Im Fall von Professor Frucht war keine lange Vorausplanung erforderlich, denn er stellte den Kontakt gar nicht selbst her, sondern alles wurde durch einen seiner Bekannten in die Wege geleitet. Professor Frucht war damals Berater der sportärztlichen Beratungsstelle in Ostberlin. Er hatte sich einige Male mit dessen Leiter, Dr. Nitz, darüber unterhalten, daß durch die gezielte Abwerbung von Akademikern der Osten stark an Fachleuten verarmte und sie redeten öfters über Ursachen der politischen Spannungen, die in Berlin deutlich spürbar waren. Eines Tages bot Dr. Nitz an, ihn mit Leuten in Westberlin bekannt zu machen, die sich mit politischen Fragen und Flüchtlingsangelegenheiten befaßten. Er stellte in Aussicht, daß Professor Fruchts Argumente hier sicherlich gehört und gewürdigt würden. So kam es, daß die beiden Ärzte eines Tages in einer Bar in der Westberliner Uhlandstraße mit zwei Männern zusammentrafen, denen Professor Frucht aber wegen ihres auffälligen Verhaltens schon sehr bald anmerkte, daß sie offensichtlich Mitarbeiter eines westlichen Geheimdienstes sein mußten. (Q31) Sie unterhielten sich über Ost-West-Probleme und führten ein eigentlich ganz entspanntes Gespräch. Aber dem Professor war klar, daß niemand etwas von diesem Gespräch erfahren durfte, denn allein nur diese eine Unterredung hätte der StaSi genügt, aus Frucht einen gefährlichen Spion zu machen. Es war also völlig egal, ob er das Treffen auf der Stelle beendete, oder es im weiteren Verlauf dazu nutzte, sich ein wenig über den Westen zu informieren. Es wurde vereinbart, daß zur Fortsetzung der Zusammenarbeit Professor Frucht in der folgenden Zeit öfters "herüberkommen" sollte, um seine Einschätzungen zur Entwicklung der beiden deutschen Staaten zu geben. Damit war Professor Frucht bereits ein Spion im Sinne der StaSi und er mußte von da an enorm auf der Hut sein, um nicht in die Fänge von Mielkes Machtapparat zu gelangen. Es war ihm zu der Zeit noch nicht klar, welcher Geheimdienst eigentlich Kontakt mit ihm aufgenommen hatte. Inzwischen ist nach Einsicht in seine StaSi-Akte bekannt, daß es damals die CIC war, die Professor Frucht anwarb.
Zu dieser Organisation möchte ich hier noch einige erklärende Worte verlieren: Die CIC stand damals schon im Schatten der in Amerika übermächtigen CIA, die alle großen Fälle wie ein Staubsauger aufsammelte. Für die kleineren Gruppen, wie die CIC, blieb dann nur das "Tagesgeschäft" der gewöhnlichen Spionage und Personenüberprüfung. Die CIC sollte lediglich Informationen über Menschen sammeln, die aus der DDR auswanderten, um aus ihnen eventuelle StaSi-Spitzel herausfiltern zu können. Weiterhin wollte die CIC (Counter Intelligence Corps) subversive Tendenzen in der Armee oder bei wichtigen Leuten erkennen um eine Unterwanderung von Institutionen durch östliche Spitzel zu verhindern. Eine einfache Kontaktperson, wie viele andere, sollte Professor Frucht sein. Diese Verbindung zum Geheimdienst hatte also nichts mit der Form von Spionage zu tun, die man sich landläufig unter dem Begriff vorstellt und genauso wenig mit dem Zweck, für den sie zu späterem Zeitpunkt noch dienen sollte. (Anm.7)
Auch wenn bis zum Bau der Mauer keine wichtigen Informationen die Zonengrenze passierten, so war es doch wichtig, daß Professor Frucht zu dieser Zeit schon ein Weg zur Nachrichtenübermittlung zur Verfügung stand und ihm die Deckadressen des Geheimdienstes bekannt waren und er so jederzeit einen neuen Kontakt herstellen konnte. Die ganze Aktion war ein ständiges Hin und Her, wie mir Malte Heygster sagte - immer wieder unterbrach Professor Frucht den Kontakt, wenn die Amerikaner wieder ihm unwichtig erscheinende Dinge verlangt hatten.
Nur wenn Professor Frucht humanitäre Probleme sah, intensivierte sich die Zusammenarbeit wieder. Wenn sie auch in der Phase nach dem Mauerbau häufig sehr unbefriedigend für den Wissenschaftler war (er fühlte sich von den Amerikanern häufig nicht richtig verstanden) (Q35), erwuchsen daraus aber auch große humanitäre Erfolge, für die ausschließlich Professor Fruchts Engagement und seine Hilfsbereitschaft verantwortlich waren: Da es in der DDR keine Penicillinkulturen gab, waren viele für uns banale Erkrankungen dort nur sehr schwer zu therapieren. Professor Frucht nutzte seine Westkontakte und ließ sich von einem Freund aus Amerika (der hatte nichts mit einem Geheimdienst zu tun) einige Penicillin-Kulturen übermitteln, die er an eine Pharmafirma der DDR weitergab. Sozusagen im Gegenzug schickte er einige Ampullen mit einem neuartigen Polio-Impfstoff (Kinderlähmung) in den Westen. Zu der Zeit war die Kinderlähmung ein ernstes Problem in Deutschland und dem Rest der westlichen Welt. Doch in den kommunistischen Ländern war sie fast "ausgerottet", da Wissenschaftler hier einen sehr wirksamen Impfstoff gefunden hatten. Diesen Impfstoff schickte Professor Frucht in den Westen, und so hatten die Menschen von seiner "konspirativen Tätigkeit" wieder einmal profitiert. Dies war die einzige Art von Kontakt zum CIC, die Professor Frucht für sinnvoll hielt. Zu einem bloßen Hin- und Herschieben von unwichtigen Nachrichten ließ er sich aber nicht benutzen, so daß die Kontakte zu den Geheimdiensten bald wieder einschliefen.
Die CIA forderte immer wieder, daß Malte wichtige Briefe an ihre Profispione zustellte oder Professor Frucht irgendwelche ihm völlig unwichtig erscheinende Kleinigkeiten herausfinden sollte. Diese Art von Geheimdienstarbeit brachte Professor Frucht einige Probleme, denn sie gefährdeten seine Stellung in der DDR erheblich, ohne daß er das Gefühl hatte, hier etwas Sinnvolles helfen zu können. Er hatte sich immer gewünscht, selbst die Ausmaße seiner Forschungen (er selbst mochte es nicht, wenn man seine Tätigkeit als Spionage bezeichnete) bestimmen zu können. Er fürchtete, daß er sonst von den Amerikanern für Himmelfahrtskommandos ausgenutzt werden würde. Das Schmuggeln von Briefen war ungefähr als so etwas zu bezeichnen, denn man wurde an der Grenze auch als "Westler" fast immer kontrolliert und das Risiko, beim Schmuggeln von Briefen ertappt zu werden, war extrem hoch. Professor Frucht ließ dem CIA darauf durch seinen Kurier ausrichten, er stünde für eine derartig unsinnige Zusammenarbeit, nicht länger zur Verfügung.
Ihm war sofort klar, daß er nicht die Möglichkeit haben würde, mit irgendjemand über die
Angelegenheit zu sprechen - er mußte selbst handeln, wenn er einen möglichen Krieg verhindern
wollte. Innerhalb der DDR war seine Inforamtion jedoch wertlos, er mußte sie irgendwie
hinausschleusen, nachdem er so viele Details wie möglich über das neue Gas und den mit ihm
verbundenen Plan gesammelt hatte. Dies erwies sich als ein schwieriges Unternehmen, denn
er konnte als Leiter eines zur Zusammenarbeit mit dem Miltiär nicht befugten Institutes nicht
einfach bei offiziellen Quellen Informationen einholen und zudem hätte ein allzugroßes
Interesse an der Sache für Verdachtsmomente gesorgt. Professor Frucht versuchte, über seinen
Neffen Malte Heygster einen Kontakt zu Agenten der CIA aufzubauen, doch hatten die inzwischen
herausgefunden, daß Malte eine Freundin hatte, die Kommunistin war und weil Malte auch noch
Student war, hielten sie ihn für einen Spitzel. (Anm.8)
Nachdem er mehrfach auf sich aufmerksam gemacht hatte und keine Antwort bekam, wandte Malte
sich direkt an die US-Mission in West-Berlin und erwirkte, daß sich die CIA später in Köln
bei ihm meldete. Daraufhin besuchte er seinen Onkel in Berlin um Genaues über den neuen Kampstoff und den "Alaska Plan" zu erfahren. Dieses Wissen gab der Kurier
an den CIA weiter. Die Reaktion der Amerikaner war kurios:
"Sie erklärten rundheraus, daß er ihnen Lügen erzählte und daß er überhaupt nicht wissen könne,
was er zu wissen vorgab. (...) Sie gaben ihm praktisch zu verstehen, daß er sie nicht länger
belästigen möge. Diese Reaktion festigte nur Fruchts Entschlossenheit, nicht aufzugeben." (Q38)
Erst als Professor Frucht ihnen eine Reihe von detailierten Informationen über konventionelle
Kampfstoffe lieferte, begriffen sie, daß er nicht bluffte.
Im Frühjahr des Jahres 1967 fand in Professor Fruchts Institut in Berlin Lichtenberg eine
Testserie mit chemischen Kampfstoffen statt, die zur Überprüfung der Leistungsfähigkeit
des "Bioluminiszenztestverfahrens" von Professor Frucht und Dr. Kössler dienen sollte.
Hierzu kam Herr Dr. Rausch, ein junger Chemiker der NVA nach Berlin ins Institut um die Versuche dort mit den von ihm mitgebrachten chemischen Kampfstoffen
durchzuführen. Frucht war bei dieser Testreihe nicht anwesend, traf jedoch später ein und
befrage Herrn Dr. Rausch in einem anschließenden fachlichen Gespräch über die Eigenschaften
der soeben überprüften Stoffe, von denen er einen für den Kältekampfstoff hielt. Unmittelbar nachdem ihre Unterredung beendet war, begann der Professor, die gerade erhaltenen
Informationen in einem Brief an den CIA festzuhalten. Diesen gab er daraufhin seinem Neffen
Malte Heygster mit, der ihn in einer Socke versteckt über die Zonengrenze schmuggelte. Daß dies
mehr als riskant war, braucht nicht erwähnt zu werden, denn Leibesvisitationen waren bei den
strengen Grenzkontrollen üblich. Jedoch wollte Professor Frucht dieses Risiko auf sich nehmen,
um eine Ausführung des "Alaska-Planes" zu verhindern.
Entscheidend für Professor Fruchts weiteres Verhalten in dieser Sache war nicht nur die bloße Existenz dieses Stoffes (auch wenn der Besitz inzwischen durch internationale Vereinbarung verboten war), sondern viel mehr das Wissen um den mörderischen Plan, der sich mit der modernen Waffe verband: Die Amerikaner hatten ein Radar-Frühwarnsystem, das Flugkörper von der Größe eines Fußballs noch über tausend Kilometer orten, ihre Bahn vorausberechnen und die Abschußstelle exakt ermitteln konnte. Diese Frühwarnstation befand sich in Alaska, weit weg von jeder Zivilisation. Wenn es den Sowjets gelungen wäre, die Besatzung dieser Anlage mit kälteunempfindlichem Kampfgas binnen Minuten lahmzulegen, hätte es ihnen die Möglichkeit eröffnet, mit einem gezielten Atomangriff, das Ringen um die Spitzenposition der Supermächte mit einem Schlag gegen das auf diese Art wehrlos gemachte Amerika zu gewinnen. (Q39)
Dieser Plan klingt im ersten Moment unwahrscheinlich und mutet unglaublich an. Doch wenn man weiß, daß zur Lösung des Berlin-Konfliktes auch schon der Einsatz nuklearer Waffen diskutiert wurde (siehe Abschnitt Kuba-Krise) und berücksichtigt, daß sich dieser "Alaska Plan" in einer der hektischsten Phasen des Kalten Krieges abspielte, so kann man Fruchts Besorgnis um den Weltfrieden verstehen. Nachdem er in vielen gezielten Gesprächen Bestätigung in der These der tatsächlichen Gefahr fand, suchte der Professor voller Besorgnis den Kontakt zum CIA. Er gab seine konkreten Informationen und die Formel des neuen Kampfstoffes, zusammen mit einer Bauanleitung für ein neues von ihm erfundenes Frühwarnsystem für Giftgase, den "Bioluminiszenztester" an die Amerikaner weiter. Auch wenn die Welt äußerlich nicht viel davon merkte, so löste Fruchts "Tat" doch eine wahre Flut von Tests und Forschungen auf westlicher Seite aus und es dauerte nicht lange, bis die Radarstation in Alaska mit den neuesten Schutzmechanismen gegen chemische Kampfstoffe ausgestattet wurde. Der "Bioluminiszenztester" der von Dr. Kössler und Professor Frucht entwickelt worden war, wurde noch 1966 in den USA patentiert und ist auch heute noch das gebräuchliche DIN-Verfahren beim Aufspüren und bei der Bewertung der Toxizität von Giftstoffen.
Die Antwort auf die Frage, wie der Wissenschaftler an diese Informationen über das Gas und seinen Einsatzplan kam, ist verblüffend, wenn man sieht, wie einfach er diese Geheimnisse erfuhr: Nicht er besorgte sie sich, sondern sie wurden ihm unaufgefordert in mehreren Gesprächen mit verschiedenen Personen ganz beiläufig mitgeteilt. Die Theorie, die Sowjets wollten die Radarkette in Alaska ausschalten, stammte von Professor Frucht selbst. Er hatte sie sich aus verschiedenen beiläufigen Bemerkungen von General Gestewitz und anderen wichtigen Militärs selbst "zusammengepuzzelt". So abwegig war seine Vermutung nicht - ein solcher Plan hätte tatsächlich funktionieren können, auch wenn die Experten heute noch in einem endlosen Hin-Und-Her darüber streiten. (Anm.9) Professor Frucht war übrigens nicht nur die Formel des neuen Gases bekannt, er hatte sogar eine größere Menge der Substanz davon in seinem Büro vorrätig. Der NVA-Militärchemiker (Dr. Rausch) hatte ihm das tödliche Nervengift in einer Glasflasche mit Schraubverschluß zu Versuchszwecken gebracht und es lagerte seither in Professor Fruchts Büro, weil er es nicht entsorgen konnte und sich außerdem geweigert hatte, alleine weitere Versuche mit dem "Teufelszeug" durchzuführen. Zudem durfte keiner seiner Mitarbeiter wissen, welche brisante Substanz dort unbewacht in seinem Schrank lag. Die Flaschen mit den Giftproben wurden erst abgeholt nachdem der Professor nach seiner Verhaftung ausdrücklich und intensiv darum gebeten hatte.