Natur & Lebensgeschichte
Die Erfahrung von Natur ist erkennbar von der Lebenssituation des lyrischen Ich geprägt. Zuweilen ist es hilfreich, die Lebenssituation des Autors selbst zu kennen und zu berücksichtigen. Dabei ist allerdings immer auch ein vorsichtiger Umgang mit biografischen Daten angebracht.
Es könnte also ertragreich sein, bei den nachfolgenden Gedichten auch die Frage zu behandeln, in welchem Maße sie ihre Aussage aus sich selbst heraus vermitteln und ob es der biografischen Kenntnis überhaupt bedarf.
Vielleicht kann dies in einem Autor-Interview geklärt werden:
Führt ein (natürlich fiktives) Interview mit dem Dichter durch, in welchem ihr ihn über sein vorliegendes Gedicht befragt. Hier sind einige Anregungen:
Sehr geehrter Herr ... / Sehr geehrte Frau ...
wir haben Ihr Gedicht ... aufmerksam gelesen und dabei den Eindruck gewonnen / das Gefühl gehabt, dass...
Es haben sich uns auch einige Fragen gestellt, die ...
- Was bedeutet für Sie Natur?
- Wie drückt sich das in Ihrem Gedicht aus?
- Warum haben Sie das Gedicht „...“ genannt? Warum diese Überschrift?
- Warum haben Sie die Formulierung / das Bild / das Wort „..." verwendet?
- Warum verwenden Sie (k)einen Reim?
- Gibt es ein bevorzugtes sprachliches Mittel, eine poetische Technik, welche Sie ...
- Wollten Sie dem Leser etwas vermitteln, ein Gefühl, eine Erfahrung, eine Hilfe?
- In welcher Lebenslage / Stimmung / In welchem Land befanden Sie sich, als Sie das Gedicht schrieben?
- Was glauben Sie, wie wichtig ist dieser persönliche Hintergrund für den Leser / die Leserin?
Dieses Gedicht von Hermann Hesse mag sich dafür gut eignen:
Hermann Hesse (1877-1962): SCHWARZWALD
Seltsam schöne Hügelfluchten, Dunkle Berge, helle Matten, Rote Felsen, braune Schluchten, überflort von Tannenschatten! Wenn darüber eines Turmes Frommes Läuten mit dem Rauschen Sich vermischt des Tannensturmes, Kann ich lange Stunden lauschen. Dann ergreift wie eine Sage, Nächtlich am Kamin gelesen, Das Gedächtnis mich der Tage Da ich hier zu Haus gewesen. Da die Fernen edler, weicher, Da die tannenforstbekränzten Berge seliger und reicher Mir im Knabenauge glänzten.
Verfasse eine Art Heimatgedicht, in dem Natureindrücke und -erinnerungen aus Deiner Kindheit/Jugend die Hauptrolle spielen.
Verwende dazu das folgende Gerüst. Variiere es nach Belieben, entwickle es weiter und vergiss den Titel nicht!
Überschrift Der Ort / Den Ort / Zu dem Ort an dem ich die ersten Beeren pflückte und / wo / als ... und /... ... und / ... ... ist unendlich weit weg / lebt in meiner Erinnerung fort / existiert gar nicht / ...Fragen zur Ergebnis:
- Fällt es schwer, sich an Natur-Eindrücke zu erinnern?
- Sind es zu viele, zu wenige?
- Erscheinen sie Dir zu unscharf oder klischeehaft?
- Hat Dich dieses Gedankenspiel auch auf positive Weise zum Nachdenken angeregt?
Und jetzt zu den Klassikern, den echten und den modernen:
Johann Wolfgang Goethe Aus dem Tagebuch der Reise in die Schweiz
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Auf dem See
Veröffentlicht 1789. Biografische Informationen: Hamburger Ausgabe Bd.1 München 1974 S. 508.
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An den Mond Füllest wieder s'liebe Tal Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie der Liebsten Auge, mild Über mein Geschick. Das du so beweglich kennst Dieses Herz im Brand, Haltet ihr wie ein Gespenst An den Fluß gebannt, Wenn in öder Winternacht Er vom Tode schwillt Und bei Frühlingslebens Pracht An den Knospen quillt. Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Mann am Busen hält Und mit dem genießt Was den Menschen ungewußt Oder wohl veracht', Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. 1. Fassung. Entstanden zwischen 1776 und 1778 |
An den Mond Spätere Fassung Füllest wieder Busch und Tal, Still mit Nebelglanz, Lösest endlich auch einmal Meine Seele ganz; Breitest über mein Gefild Lindernd deinen Blick, Wie des Freundes Auge mild Über mein Geschick. Jeden Nachklang fühlt mein Herz Froh- und trüber Zeit Wandle zwischen Freud und Schmerz In der Einsamkeit. Fließe, fließe, lieber Fluß! Nimmer werd ich froh, So verrauschte Scherz und Kuß, Und die Treue so. Ich besaß es doch einmal, Was so köstlich ist! Daß man doch zu seiner Qual Nimmer es vergißt! Rausche, Fluß, das Tal entlang, Ohne Rast und Ruh, Rausche, flüstre meinem Sang Melodien zu. Wenn du in der Winternacht Wütend überschwillst, Oder um die Frühlingspracht Junger Knospen quillst. Selig, wer sich vor der Welt Ohne Haß verschließt, Einen Freund am Busen hält Und mit dem genießt, Was, von Menschen nicht gewußt Oder nicht bedacht, Durch das Labyrinth der Brust Wandelt in der Nacht. Biografisches in Hamburger Ausgabe Bd.1 München 1974, S.523f
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„Es gibt zwei Ideale unseres Daseins: einen Zustand der höchsten Einfalt, wo unsre Bedürfnisse mit sich selbst, und mit unsern Kräften, und mit allem, womit wir in Verbindung stehen, durch die bloße Organisation der Natur, ohne unser Zutun, gegenseitig zusammenstimmen, und einen Zustand der höchsten Bildung, wo dasselbe stattfinden würde bei unendlich vervielfältigten und verstärkten Bedürfnissen und Kräften, durch die Organisation, die wir uns selbst zu geben im Stande sind. Die exzentrische Bahn, die der Mensch, im Allgemeinen und Einzelnen, von einem Punkte (der mehr oder weniger reinen Einfalt) zum andern (der mehr oder weniger vollendeten Bildung) durchläuft, scheint sich, nach ihren wesentlichen Richtungen, immer gleich zu sein."
Der Neckar In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf Zum Leben, deine Wellen umspielten mich, Und all der holden Hügel, die dich Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.
Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
Der Berge Quellen eilten hinab zu dir,
Noch dünkt die Welt mir schön, und das Aug entflieht,
Bei Sunium oft landen, den stummen Pfad
Und ihrer Gottesbilder auch dich begräbt,
Die heißen Ufer kühlt und den Lorbeerwald
Wenn sein Granatbaum reift, wenn aus grüner Nacht
Zu euch, ihr Inseln! bringt mich vielleicht, zu euch |
„Hölderlins Gedicht „Der Neckar“ gibt eine Probe vom nichtinstrumentalisierten Umgang mit Natur. Natur ist hier mit der Lebensgeschichte eines Menschen verbunden, so eng verbunden, daß sie zum Bezugspunkt wird, von dem aus man sich die „übrige“ Welt aneignet. Man hat sich mit ihr ausgetauscht, Erfahrungen gemacht, die jetzt die eigene Wahrnehmungsfähigkeit organisieren. Die Konventionen und Beharrlichkeiten, denen das eigene Denken folgt, scheinen in einer Symbiose zu stehen, in einer intimen Beziehung zur Physiognomie der Landschaft. Hölderlin beschreibt so etwas wie eine Sozialisation der Sinne durch die Blicke, die die Landschaft dem Auge gewährt, durch die Klimaeindrücke, Gerüche, Tätigkeiten, die sie dem Menschen zumutet, der in ihr leben und sich erhalten will. In Hölderlins Bilder geht der Reiz von Erfahrngen ein, die nicht aus der Zerstückelung von Natur, sondern aus dem Langzeitexperiment Kindheit hervorgegangen sind, in der das Spiel die entscheidende Lebensform ist. Für die Natur, mit der wir nicht zerstückelnd umgehen, sondern so, daß wir Erfahrungen machen jenseits der ausschließlichen Herrschaft des Nützlichkeitsprinzips, die für unsere Lebensgeschichte wichtig sind, für diese Natur verwenden wir den Begriff Heimat.“ aus: Romantische Gedichte: Natursehnsucht und Liebesleid, ausgewählt und vorgestellt von Lienhard Wawrzyn, Wagenbach Berlin 2002 S. 44
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Bertolt Brecht
Finnische Landschaft
Fischreiche Wässer! Schönbaumige Wälder! Birken- und Beerenduft! Vieltoniger Wind, durchschaukelnd eine Luft So mild, als stünden jene eisernen Milchbehälter Die dort vom weißen Gute rollen, offen! Geruch und Ton und Bild und Sinn verschwimmt. Der Flüchtling sitzt im Erlengrund und nimmt Sein schwieriges Handwerk wieder auf: das Hoffen. Er achtet gut der schöngehäuften Ähre Und starker Kreatur, die sich zum Wasser neigt Doch derer auch, die Korn und Milch nicht nährt. Er fragt die Fähre, die mit Stämmen fährt: Ist dies das Holz, ohn das kein Holzbein wäre? Und sieht ein Volk, das in zwei Sprachen* schweigt. |
Entstanden in Juli 1940
Seit April 1940 - nach Aufenthalten in Frankreich, der Schweiz, Dänemark und Schweden - befand sich Bertolt Brecht im Exil in Finnland, bevor ihm über die Sowjetunion die Ausreise nach Kalifornien gelang. * Die Landessprachen sind Finnisch und Schwedisch. |
Ohne etwas Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.