieser Stelle mag man sich fragen, ob ich hier einen Actionbericht, beziehungsweise eine geschichtliche Abhandlung schreiben möchte und überhaupt - was hat das mit Protest zu tun? Die Frage ist an dieser Stelle absolut berechtigt, doch habe ich noch nicht genug Hintergrundinformationen gegeben, um schlüssig erläutern zu können, daß es hier um Protest geht und wie er aussieht. Denn, bevor ich sage: War es Protest? - muß zuerst die Frage: "Was ist überhaupt Protest in der speziellen Situation Professor Fruchts?" geklärt werden.

"Protest" - Definition

Um den Protest beurteilen zu können, muß ich zunächst einmal den Begriff Protest definieren. Im Fremdwörtenduden heißt es dazu:
Protest: [lat. -it.] -[e]s, -e: Meist spontane u. temperamentvolle Bekundung des Mißfallens, des Nicht-Einverstandenseins. Protestieren heißt, Einspruch erheben, Verwahrung einlegen. Das Verb wurde im 15. Jahrhundert aus frz. "protester" entlehnt. Das auf Lateinisch "protestari" - "öffentlich als Zeuge auftreten, beweisen, dartun, öffentlich aussagen, laut verkünden" zurückgeht. (Q40)

Bei der Beurteilung der oben gestellten Frage ist das "Nicht Einverstandensein" entscheidend. Nun muß man sich fragen, was der Einzelne unternehmen kann, um dies den Mitmenschen kundzutun. Da gibt es sehr viele verschiedene Möglichkeiten. Wenn ich mich hier in der Demokratie mit diesem Thema beschäftige, stelle ich fest, daß meine Möglichkeiten sich deutlich von denen unterscheiden, die die Menschen in totalitären Staaten zur Verfügung haben.

Protest in der Demokratie

Wenn wir im privaten Umfeld mit etwas nicht einverstanden sind, können wir zunächst einmal ganz einfach widersprechen und damit unseren Unwillen kundtun. Die Folge ist meist, daß sich über das widersprüchliche Thema eine Diskussion ergibt, in dem das "Für und Wider" erörtert wird.
Handelt es sich um eine Sache, die nicht auf den privaten Bereich beschränkt ist, haben wir als Bürger einer Demokratie viele verschiedene Möglichkeiten, unsere Meinung kundzutun. Da gibt es zunächst z.B. die Form von Leserbriefen in einer Zeitung, Diskussionsrunden, Schreiben an Politiker oder Parlamente, öffentliche Aufrufe mit Megaphon, Plakaten, Handzetteln u.v.m.. Typisch ist jedoch bei allen Formen des Widerspruchs, daß man sich zunächst eine eigene Meinung zum Thema bildet, im direkten Umfeld die Problematik erörtert und dann möglichst Mitstreiter sucht. In unserer Demokratie ist im Grundgesetz das Recht auf "Meinungsfreiheit" festgeschrieben. Hierin eingeschlossen ist die Pressefreiheit ohne Zensur, sowie die Freiheit, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. (Q41) Wenn wir zu dem Schluß kommen, daß wir durch irgendeinen Gesetzeszustand benachteiligt oder behindert werden, haben wir das Recht, auf Versammlungsfreiheit (Q42) oder ein Petitionsrecht (Q43) u.v.a.. Wenn man unser Grundgesetz liest, fällt auf, daß das Wort "Freiheit" immer wieder vorkommt. Wir sind also frei, jeden nur denkbaren Weg zu gehen, um Informationen zu einem uns interessierenden Thema zu suchen, diese aufzubereiten und anderen vorzustellen, um Mitstreiter zu einem bestimmten Punkt zu sammeln. Typisch ist bei uns, daß man, um sich Gehör zu verschaffen, üblicherweise Mitstreiter sucht, um zu dokumentieren, daß es sich nicht um eine Einzelmeinung handelt. Da in einer Demokratie das Mehrheitsrecht gültig ist, ist es auch stets erstrebenswert, wenn man etwas verändern will, klar zu machen, daß es möglichst viele Personen gibt, die dieselbe Meinung vertreten, wie man selbst. Eine heute wieder aktuell gewordene Form des Protests ist die Unterschriftensammlung. Hier versucht man möglichst viele Privatpersonen dafür zu gewinnen, ein gemeinsames Statement zu unterschreiben. Die Listen mit den Unterschriften werden dann an Politiker oder Parlamente gesandt. Damit hofft man, Gesetzesentscheidungen beeinflussen zu können. Das neueste Beispiel für eine derartige Protestform ist die Aktion gegen die regelmäßige doppelte Staatsbürgerschaft in Deutschland.
Beliebt sind auch Großveranstaltungen, wie z.B. die Kundgebungen der Gewerkschaften zum 1. Mai. Oft profilieren sich einzelne Leitpersonen aus Protestbewegungen oder Bürger initiativen, so daß man mit einem Namen häufig schon eine bestimmte politische Richtung charakterisiert (Joschka Fischer - Die Grünen; Monika Griefhahn - Greenpeace, Rudi Dutschke - Studentenbewegung....) Natürlich sind in einer so liberalen Staatsform, wie der unseren nicht alle Proteste gegen wirkliche Mißstände gerichtet, denn jeder hat ja laut Grundgesetz das Recht, über alles und jedes seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. So läßt sich über den Sinn einer "Love Parade" als Ausdruck eines Protests gegen die bestehende Gesellschaft streiten - aber auch diese Meinungsäußerung wird bei uns akzeptiert.

Gegensätze im Protestverhalten: Bundesrepublik Deutschland - DDR (Anm.11)

Während in Westdeutschland ein offener Protest seit Inkraftteten des Grundgesetzes 1950 möglich war, hatte er im Osten für den "Normalbürger der DDR" fast immer starke Repressalien zur Folge. Im aktuellen Wettbewerbsheft "Spuren Suchen" ist dieser Sachverhalt bei Ilko-Sascha Kowalczuk sehr schön dargestellt:
"In der Diktatur bedeuten Protest und Opposition etwas ganz anderes als in der Demokratie. Während der demokratische Parlamentarismus ohne vielfältige Formen von Protest und Opposition gar nicht denkbar ist und sogar ein verfassungsmäßiges Recht darstellt, war in der kommunistischen Diktatur nicht nur Opposition, sondern jeder öffentliche Protest verboten. Im offiziellen "Kleinen Politischen Wörterbuch" der DDR hieß es, daß in den sozialistischen Staaten "für eine Opposition keine objektive politische oder soziale Grundlage" existierte, weil die Machthaber im Sinne und zum Wohle der gesamten Gesellschaft herrschten. Demzufolge mußte jeder, der gegen die Herrschenden aufbegehrte, verfolgt, eingeschüchtert, eingesperrt, oder "zersetzt" werden." (Q44)

Echte Protestaktionen, wie in meiner Fotomontage auf dem Titelblatt dargestellt, waren im Ostteil Deutschlands nach dem Bau der Mauer nicht mehr ohne Folgen für die an der Protestaktion beteiligten Personen möglich. (Q45) Denn aufgrund der oben zitierten Interpretation des Rechtes auf freie Meinungsäußerung fand der Großteil der Protesthandlungen in der DDR entweder nur im Stillen, im engen Bekanntenkreis, oder auch überhaupt nicht statt. Am Anfang eines jeden Protestes stellte sich jeder "Aufrührer" zunächst die Frage nach dem Sinn, da die Folgen des Widerspruchs meist persönliche Nachteile induzierten.

In demokratischen Staaten versucht man meist, Mitstreiter für die eigenen Ideen zu bekommen, da in den meisten Fällen die Protestaktion eines Einzelnen keine besonders große Wirkung erzielt. Dies ist heute genauso wie in den 60er Jahren. Eine solche Art von Zusammenfassung Gleichgesinnter zu stärkeren Einheiten wird und wurde in Westdeutschland in der Regel dadurch unterstützt, daß öffentliche Interessenverbände eingebunden werden oder versucht wird, eine möglichst große Zahl von Menschen für eine Überzeugung zu gewinnen und sie zu Mitstreitern zu machen, bevor man an die Öffentlichkeit geht. Eine solche Form der Interessenbündelung war in der DDR nur sehr schwer möglich. Konnte man als demokratiegewohnter Bürger einmal am Fernsehen das Treiben eines "Parteitages" in der DDR verfolgen, so mußte man befremdet erkennen, daß es hier offensichtlich nicht darum ging, eine "gemeinsame Linie" aus vielen verschiedenen Vorschlägen zu einem Thema zu erarbeiten, wie das bei uns üblich ist, sondern Parteitage waren eine Demonstration von Zustimmung zu einer einzigen vom Politbüro vorgesetzten Meinung. Echte Diskussionen fanden im Plenum kaum statt. Dies ist bei uns völlig anders. Hier wird im Parlament oder auf Parteitagen ein großes Spektrum an verschiedenen Meinungen kundgetan und am Ende nach einem gemeinsamen Beschluß gerungen. In der DDR waren private und öffentliche Diskussionen gefährlich, denn es ist heute bekannt, wie viele Institutionen des Staatssicherheitsdienstes es gab. Die "Kundschafter an unsichtbarer Front" (Q46) die allein darauf spezialisiert waren, sogenannte "informelle Mitarbeiter" (IMs) in verdächtige Gruppen einzuschleusen, um diese zu zerschlagen und deren Mitglieder zur Rechenschaft zu ziehen. Deshalb war es oft sehr gefährlich zu versuchen, eine größere Gruppe Gleichgesinnter zu einer ständig existierenden Einheit zusammenzufassen, wenn man mit etwas unzufrieden war. Der mündlich oder schriftlich vorgetragene Protest hat meist nicht nur sein Ziel verfehlt, sondern die strafrechtliche Verfolgung der Gruppe zur Folge gehabt. Dafür gibt es unzählige Beispiele! Dies bedeutet, daß ein Protest allein als Bitte an die Politiker, sich doch mit dieser und jener Frage einmal auseinanderzusetzen, nicht möglich war. Wenn wirklich etwas erreicht werden sollte, dann mußte der einzelne oder die Gruppe den gewünschten Zustand schon selbst herstellen. Um zu verhindern, daß man Repressalien dadurch zu erdulden hatte, daß man öffentlich einen Mißstand angeprangert hatte, war es sehr beliebt, mit anonym verfaßten Texten und Flugschriften das Volk zu informieren, ohne einen offenen (mit Namen versehenen) Appell an Politiker auszusprechen. Als Beispiel läßt sich der im Buch "Gesicht zur Wand" beschriebene Protest gegen die Zerstörung der "Paulinerkirche" in Leipzig nennen. (Q47) Oppositionelle Massenbewegungen waren in der DDR in den 60er Jahren eher die Ausnahme.
Falls in der Bundesrepublik eine einzelne Person auf eine spektakuläre Weise ihren Protest zum Ausdruck brachte, so hatte das meist durch das große Medieninteresse zur Folge, daß die entsprechende Person über Nacht berühmt wurde. Dies ist wohl der Grund dafür, daß auch für teilweise absolut schwachsinnige Dinge eine Riesenaktion gestartet wurde, um sich oder seine eigene Gruppe im Rampenlicht zu profilieren. In der DDR wäre so etwas absolut undenkbar gewesen, denn die negativen persönlichen Folgen hätten den Nutzen eines solchen Protestes bei weitem überstiegen. Es geschah tatsächlich unzählige Male, daß Personen, die an sich gar nicht gegen das System der DDR eingestellt waren, zum "Feind" abgestempelt und verhaftet wurden, ohne daß man in dessen Umfeld erfuhr, warum er eigentlich verhaftet worden war oder gegen was er eigentlich "protestiert" hatte. (Q48) Selbst die Orte, an denen die "Staatsfeinde" inhaftiert wurden, waren meist geheim. Professor Fruchts "Erzieher" im Gefängnis Bauzten II erzählte über die Haftanstalt, daß diese direkt in einem dicht besiedelten Wohngebiet lag und nicht einmal die direkten Nachbarn dieses Gebäudekomplexes wußten, daß es sich hierbei um ein streng bewachtes Gefängnis (überwiegend für politische Gefangene) handelte! Alle offiziellen Medien waren fest in der Hand des Staates, der sämtliche Informationen erst durch seine ideologischen Filter sickern ließ, bevor er sie zur Veröffentlichung weitergab.
Sinn und Folgen von unsinnigen Protesten waren in den beiden deutschen Staaten in den 60er Jahren stark verschieden, was ich an einem Beispiel einmal verdeutlichen möchte: Nehmen wir also auf westdeutscher Seite die Forderung, Lebensgemeinschaften von Lesben als gleichwertig zur Ehe anzuerkennen, die meiner Meinung nur zur Erregung öffentlicher Aufmerksamkeit bestimmt war und die zur Folge hatte, daß über Tage hinweg die Tagesschau täglich über diese Aktionen berichtete, ohne daß bei ihnen am Ende etwas herauskam. Als Beispiel eines unsinnigen Protestes in der DDR will ich das seitenverkehrte Aufkleben einer Ulbricht-Briefmarke oder das Auf-Dem-Kopf-Lesen des "Neuen Deutschland" (Q49) nennen, was zwar als Ziel nicht die Veränderung eines Zustandes hatte, aber trotzdem jedem, der dies sah, anzeigen sollte, welche Einstellung man zu der alles vordenkenden Staatsgewalt vertrat. Die Folgen derartigen Verhaltens waren dann meist: Diffamierung im engsten Bekanntenkreis, Verlust der Arbeitsstelle, Ausschluß aus der Partei, Eintrag in behördliche Führungszeugnisse.... Die Folgen waren vielfältig und in keinem Falle harmlos und das war allgemein bekannt. Aufgrund dieser Tatsache waren es meist mutige Leute, die sich ihre Bereitschaft zu protestieren reiflich überlegt hatten, bevor sie einen Schritt wagten.

Adolf Henning Fruchts Protest

Wie protestierte Adolf Henning Frucht?

Als ich Anfang Oktober 1998 beschloß, den Protest Adolf Henning Fruchts in meinem Wettbewerbsbeitrag zu schildern, ging ich davon aus, daß ich nur den Verrat des "Alaska- Planes" schildern und werten könnte. Nachdem ich mich aber lange mit den biographischen Daten und Vorkommnissen meiner "Protestperson" beschäftigt habe, mußte ich feststellen, daß der Arzt und Wissenschaftler sein ganzes Leben lang immer wieder dann "gegen den Strom schwamm", wenn es darum ging, Menschen zu helfen oder Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Frucht fühlte sich keinem Gesellschaftssystem blind hörig und versuchte während seines gesamten Lebens immer wieder gegen menschengefährdende Einflüsse zu kämpfen.

Das erste Mal wird dies deutlich, als er 1939 ein Stipendium in Amerika ablehnte, weil er hoffte, in Deutschland daran mitwirken zu können, die antisemitischen Hetztiraden der Nationalsozialisten zu bremsen. Er arbeitete, so lange dies erfolgversprechend war, in Widerstandsorganisationen wie dem "Goerdeler Kreis" mit. Trotz seiner antimilitärischen Einstellung ging er als Arzt in den 2. Weltkrieg, obwohl er Möglichkeiten gehabt hätte, Deutschland "in letzter Minute" zu verlassen. Er fühlte sich als Arzt verpflichtet, verwundeten Soldaten zu helfen. Als er den Auftrag bekam, ein Erschießungskommando zu leiten, widersetzte er sich den Anweisungen und ließ die zum Tode bestimmten Flüchtlinge frei. Da auch die Nationalsozialisten erkennen mußten, daß Frucht nicht bereit war, gegen seine innere Überzeugung zu handeln, wurde er vom Kriegsdienst beurlaubt! Dies wäre eine einmalige Chance gewesen, sich in Sicherheit zu bringen und getrost und unversehrt das Ende des Krieges abzuwarten. Jeder andere junge Mann wäre froh gewesen, wenn er auf so einfache Weise dem Krieg hätte entrinnen können. - Nicht aber Adolf Henning Frucht. Er meldete sich gegen Ende des 2. Weltkrieges freiwillig (!), um Verwundeten aus der "Hölle von Stalingrad" zu helfen. Wir in unserer heutigen Wohlstandsgesellschaft können uns wohl kaum noch vorstellen, welcher Mut und Idealismus erforderlich war, um einen derartigen Schritt zu tun!

Als Hitler schließlich 1945 besiegt war, entschied der Wissenschaftler, daß sein Platz im Osten Deutschlands sei, da er hier zum Aufbau des am Boden liegenden Gesundheitswesens dringend gebraucht wurde. Doch auch hier ließ er sich nicht beirren, an seinen humanitären Einstellungen festzuhalten. Er gefährdete sich immer wieder dadurch, daß er zum Nutzen der Medizin (er besorgte Penizillinkulturen für den Osten und gab dem Westen einen Impfstoff gegen die Kinderlähmung) oder Wissenschaft Kontakte zu westlichen Geheimdiensten pflegte.

Als Professor Frucht fürchten mußte, daß im östlichen Militärbündnis Kampfstoffe entwickelt und Pläne geschmiedet würden, wie man den Westen unterwerfen könnte, wurde er erneut aktiv. - Wenn man weiß, daß in der DDR in den 60iger Jahren schon das Hören eines westlichen Radiosenders ein Indiz dafür war, daß jemand "staatsfeindliches Potential" (StaSi- Deutsch) besaß, was sollte dann erst das Verraten militärisch hochbrisanter Geheimnisse an den Westen sein? (Anm.12) Ein Zitat von Professor Frucht selbst auf genau die Frage, wie er selbst sein Tun bezeichnete, lautete:

"Man sagte über mich: Ich betrieb das, was man Spionage nennt. Ich sage: Ich habe Informationen weitergegeben und nenne das: Verantwortung des Wissenschaftlers - das hat mit Ideologie, mit Verrat nichts zu tun, viel mehr mit Res publica, mit den öffentlichen Angelegenheiten, um die sich meine Familie seit 150 Jahren gekümmert hat." (Q50) Sein Hinweis auf die Tradition seiner Familie bestätigt meinen Standpunkt, daß Professor Frucht nicht ein "gewöhnlicher Spion" war, sondern ein Protestierer aus humanitären Beweggründen. Denn schon seine Verwandten, Ernst und Arvid von Harnack, sowie Dietrich Bonhoeffer waren wegen aktiven Widerstandes gegen die menschenverachtenden Taten des Nazi-Regimes zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Ich denke, daß gerade diese Worte mit ihrem Hinweis auf die Familientradition, in der es Widerstandskämpfer von großer Bekanntheit gab, sagen wollen, daß es sich bei Professor Fruchts Tat nicht um Protest gegen eine Regime sondern um einen humanitären Protest gehandelt hat. Es war keine typische, öffentliche Anprangerung von Mißständen, sondern ein "stiller Protest". Der Wissenschaftler wollte nicht gegen das Regime protestieren, sondern vielmehr einen couragierten Schritt gegen einen schrecklichen antihumanen Plan unternehmen, den Professor Frucht in der oben geschilderten Weise wohl auch gegen den Westen durchgeführt hätte (Spekulation!). Aus dieser Überzeugung heraus war Professor Frucht bereit, selbst das Risiko einer Verurteilung zu einer langen Haftstrafe oder gar einer Todesstrafe (Q51) bewußt auf sich zu nehmen. (Anm.13)

Professor Frucht wählte einen sehr einsamen Weg zu protestieren. Er lebte stets allein mit seinem geheimen Wissen und weihte noch nicht einmal seine nächsten Mitarbeiter oder seine Ehefrau über seine Vermutungen und die von ihm unternommenen Schritte ein, um niemand anderen außer sich selbst zu gefährden, falls seine Kontakte zu den westlichen Geheimdiensten "aufflogen". Da er immer mit Informationen höchster Geheimhaltungsstufe arbeitete, durfte wirklich niemand etwas von seinen Kontakten zu westlichen Geheimdiensten wissen. Dr. Kössler wußte zwar, daß er als Mitarbeiter Fruchts ein neues Kampfgas der NVA untersuchte, doch das war auch schon alles. Den Alaska-Plan setzte sich Frucht in seinem Kopf aus den Segmenten zusammen, die er von General Gestewitz in ihren gemeinsamen Gesprächen erfahren hatte. Der Wissenschaftler allein entschied, ob die Amerikaner davon Mitteilung bekommen sollten, oder nicht. Teilhaber an der Ausführung war natürlich noch sein Neffe Malte Heygster, alias Martin Rückert, der als Kurier die Information überbringen mußte. Er hatte zwar auf den ersten Blick den gefährlicheren Teil zu übernehmen, doch hatte er gegenüber seinem Onkel den Vorteil, daß er Bürger der Bundesrepublik Deutschland war und nach der ganzen Aktion die DDR nicht wieder betreten würde, so daß er vor der StaSi sicher war. Frucht war es, der mit den Folgen seines Tuns leben mußte und der für die Beschaffung der Informationen zur Rechenschaft gezogen werden würde, wenn etwas ans Tageslicht kommen sollte. Doch er warf damals sein Leben für die gute Sache in die Waagschale, um den möglichen Tod vieler Menschen verhindern zu können.

Warum wählte Professor Frucht den Weg der "Spionage"?

Um einen eventuellen Überfall der Sowjetunion auf Amerika zu verhindern, mußte der Professor den "offiziellen Beschwerdeweg" ausschließen. Er war sich bewußt, daß er selbst und alleine handeln mußte, weil er die Brisanz des Themas erkannt hatte und wußte, daß er sich nicht einfach mit einem Megaphon und Spruchbändern in einen belebten Stadtteil Ostberlins hätte stellen können, um seine Meinung zu vertreten. Die Folge derartigen Tuns hätte ihr Ziel völlig verfehlt, da es 1. wohl aus Angst vor Repressalien niemanden gegeben hätte, der sich dem Protest angeschlossen hätte und 2. hätte auch eine Ansammlung gleichgesinnter Protestierer keine Wirkung bei den Militärs erzielt. Man hätte die "Staatsfeinde" nur verhaftet, ohne daß die Öffentlichkeit die genauen Hintergründe des Protestes erfahren hätte. Um wirklich eine Chance zu haben, die entscheidenden Stellen über die drohende Gefahr zu unterrichten, mußte ein lautloser, aber entschlossener Schritt gegen die Bedrohung und für den Frieden gemacht werden.

In einem Gespräch nach der Wende, das zur Aufklärung der Hintergründe der Spionageaktion mit den damaligen Beteiligten stattfand, erläuterte Professor Frucht die Motive für seine Tat in folgender Weise:
Professor Frucht: "Ich war immer ein Mensch mit internationalen Beziehungen und ich hatte meinen eigenen Standpunkt. Jeder Staat braucht ein paar Verrückte - oder Außenseiter. Das haben die Nazis geachtet und das hat genauso die DDR auch geachtet. Bis es dann zu doll wurde. Ich habe mir das ja auch nicht ausgesucht. Entscheidend für mein Verhalten in der Kampfstoff-Sache war, daß eine neuartige Anwendung [Kältekampfstoff] mit einem neuartigen Mittel [Plan des Angriffs auf gegnerische Radarstationen] gemacht werden sollte und ich glaubte, daß die Kombination von zwei neuen Sachen wirklich gefährlich wäre. Alle Arten von Erfindung gehen immer sozusagen schrittweise. Doch wenn einer einen Sprung macht, der kann damit wirklich was anfangen. Ich habe auch nie geglaubt, daß ich wüßte ob man das Zeug, wovon Gestewitz sprach [Kältekampfstoff] anwenden könnte. Aber ich habe gesagt, ich kann es nicht beurteilen, ich muß jemanden fragen. Doch in der DDR konnte ich keinen fragen... ."
Dr. Rausch: "Im Klartext, das was sie an Informationen erhalten haben, das hat bei ihnen bewirkt, daß sie was tun müssen?"
Prof. Frucht: "Ja. Ich will ihnen ein Beispiel geben. Die Engländer haben bis zum Schluß des Krieges Forschungen mit sehr rückständigen Kampfstoffen gemacht, obwohl sie in Afrika einen Mann gefangen hatten, der gesagt hat: "Wir haben ein neues Zeug: Tabun, Soman." - Das heißt, es genügt nicht, den Leuten das Zeug hinzulegen, sie müssen es dir auch glauben. Das ist das Hauptproblem bei der ganzen Information. Bei mir war das sehr ähnlich. Die Amerikaner haben mich ja auch ganz schlecht behandelt und mir nicht geglaubt. (...) Ich hab das ganze ja nicht gemacht, weil ich Vorteile haben wollte, sondern weil ich dachte, ich muß was tun." (Q52)

Professor Frucht hatte schon öfters die Erfahrung gemacht, daß mit Protest auf der politischen Schiene nichts zu machen war. Er war vor allem erbittert, daß Wissenschaftler zwar Forschungsaufträge erhielten, beim Beschluß von Gesetzen jedoch immer nur Politiker entschieden. Er entschloß sich deswegen, den offiziellen, politischen Weg zu meiden und statt dessen die schon bestehende Verbindung zum CIA zu benutzen, um dem Westen Mitteilung von den Kampfstoffplänen des Ostens zu machen. Diese Art des "stillen, weil geheimen Protests" wurde, wie er im o. g. Gespräch schreibt, durch die sprunghafte militärische Entwicklung auf mehreren Fronten ausgelöst. An anderer Stelle in diesem Gespräch konkretisiert Professor Frucht die Bedeutung dieser Weiterentwicklung noch, indem er sagt, daß bei ihm durch die militärischen Veränderungen der Eindruck entstanden sei, daß sich durch die neuen Kräfteverhältnisse die Sowjetunion gegenüber dem Westen so stark bevorteiligt fühlen könnte, daß dies Anreiz für einen Angriffsschlag sein könnte. In seiner Argumentation zu dem Thema spielt das Wort "Kräftegleichgewicht" immer eine entscheidende Rolle. Nach dem 2. Weltkrieg war über Jahrzehnte dieses "Gleichgewicht des Schreckens" zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO fragwürdiger Garant für die Verhinderung eines während des Kalten Krieges ständig drohenden atomaren Weltkrieges. Mit Hilfe einer atomaren Hochrüstung verfolgten die USA und die UdSSR, als die Führungsmächte der beiden Bündnisse, eine auf Abschreckung gestützte Sicherheitspolitik. In der internationalen Politik hatte die Demonstration militärischer Stärke gegenüber potentiellen Angreifern immer das Ziel, diese von feindlichen Aktionen abzuhalten, weil sie einen vernichtenden Gegenschlag oder erhebliche Verluste fürchten mußten. Seit der Verfügbarkeit von Kernwaffen hat die Abschreckungsstrategie erheblich an Bedeutung gewonnen, weil es keinen Zweifel über das Vernichtungspotential dieser Waffen geben kann und somit wenig Spielraum für taktische Winkelzüge und kalkulierte Verluste bleibt. Wirksame Verteidigung ist gegen massive Atomangriffe praktisch unmöglich. Die Zerstörungskraft von Atomwaffen macht es umgekehrt aber leichter, den potentiellen Angreifer durch die Androhung massiver atomarer Vergeltung von einem Angriff abzuhalten. Der Angreifer kann sich also von einem Erstschlag zumindest dann keinen Vorteil versprechen, wenn es ihm mit diesem nicht gelingt, das gesamte militärische Potential des Gegners zu vernichten, weil er sonst bei einem Gegenschlag selbst vernichtet werden könnte. Doch genau das, so befürchtete Professor Frucht, würde der Fall sein, falls es der Sowjetunion nicht gelingen sollte, mit einem Schlag die amerikanische Radarkette zur Abwehr von Raketen- und Flugzeugangriffen außer Gefecht zu setzen. Seit A.-H. Frucht zu Professor Lohs, einem führenden (zivilen) Kampfstoffexperten der DDR, Kontakt hatte, wußte er über die heimtückischen Eigenschaften der chemischen und biologischen Waffen: sie sind nicht hörbar, nicht schmeckbar, nicht riechbar. Ihr Vorhandensein erkennt man erst an ihren Symptomen - die dann zum Tod führen. Jedoch gibt es Möglichkeiten, sich effektiv gegen Verletzungen durch den Kontakt mit solchen Waffen zu schützen, die also nur dann hochgefährlich sind, wenn sie überraschend eingesetzt werden und den Gegner unvorbereitet treffen. Professor Frucht war deshalb immer darauf bedacht dafür zu sorgen, "daß alle gegnerischen Blöcke alles über chemische Kampfstoffe wissen: Dann kann es keinen Überraschungsangriff auf Wehrlose geben." (Q53) Wenn den Amerikanern bekannt war, daß sie mit einer chemischen Atakke rechnen mußten, so konnten sie ihr die Effektivität nehmen und somit eine gefährliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse zu Gunsten der UdSSR verhindern. Es muß hinzugefügt werden, daß Professor Frucht damals nicht nur einen globalen Atomkrieg befürchtete, sondern auch die Möglichkeit in Betracht zog, daß die UdSSR durch massiven Druck die Amerikaner aus West-Berlin vertreiben wollte. "Es spielt hierbei die in den 60er/70er Jahren sehr häufig vorgefundene Meinung der Berliner Bevölkerung eine Rolle, der gesamte Ost-West Konflikt sei nur wegen Berlin so schlimm und alles drehe sich um die geteilte Frontstadt, die der zentrale Zankapfel der Auseinandersetzung sei." (Q54) Ob dies wirklich der Auslöser dafür war, daß Professor Frucht vordergründig an Berlin dachte, oder ob dies durch die von ihm beobachteten Truppenübungen in der Nähe der Zonengrenze unmittelbar vor dem Beginn der Berliner Blockade 1953 bedingt worden war, ist schwer zu beurteilen. Jedoch war es für ihn in erster Linie entscheidend, daß ein Konflikt und ein gefährliches Kräfteungleichgewicht überhaupt verhindert werden konnte, egal worum er sich drehte.

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