Die Anfänge der Kooperation mit dem Geheimdienst

Die Anfänge der Kooperation Adolf-Henning Fruchts mit dem amerikanischen Geheimdienst waren von nicht allzu großer Bedeutung. Die politischen Zustände in Berlin habe ich ja gerade schon eingehend erläutert. - Die besondere Situation, die in dieser Enklave der westlichen Welt mitten im Meer des Kommunismus herrschte. Der erste Teil meiner Betrachtung der geheimdienstlichen Tätigkeit Professor Fruchts erstreckt sich auf die Zeit vor dem Mauerbau, also bis zum 13.08.1961. Sämtliche am Ort befindlichen Mächte wollten alles über ihre direkten Nachbarn bzw. Rivalen wissen. Über die noch offene Zonengrenze in Berlin fand ein reger Personen- und Nachrichtenaustausch statt. Und so wimmelte es hier von Agenten.

Die Kontaktaufnahme zum Geheimdienst und Gründe für die Aufrechterhaltung dieses Kontakts

Wie kann man sich eine Kontaktaufnahme zu einem westlichen Geheimdienst als Bürger der DDR um das Jahr 1960 vorstellen? In Kriminalromanen und Spionagefilmen wird sie immer als eine großartige, höchst gefährliche Aktion dargestellt, bei der es einer langen Vorausplanung bedarf, um so etwas überhaupt stattfinden zu lassen. Der Fall Frucht zeigt: Die Realität sah in Berlin vor dem Mauerbau völlig anders aus, denn der Beginn seiner Verbindung zum Geheimdienst war recht unspektakulär.

Im Fall von Professor Frucht war keine lange Vorausplanung erforderlich, denn er stellte den Kontakt gar nicht selbst her, sondern alles wurde durch einen seiner Bekannten in die Wege geleitet. Professor Frucht war damals Berater der sportärztlichen Beratungsstelle in Ostberlin. Er hatte sich einige Male mit dessen Leiter, Dr. Nitz, darüber unterhalten, daß durch die gezielte Abwerbung von Akademikern der Osten stark an Fachleuten verarmte und sie redeten öfters über Ursachen der politischen Spannungen, die in Berlin deutlich spürbar waren. Eines Tages bot Dr. Nitz an, ihn mit Leuten in Westberlin bekannt zu machen, die sich mit politischen Fragen und Flüchtlingsangelegenheiten befaßten. Er stellte in Aussicht, daß Professor Fruchts Argumente hier sicherlich gehört und gewürdigt würden. So kam es, daß die beiden Ärzte eines Tages in einer Bar in der Westberliner Uhlandstraße mit zwei Männern zusammentrafen, denen Professor Frucht aber wegen ihres auffälligen Verhaltens schon sehr bald anmerkte, daß sie offensichtlich Mitarbeiter eines westlichen Geheimdienstes sein mußten. (Q31) Sie unterhielten sich über Ost-West-Probleme und führten ein eigentlich ganz entspanntes Gespräch. Aber dem Professor war klar, daß niemand etwas von diesem Gespräch erfahren durfte, denn allein nur diese eine Unterredung hätte der StaSi genügt, aus Frucht einen gefährlichen Spion zu machen. Es war also völlig egal, ob er das Treffen auf der Stelle beendete, oder es im weiteren Verlauf dazu nutzte, sich ein wenig über den Westen zu informieren. Es wurde vereinbart, daß zur Fortsetzung der Zusammenarbeit Professor Frucht in der folgenden Zeit öfters "herüberkommen" sollte, um seine Einschätzungen zur Entwicklung der beiden deutschen Staaten zu geben. Damit war Professor Frucht bereits ein Spion im Sinne der StaSi und er mußte von da an enorm auf der Hut sein, um nicht in die Fänge von Mielkes Machtapparat zu gelangen. Es war ihm zu der Zeit noch nicht klar, welcher Geheimdienst eigentlich Kontakt mit ihm aufgenommen hatte. Inzwischen ist nach Einsicht in seine StaSi-Akte bekannt, daß es damals die CIC war, die Professor Frucht anwarb.

Zu dieser Organisation möchte ich hier noch einige erklärende Worte verlieren: Die CIC stand damals schon im Schatten der in Amerika übermächtigen CIA, die alle großen Fälle wie ein Staubsauger aufsammelte. Für die kleineren Gruppen, wie die CIC, blieb dann nur das "Tagesgeschäft" der gewöhnlichen Spionage und Personenüberprüfung. Die CIC sollte lediglich Informationen über Menschen sammeln, die aus der DDR auswanderten, um aus ihnen eventuelle StaSi-Spitzel herausfiltern zu können. Weiterhin wollte die CIC (Counter Intelligence Corps) subversive Tendenzen in der Armee oder bei wichtigen Leuten erkennen um eine Unterwanderung von Institutionen durch östliche Spitzel zu verhindern. Eine einfache Kontaktperson, wie viele andere, sollte Professor Frucht sein. Diese Verbindung zum Geheimdienst hatte also nichts mit der Form von Spionage zu tun, die man sich landläufig unter dem Begriff vorstellt und genauso wenig mit dem Zweck, für den sie zu späterem Zeitpunkt noch dienen sollte. (Anm.7)

Die erste Phase der Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst

Die ersten Kontakte wurden im Februar 1958 hergestellt. Professor Frucht lieferte dem CIC zunächst nur manchmal Informationen über ausreisewillige Wissenschaftler und Personen, die in den Westen gegangen waren. Mit der Zeit aber erkannte der Geheimdienst, daß Professor Frucht "viel zu wertvoll" (Q32) war, um ihn nur nach relativ banalen Dingen zu fragen. Und so häuften sich mit der Zeit Anfragen, über wissenschaftliche Insiderinformationen und andere Dinge, die Professor Frucht nicht bereit war, preiszugeben. Da die Wünsche der Amerikaner aber immer unsinniger wurden (sie wollten ihn u. a. als Boten für ihre Agenten verwenden), und sie Themen, die Professor Frucht für das Zusammenleben der Ost- und Westdeutschen für wichtig hielt, wenig Bedeutung schenkten, ließ der Professor die Treffen einschlafen. Sie waren in dieser Zeit nur noch eine Belastung für ihn. Auch die finanzielle Ausbeute seiner Tätigkeit war miserabel, sie wurde ihm nämlich kaum bezahlt. Er erhielt lediglich einige kostenlos besorgte westliche Zeitungen und Publikationen, die er für seine wissenschaftliche Arbeit benötigte, sowie etwas Geld, das über seinen Neffen Malte Heygster für die im Westen lebende Familie von Professor Fruchts erster Frau auf ein Konto überwiesen wurde. (Q33)

Die zweite Phase der Zusammenarbeit

Das Leben in Berlin erfuhr durch den Mauerbau am 13.08.61 einen jähen Einschnitt. Konnten sich die Menschen bis zu dieser Zeit ohne Probleme zwischen den vier Zonen bewegen, fand dies nun ein plötzliches Ende. Professor Frucht erhielt als Bürger des Ostsektors keine Möglichkeit mehr, in den Westteil der Stadt zu gelangen. Dennoch versuchten die Geheimdienste nach wie vor, Kontakte zu "Ostbürgern" aufrechtzuerhalten. Damit ein Informationsaustausch auch weiterhin möglich war, mußte eine westliche Kontaktperson gefunden werden, die mit Hilfe eines Tagesvisums nach Ost-Berlin einreisen konnte und Nachrichten überbringen konnte.
Den Kontakt zum CIA und CIC hielt Professor Frucht schon früher durch seinen Neffen Malte Heygster aufrecht, der ihm als Kurier diente. Malte war deshalb aus Fruchts familiärem Umfeld am besten für diese Aufgabe geeignet, weil er zusammen mit seinem Onkel musizierte und ihn deshalb auch schon früher recht häufig besucht hatte. Somit war es möglich, eine Vielzahl von Treffen abzuhalten, ohne daß jemand dabei etwas Außergewöhnliches hätte finden können. Da Malte Heygster (der damals etwa 20 Jahre alt war) zu der Zeit in Köln wohnte, hatte dies zur Folge, daß er, wenn er seinen Onkel besuchen wollte, immer die Zonengrenze überqueren mußte und somit gut zum Transport von Nachrichten zwischen Prof. Frucht und den Amerikanern geeignet war. Der Kurier mußte, um für seine Aufgabe als geeignet anerkannt zu werden, eine Ausbildung des amerikanischen Geheimdienstes machen, die ihn im Anlegen "Toter Briefkästen", dem Abschütteln von Verfolgern, der Verschlüsselung von Nachrichten und anderen für einen jungen Mann sehr aufregenden Tätigkeiten unterrichtete. Er wurde einem Test mit Lügendetektor unterzogen, um auf seine Tauglichkeit für das Unternehmen hin überprüft werden. Der Test war zunächst negativ und er wurde zurückgewiesen. Doch auf Maltes Drängen hin bekam er schließlich doch noch seine Chance. Er verriet mir in einem Gespräch, er habe sich damals "wie James Bond gefühlt", der damals ein bekannter Volksheld war. Seine Begeisterung für die spannende "Spionagearbeit" muß auch seinen Onkel angesteckt haben, wenn man erfährt, daß die beiden "Abenteurer" des öfteren in den Wald gegangen sind, um aus Spaß tote Briefkästen anzulegen, die niemals wieder gebraucht wurden. (Q34)

Auch wenn bis zum Bau der Mauer keine wichtigen Informationen die Zonengrenze passierten, so war es doch wichtig, daß Professor Frucht zu dieser Zeit schon ein Weg zur Nachrichtenübermittlung zur Verfügung stand und ihm die Deckadressen des Geheimdienstes bekannt waren und er so jederzeit einen neuen Kontakt herstellen konnte. Die ganze Aktion war ein ständiges Hin und Her, wie mir Malte Heygster sagte - immer wieder unterbrach Professor Frucht den Kontakt, wenn die Amerikaner wieder ihm unwichtig erscheinende Dinge verlangt hatten.

Nur wenn Professor Frucht humanitäre Probleme sah, intensivierte sich die Zusammenarbeit wieder. Wenn sie auch in der Phase nach dem Mauerbau häufig sehr unbefriedigend für den Wissenschaftler war (er fühlte sich von den Amerikanern häufig nicht richtig verstanden) (Q35), erwuchsen daraus aber auch große humanitäre Erfolge, für die ausschließlich Professor Fruchts Engagement und seine Hilfsbereitschaft verantwortlich waren: Da es in der DDR keine Penicillinkulturen gab, waren viele für uns banale Erkrankungen dort nur sehr schwer zu therapieren. Professor Frucht nutzte seine Westkontakte und ließ sich von einem Freund aus Amerika (der hatte nichts mit einem Geheimdienst zu tun) einige Penicillin-Kulturen übermitteln, die er an eine Pharmafirma der DDR weitergab. Sozusagen im Gegenzug schickte er einige Ampullen mit einem neuartigen Polio-Impfstoff (Kinderlähmung) in den Westen. Zu der Zeit war die Kinderlähmung ein ernstes Problem in Deutschland und dem Rest der westlichen Welt. Doch in den kommunistischen Ländern war sie fast "ausgerottet", da Wissenschaftler hier einen sehr wirksamen Impfstoff gefunden hatten. Diesen Impfstoff schickte Professor Frucht in den Westen, und so hatten die Menschen von seiner "konspirativen Tätigkeit" wieder einmal profitiert. Dies war die einzige Art von Kontakt zum CIC, die Professor Frucht für sinnvoll hielt. Zu einem bloßen Hin- und Herschieben von unwichtigen Nachrichten ließ er sich aber nicht benutzen, so daß die Kontakte zu den Geheimdiensten bald wieder einschliefen.

Die CIA forderte immer wieder, daß Malte wichtige Briefe an ihre Profispione zustellte oder Professor Frucht irgendwelche ihm völlig unwichtig erscheinende Kleinigkeiten herausfinden sollte. Diese Art von Geheimdienstarbeit brachte Professor Frucht einige Probleme, denn sie gefährdeten seine Stellung in der DDR erheblich, ohne daß er das Gefühl hatte, hier etwas Sinnvolles helfen zu können. Er hatte sich immer gewünscht, selbst die Ausmaße seiner Forschungen (er selbst mochte es nicht, wenn man seine Tätigkeit als Spionage bezeichnete) bestimmen zu können. Er fürchtete, daß er sonst von den Amerikanern für Himmelfahrtskommandos ausgenutzt werden würde. Das Schmuggeln von Briefen war ungefähr als so etwas zu bezeichnen, denn man wurde an der Grenze auch als "Westler" fast immer kontrolliert und das Risiko, beim Schmuggeln von Briefen ertappt zu werden, war extrem hoch. Professor Frucht ließ dem CIA darauf durch seinen Kurier ausrichten, er stünde für eine derartig unsinnige Zusammenarbeit, nicht länger zur Verfügung.

Dritte Phase der Zusammenarbeit, Preisgabe des "Alaska-Plans"

Professor Frucht hatte in den 50er Jahren den Auftrag erhalten, ein Institut für angewandte Physiologie aufzubauen. Da er durch seine umfangreiche westliche Verwandtschaft immer als geheimdienstlich suspekt galt, befaßte er sich in seinem Institut ausschließlich mit der unmilitärischen Anwendungen der Physiologie (z.B. Atemtests im Schlaf, bei Belastung, körperliche Leistungssteigerung beim Sport, Entsorgung von radioaktivem Müll u ä.). Er hatte zusammen mit seinem Mitarbeiter, Dr. F. Kössler, außerdem eine Methode entwickelt, mit der es möglich war, die Toxizität von Zellgiften quantitativ zu messen. Sie fanden heraus, daß es "Leuchtbakterien" gab, deren Leuchtintensität gleichmäßig abnahm, je höher die Giftigkeit eines Stoffes für den Organismus war. Frucht entwickelte anhand seiner neugewonnenen Erkenntnisse ein sogenanntes "Bioluminiszenzmeßgerät", das mit Hilfe einer Photozelle die Leuchtintensität eines Stoffes messen konnte, sie daraufhin mit dem für das Reifestadium der Bakterienpopulation typischen Wert verglich und den Unterschied der beiden Werte anzeigte. Es war mit den Ergebnissen dieses Geräts möglich, die Toxizität von chemischen Stoffen an Organismen erstmals vor Ort und in viel kürzerer Zeit zu messen, als dies mit anderen zu der Zeit bekannten Methoden möglich gewesen wäre. Die Forschung mit den Leuchtbakterien war ursprünglich nur für die normale medizinische Forschung gedacht. Dieses Gerät interessierte jetzt allerdings die Militärfunktionäre des Ostblockes auf ein Mal brennend, weil es ihnen die Möglichkeit gab, die Giftstoffkonzentration und Gefährlichkeit einer chemischen Waffe in der Luft so genau, schnell und einfach zu messen, wie die elektrische Spannung auf einer Stromleitung. So war es nicht verwunderlich, daß sich in der Folgezeit große Militärfunktionäre mit Professor Frucht und seinen Forschungsergebnissen beschäftigten. Ein führender Militärfunktionär der DDR, General Gestewitz, war von Professor Fruchts wissenschaftlicher Klasse offenbar so angetan, daß er (obwohl bereits der Verdacht der Spionage gegen Frucht bestand) öfters mit ihm über militärische Probleme diskutierte. Eines Tages erzählte er Professor Frucht: "Wir haben jetzt was Neues. Und wir haben auch noch was für in der Kälte". (Q36) In diesem Gespräch mit dem General erfuhr der Wissenschaftler, daß die DDR für die Sowjetunion ein neues Kampfgas entwickelt hatte, das auch bei Temperaturen von -50 C noch eine hochtoxische Wirkung haben sollte. Dies war zur damaligen Zeit etwas völlig Neuartiges. Professor Frucht erschrak, denn er, "ein blitzschnell und sehr großräumig denkender Mensch" (Q37), erkannte sofort die Tragweite der Entdeckung des Kampfstoffes. Im Verlauf seiner Forschungen zur Fertigung des ersten "Biolumineszenztesters" hatte er erkannt, wie wertlos Gasmasken in der Kälte sind, weil ihre Filter schnell durch gefrierenden Wasserdampf aus der Atemluft zugesetzt werden. Die Kenntnis über ein Gift, das auch bei diesen Temperaturen noch selbst über die Haut absorbiert werden konnte, rief bei ihm große Besorgnis hervor.

Ihm war sofort klar, daß er nicht die Möglichkeit haben würde, mit irgendjemand über die Angelegenheit zu sprechen - er mußte selbst handeln, wenn er einen möglichen Krieg verhindern wollte. Innerhalb der DDR war seine Inforamtion jedoch wertlos, er mußte sie irgendwie hinausschleusen, nachdem er so viele Details wie möglich über das neue Gas und den mit ihm verbundenen Plan gesammelt hatte. Dies erwies sich als ein schwieriges Unternehmen, denn er konnte als Leiter eines zur Zusammenarbeit mit dem Miltiär nicht befugten Institutes nicht einfach bei offiziellen Quellen Informationen einholen und zudem hätte ein allzugroßes Interesse an der Sache für Verdachtsmomente gesorgt. Professor Frucht versuchte, über seinen Neffen Malte Heygster einen Kontakt zu Agenten der CIA aufzubauen, doch hatten die inzwischen herausgefunden, daß Malte eine Freundin hatte, die Kommunistin war und weil Malte auch noch Student war, hielten sie ihn für einen Spitzel. (Anm.8) Nachdem er mehrfach auf sich aufmerksam gemacht hatte und keine Antwort bekam, wandte Malte sich direkt an die US-Mission in West-Berlin und erwirkte, daß sich die CIA später in Köln bei ihm meldete. Daraufhin besuchte er seinen Onkel in Berlin um Genaues über den neuen Kampstoff und den "Alaska Plan" zu erfahren. Dieses Wissen gab der Kurier an den CIA weiter. Die Reaktion der Amerikaner war kurios: "Sie erklärten rundheraus, daß er ihnen Lügen erzählte und daß er überhaupt nicht wissen könne, was er zu wissen vorgab. (...) Sie gaben ihm praktisch zu verstehen, daß er sie nicht länger belästigen möge. Diese Reaktion festigte nur Fruchts Entschlossenheit, nicht aufzugeben." (Q38) Erst als Professor Frucht ihnen eine Reihe von detailierten Informationen über konventionelle Kampfstoffe lieferte, begriffen sie, daß er nicht bluffte.
Im Frühjahr des Jahres 1967 fand in Professor Fruchts Institut in Berlin Lichtenberg eine Testserie mit chemischen Kampfstoffen statt, die zur Überprüfung der Leistungsfähigkeit des "Bioluminiszenztestverfahrens" von Professor Frucht und Dr. Kössler dienen sollte. Hierzu kam Herr Dr. Rausch, ein junger Chemiker der NVA nach Berlin ins Institut um die Versuche dort mit den von ihm mitgebrachten chemischen Kampfstoffen durchzuführen. Frucht war bei dieser Testreihe nicht anwesend, traf jedoch später ein und befrage Herrn Dr. Rausch in einem anschließenden fachlichen Gespräch über die Eigenschaften der soeben überprüften Stoffe, von denen er einen für den Kältekampfstoff hielt. Unmittelbar nachdem ihre Unterredung beendet war, begann der Professor, die gerade erhaltenen Informationen in einem Brief an den CIA festzuhalten. Diesen gab er daraufhin seinem Neffen Malte Heygster mit, der ihn in einer Socke versteckt über die Zonengrenze schmuggelte. Daß dies mehr als riskant war, braucht nicht erwähnt zu werden, denn Leibesvisitationen waren bei den strengen Grenzkontrollen üblich. Jedoch wollte Professor Frucht dieses Risiko auf sich nehmen, um eine Ausführung des "Alaska-Planes" zu verhindern.

Entscheidend für Professor Fruchts weiteres Verhalten in dieser Sache war nicht nur die bloße Existenz dieses Stoffes (auch wenn der Besitz inzwischen durch internationale Vereinbarung verboten war), sondern viel mehr das Wissen um den mörderischen Plan, der sich mit der modernen Waffe verband: Die Amerikaner hatten ein Radar-Frühwarnsystem, das Flugkörper von der Größe eines Fußballs noch über tausend Kilometer orten, ihre Bahn vorausberechnen und die Abschußstelle exakt ermitteln konnte. Diese Frühwarnstation befand sich in Alaska, weit weg von jeder Zivilisation. Wenn es den Sowjets gelungen wäre, die Besatzung dieser Anlage mit kälteunempfindlichem Kampfgas binnen Minuten lahmzulegen, hätte es ihnen die Möglichkeit eröffnet, mit einem gezielten Atomangriff, das Ringen um die Spitzenposition der Supermächte mit einem Schlag gegen das auf diese Art wehrlos gemachte Amerika zu gewinnen. (Q39)

Dieser Plan klingt im ersten Moment unwahrscheinlich und mutet unglaublich an. Doch wenn man weiß, daß zur Lösung des Berlin-Konfliktes auch schon der Einsatz nuklearer Waffen diskutiert wurde (siehe Abschnitt Kuba-Krise) und berücksichtigt, daß sich dieser "Alaska Plan" in einer der hektischsten Phasen des Kalten Krieges abspielte, so kann man Fruchts Besorgnis um den Weltfrieden verstehen. Nachdem er in vielen gezielten Gesprächen Bestätigung in der These der tatsächlichen Gefahr fand, suchte der Professor voller Besorgnis den Kontakt zum CIA. Er gab seine konkreten Informationen und die Formel des neuen Kampfstoffes, zusammen mit einer Bauanleitung für ein neues von ihm erfundenes Frühwarnsystem für Giftgase, den "Bioluminiszenztester" an die Amerikaner weiter. Auch wenn die Welt äußerlich nicht viel davon merkte, so löste Fruchts "Tat" doch eine wahre Flut von Tests und Forschungen auf westlicher Seite aus und es dauerte nicht lange, bis die Radarstation in Alaska mit den neuesten Schutzmechanismen gegen chemische Kampfstoffe ausgestattet wurde. Der "Bioluminiszenztester" der von Dr. Kössler und Professor Frucht entwickelt worden war, wurde noch 1966 in den USA patentiert und ist auch heute noch das gebräuchliche DIN-Verfahren beim Aufspüren und bei der Bewertung der Toxizität von Giftstoffen.

Die Antwort auf die Frage, wie der Wissenschaftler an diese Informationen über das Gas und seinen Einsatzplan kam, ist verblüffend, wenn man sieht, wie einfach er diese Geheimnisse erfuhr: Nicht er besorgte sie sich, sondern sie wurden ihm unaufgefordert in mehreren Gesprächen mit verschiedenen Personen ganz beiläufig mitgeteilt. Die Theorie, die Sowjets wollten die Radarkette in Alaska ausschalten, stammte von Professor Frucht selbst. Er hatte sie sich aus verschiedenen beiläufigen Bemerkungen von General Gestewitz und anderen wichtigen Militärs selbst "zusammengepuzzelt". So abwegig war seine Vermutung nicht - ein solcher Plan hätte tatsächlich funktionieren können, auch wenn die Experten heute noch in einem endlosen Hin-Und-Her darüber streiten. (Anm.9) Professor Frucht war übrigens nicht nur die Formel des neuen Gases bekannt, er hatte sogar eine größere Menge der Substanz davon in seinem Büro vorrätig. Der NVA-Militärchemiker (Dr. Rausch) hatte ihm das tödliche Nervengift in einer Glasflasche mit Schraubverschluß zu Versuchszwecken gebracht und es lagerte seither in Professor Fruchts Büro, weil er es nicht entsorgen konnte und sich außerdem geweigert hatte, alleine weitere Versuche mit dem "Teufelszeug" durchzuführen. Zudem durfte keiner seiner Mitarbeiter wissen, welche brisante Substanz dort unbewacht in seinem Schrank lag. Die Flaschen mit den Giftproben wurden erst abgeholt nachdem der Professor nach seiner Verhaftung ausdrücklich und intensiv darum gebeten hatte.

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