Archäologie des Ersten Weltkriegs – Ein
neues Forschungsgebiet
Die archäologische Erforschung der jüngeren Vergangenheit
ist eines der neusten Gebiete der Präventivarchäologie.
Sie geht auf die späten 1980er Jahren zurück, als in
den nordfranzösischen Departments Picardie und Champagne-Ardennes
umfangreiche Ausbauvorhaben am Autobahn- und Eisenbahnnetz durchgeführt
wurden. Damit eröffnete sich der archäologischen Forschung
ein völlig neues, weit gespanntes Feld, denn Nord- und Ostfrankreich
waren die Schauplätze vieler Schlachten und wurden von den
zahlreichen Frontlinien der verschiedenen Kriegsgegner (Franzosen,
Deutsche, Briten, Kanadier usw.) durchzogen. Die archäologische
Forschung hatte die Zeugnisse dieser Zeit lange vernachlässigt
und sich vorwiegend für weiter zurückliegende Perioden
interessiert. Zudem sind diese militärischen Fundorte aufgrund
der noch zahlreich vorhandenen scharfen Munition nicht ungefährlich.
Deshalb werden Grabungsarbeiten auf den Schlachtfeldern des Ersten
Weltkriegs heute systematisch von Minensuchern begleitet.
Bahnbrechend waren in diesem Zusammenhang die Grabungen von Yves
Desfossés und Alain Jacques auf den Baustellen der Hochgeschwindigkeitstrasse
für den TGV Nord, des Autobahnabschnitts A29 zwischen Amiens
und Saint-Quentin und des Industriegebiets ZAC Actiparc bei Arras.
Sie erbrachten den Beweis für den wissenschaftlichen Nutzen
einer eingehenden archäologischen Untersuchung dieser Fundstätten
aus dem frühen 20. Jahrhundert. Auch der Medienrummel um die
Entdeckung des Grabes von Alain-Fournier im Jahr 1991 (der berühmte
Autor des Romans „Le Grand Meaulnes“ – Der große
Meaulnes – war im September 1914 in der Nähe von Saint-Rémy-la-Calonne
gefallen) trug über die Einsicht in die Notwendigkeit von
Erinnerungsarbeit hinaus wesentlich dazu bei, der Öffentlichkeit
die historische und kulturgeschichtliche Bedeutung dieser vergessenen
Zeugnisse der Vergangenheit bewusst zu machen. In Archäologenkreisen
war die Reaktion auf diese Arbeiten zunächst zwar geteilt.
Jedoch stießen sie einen Reflexionsprozess über das
plötzlich mit einer noch nicht verjährten Geschichte
konfrontierte Forschungsgebiet und die ethischen und emotionalen
Fragen im Zusammenhang mit Funden aus dem Ersten Weltkrieg an.
In Kolloquien und Foren (nacheinander vom Historial de la Grande
Guerre in Péronne, Suippes, Arras und Caen veranstaltet)
diskutierte die Fachwelt dieses neue Herangehen an die Kriegsgeschichte
sowie die zahlreichen wissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen
Erkenntnisse, die aufgrund der Vielzahl der behandelten Themen
gewonnen wurden.
Seit den 1980er Jahren wurde im Elsass, in Lothringen und in den
Vogesen eine große Anzahl an Funden aus dem Ersten Weltkrieg
zutage gefördert, oft von passionierten Hobby-Archäologen.
Seit etwas 15 Jahren werden diese Standorte auch in die Planung
von Präventivgrabungen einbezogen. Im Elsass wurden bei Ausgrabungen
am Schwobenfeld in Geispolsheim (Dep. Bas-Rhin) und am Kilianstollen
in Carspach (Dep. Haut-Rhin) sowie in Sainte-Marie-aux-Mines und
in Schweighouse-Thann neue Fragestellungen aus unterschiedlichen
Fachbereichen untersucht und bewährte Grabungsmethoden an
den Fundstätten des Ersten Weltkriegs erprobt. Dies brachte
neue Erkenntnisse über den Aufbau der Schützengräben
und den Alltag von Frontsoldaten und Nachhut. Bisher wurden im
Elsass und in Lothringen rund 60 Standorte mit Genehmigung und
unter der wissenschaftlichen Aufsicht des Ministeriums für
Kultur und der regionalen archäologischen Behörden sondiert
bzw. ergraben.
Methodologische Vielfalt
Aufgrund von Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Quellen über
den Ersten Weltkrieg mag der Eindruck entstehen, über den
Ablauf der Kampfhandlungen sei so gut wie alles bekannt. Französische
und deutsche Archive, Kartenmaterial, Marschtagebücher sowie
die offiziellen Filme und Fotografien der Armeedienststellen (oder
Soldaten) konstituieren einen ebenso umfangreichen wie detaillierten
Fundus.
Aus einer individuellen und eher gesellschaftlich orientierten
Sicht schildern die Kriegsromane bekannter Schriftsteller (Barbusse,
Genevoix, Dorgelès, Remarque, Jünger u. a.) aber auch
unbekannterer, selbst am Krieg beteiligter Autoren sowie die Tagebücher
und Briefe der Soldaten an ihre Angehörigen den Krieg.
Diese zahlreichen dokumentarischen Quellen will die archäologische
Forschung um eine weitere Perspektive bereichern. In der Tat liefern
die Grabungen völlig neue Informationen und bahnen bisher
nicht berücksichtigten Forschungsgegenständen den Weg,
insbesondere bzgl. des Alltags der Soldaten.
So bringt die systematische Untersuchung der Abfallgruben neue
Erkenntnisse über die Versorgungsbedingungen der Fronteinheiten,
die Herkunft der Produkte anhand der Herstellermarken, die konsumierten
Nahrungsmittel und die landestypischen Besonderheiten. In manchen
Abfallgruben hinter der Front und in Kriegsgefangenenlagern wurden
zahlreiche Überbleibsel von Gegenständen gefunden, die
die Soldaten selbst anfertigten und anhand derer sich die Abläufe
eines diversifizierten „Schützengraben-Handwerks“ nachvollziehen
lassen.
Dank der Einbeziehung verschiedener Fachgebiete in die Forschungsarbeiten
können neue Themenkreise erschlossen (Fossilisationslehre,
Uniformkunde, Parasitologie, Landschaftslehre u. a.) und bewährte
archäologische Methoden an den Fundorten des Ersten Weltkriegs
erprobt und an deren Besonderheiten angepasst werden. Die Vielfalt
der vorgefundenen Materialien (Leder, Papier, Stoff, Metall u.
a.) stellt für die Säuberung und Langzeitkonservierung
der Fundstücke eine große Herausforderung dar.
Bei der Untersuchung von Grabstätten liefern die sehr präzisen
Grabungstechniken wertvolle Hinweise zur Identifizierung von Soldaten,
deren Gräber zufällig gefunden werden. Aus den so gewonnenen
Erkenntnissen können die genauen Todesumstände ermittelt
sowie bisher nicht bekannte Bestattungsarten abgeleitet werden.
Die archäologische Forschung im Ersten Weltkrieg
Ab Ende 1914 wurde der Boden in den Kampfgebieten durch das Ausheben
Tausende Kilometer langer Schützengräben sowie durch
die Einrichtung von Feldbefestigungen und Artilleriestützpunkten
völlig durchwühlt. Auf dem Land und an den Stadträndern
wurden Tausende von Kubikmetern Erde aufgeschüttet. Zwar konnten
Historiker und Archäologen, die in den Krieg führenden
Armeen als Offiziere und Unteroffiziere dienten, eine Reihe von
Beobachtungen anstellen und die wichtigsten Entdeckungen festhalten.
Dennoch wurden bei diesen gigantischen Erdarbeiten im Elsass und
in Lothringen sowie im gesamten Frontgebiet vermutlich zahlreiche
Bodendenkmäler zerstört.
Im Elsass erhielt Robert Forrer, der damalige Leiter des Straßburger
Urgeschichtlichen und gallorömischen Museums, aufgrund der
Neutralität, die ihm seine schweizerische Staatsbürgerschaft
verlieh, und dank seiner höflichen Beziehungen zu den Behörden
einen Passierschein, der es ihm gestattete, das Ausheben der Schützengräben
zu verfolgen und die dabei zutage geförderten archäologischen
Funde zu bergen. Auch in Lothringen wurden mehrere bedeutende Entdeckungen
gemacht. Johann Baptist Keune, der Leiter des Museums von Metz,
betreute die Bergung eines Hercules Saxetanus geweihten römischen
Altars bei Befestigungsarbeiten in Norroy-les-Pont-à-Mousson.
In Varvinay (Dep. Meuse) wurden bei der teilweisen Ergrabung einer „fränkischen“ Nekropole
durch die deutschen Truppen mehrere Steinsarkophage entdeckt. Die
deutschen Behörden nutzten diese Bergungsaktionen geschickt
zu Propagandazwecken und rechterfertigten die Besetzung eines Gebietes,
in dem germanische Gräberfelder gefunden wurden.
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