Naturlyrik Überlegungen und Arbeitsvorschläge

Natur & Lebensgeschichte

Die Erfahrung von Natur ist erkennbar von der Lebenssituation des lyrischen Ich geprägt. Zuweilen ist es hilfreich, die Lebenssituation des Autors selbst zu kennen und zu berücksichtigen. Dabei ist allerdings immer auch ein vorsichtiger Umgang mit biografischen Daten angebracht.
Es könnte also ertragreich sein, bei den nachfolgenden Gedichten auch die Frage zu behandeln, in welchem Maße sie ihre Aussage aus sich selbst heraus vermitteln und ob es der biografischen Kenntnis überhaupt bedarf.

Vielleicht kann dies in einem Autor-Interview geklärt werden:

Führt ein (natürlich fiktives) Interview mit dem Dichter durch, in welchem ihr ihn über sein vorliegendes Gedicht befragt. Hier sind einige Anregungen:

Sehr geehrter Herr ... / Sehr geehrte Frau ...
wir haben Ihr Gedicht ... aufmerksam gelesen und dabei den Eindruck gewonnen / das Gefühl gehabt, dass...
Es haben sich uns auch einige Fragen gestellt, die ...

Herr / Frau ..., wir danken Ihnen für das Gespräch und ...

Wie wär's mit einem Selbstversuch:
Verfasse eine Art Heimatgedicht, in dem Natureindrücke und -erinnerungen aus Deiner Kindheit/Jugend die Hauptrolle spielen.
Verwende dazu das folgende Gerüst. Variiere es nach Belieben, entwickle es weiter und vergiss den Titel nicht! Fragen zur Ergebnis:

Und jetzt zu den Klassikern, den echten und den modernen:

Johann Wolfgang Goethe

Aus dem Tagebuch der Reise in die Schweiz
15. Junius 1775, aufm Zürichersee


Ich saug' an meiner Nabelschnur
Nun Nahrung aus der Welt.
Und herrlich rings ist die Natur
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkenangetan,
Entgegnen unserm Lauf.

Aug, mein Aug, was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so gold du bist;
Hier auch Lieb und Leben ist.
Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne,
Liebe Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.

Auf dem See
Spätere Fassung des vorigen

Und frische Nahrung, neues Blut
Saug' ich aus freier Welt;
Wie ist Natur so hold und gut
Die mich am Busen hält!
Die Welle wieget unsern Kahn
Im Rudertakt hinauf,
Und Berge, wolkig himmelan,
Begegnen unserm Lauf.

Aug', mein Aug', was sinkst du nieder?
Goldne Träume, kommt ihr wieder?
Weg, du Traum! so gold du bist;
Hier auch Lieb' und Leben ist.

Auf der Welle blinken
Tausend schwebende Sterne,
Weiche Nebel trinken
Rings die türmende Ferne;
Morgenwind umflügelt
Die beschattete Bucht,
Und im See bespiegelt
Sich die reifende Frucht.

Veröffentlicht 1789. Biografische Informationen: Hamburger Ausgabe Bd.1 München 1974 S. 508.
An den Mond
               
Füllest wieder s'liebe Tal 
Still mit Nebelglanz, 
Lösest endlich auch einmal 
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild 
Lindernd deinen Blick, 
Wie der Liebsten Auge, mild 
Über mein Geschick.

Das du so beweglich kennst
Dieses Herz im Brand,
Haltet ihr wie ein Gespenst
An den Fluß gebannt,

Wenn in öder Winternacht
Er vom Tode schwillt
Und bei Frühlingslebens Pracht
An den Knospen quillt.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Mann am Busen hält
Und mit dem genießt

Was den Menschen ungewußt
Oder wohl veracht',
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.

1. Fassung. Entstanden zwischen 1776 und 1778

An den Mond
Spätere Fassung

Füllest wieder Busch und Tal,
Still mit Nebelglanz, 
Lösest endlich auch einmal
Meine Seele ganz;

Breitest über mein Gefild
Lindernd deinen Blick,
Wie des Freundes Auge mild
Über mein Geschick.

Jeden Nachklang fühlt mein Herz 
Froh- und trüber Zeit 
Wandle zwischen Freud und Schmerz 
In der Einsamkeit.

Fließe, fließe, lieber Fluß! 
Nimmer werd ich froh, 
So verrauschte Scherz und Kuß, 
Und die Treue so.

Ich besaß es doch einmal, 
Was so köstlich ist! 
Daß man doch zu seiner Qual 
Nimmer es vergißt!

Rausche, Fluß, das Tal entlang,
Ohne Rast und Ruh,
Rausche, flüstre meinem Sang
Melodien zu.

Wenn du in der Winternacht
Wütend überschwillst,
Oder um die Frühlingspracht
Junger Knospen quillst.

Selig, wer sich vor der Welt
Ohne Haß verschließt,
Einen Freund am Busen hält
Und mit dem genießt,

Was, von Menschen nicht gewußt
Oder nicht bedacht,
Durch das Labyrinth der Brust
Wandelt in der Nacht.
Biografisches in Hamburger Ausgabe Bd.1 München 1974, S.523f

Natur und „exzentrische Bahn": Friedrich Hölderlin

Der Neckar

In deinen Tälern wachte mein Herz mir auf
Zum Leben, deine Wellen umspielten mich,
Und all der holden Hügel, die dich
Wanderer! kennen, ist keiner fremd mir.

Auf ihren Gipfeln löste des Himmels Luft
Mir oft der Knechtschaft Schmerzen; und aus dem Tal,
Wie Leben aus dem Freudebecher,
Glänzte die bläuliche Silberwelle.

Der Berge Quellen eilten hinab zu dir,
Mit ihnen auch mein Herz und du nahmst uns mit,
Zum stillerhabnen Rhein, zu seinen
Städten hinunter und lustgen Inseln.

Noch dünkt die Welt mir schön, und das Aug entflieht,
Verlangend nach den Reizen der Erde mir,
Zum goldenen Paktol, zu Smyrnas
Ufer, zu Ilions Wald. Auch möcht ich

Bei Sunium oft landen, den stummen Pfad
Nach deinen Säulen fragen, Olympion!
Noch eh der Sturmwind und das Alter
Hin in den Schutt der Athenertempel

Und ihrer Gottesbilder auch dich begräbt,
Denn lang schon einsam stehst du, o Stolz der Welt,
Die nicht mehr ist. Und o ihr schönen
Inseln Ioniens! wo die Meerluft

Die heißen Ufer kühlt und den Lorbeerwald
Durchsäuselt, wenn die Sonne den Weinstock wärmt,
Ach! wo ein goldner Herbst dem armen
Volk in Gesänge die Seufzer wandelt,

Wenn sein Granatbaum reift, wenn aus grüner Nacht
Die Pomeranze blinkt, und der Mastixbaum
Von Harze träuft und Pauk und Cymbel
Zum labyrinthischen Tanze klingen.

Zu euch, ihr Inseln! bringt mich vielleicht, zu euch
Mein Schutzgott einst; doch weicht mir aus treuem Sinn
Auch da mein Neckar nicht mit seinen
Lieblichen Wiesen und Uferweiden.

„Hölderlins Gedicht „Der Neckar“ gibt eine Probe vom nichtinstrumentalisierten Umgang mit Natur. Natur ist hier mit der Lebensgeschichte eines Menschen verbunden, so eng verbunden, daß sie zum Bezugspunkt wird, von dem aus man sich die „übrige“ Welt aneignet. Man hat sich mit ihr ausgetauscht, Erfahrungen gemacht, die jetzt die eigene Wahrnehmungsfähigkeit organisieren. Die Konventionen und Beharrlichkeiten, denen das eigene Denken folgt, scheinen in einer Symbiose zu stehen, in einer intimen Beziehung zur Physiognomie der Landschaft. Hölderlin beschreibt so etwas wie eine Sozialisation der Sinne durch die Blicke, die die Landschaft dem Auge gewährt, durch die Klimaeindrücke, Gerüche, Tätigkeiten, die sie dem Menschen zumutet, der in ihr leben und sich erhalten will. In Hölderlins Bilder geht der Reiz von Erfahrngen ein, die nicht aus der Zerstückelung von Natur, sondern aus dem Langzeitexperiment Kindheit hervorgegangen sind, in der das Spiel die entscheidende Lebensform ist. Für die Natur, mit der wir nicht zerstückelnd umgehen, sondern so, daß wir Erfahrungen machen jenseits der ausschließlichen Herrschaft des Nützlichkeitsprinzips, die für unsere Lebensgeschichte wichtig sind, für diese Natur verwenden wir den Begriff Heimat.“
aus: Romantische Gedichte: Natursehnsucht und Liebesleid, ausgewählt und vorgestellt von Lienhard Wawrzyn, Wagenbach Berlin 2002 S. 44


Bertolt Brecht Finnische Landschaft
Fischreiche Wässer! Schönbaumige Wälder! 
Birken- und Beerenduft!  
Vieltoniger Wind, durchschaukelnd eine Luft  
So mild, als stünden jene eisernen Milchbehälter 
Die dort vom weißen Gute rollen, offen!  
Geruch und Ton und Bild und Sinn verschwimmt.  
Der Flüchtling sitzt im Erlengrund und nimmt  
Sein schwieriges Handwerk wieder auf: das Hoffen.

Er achtet gut der schöngehäuften Ähre  
Und starker Kreatur, die sich zum Wasser neigt  
Doch derer auch, die Korn und Milch nicht nährt.  
Er fragt die Fähre, die mit Stämmen fährt:  
Ist dies das Holz, ohn das kein Holzbein wäre?  
Und sieht ein Volk, das in zwei Sprachen* schweigt.
Entstanden in Juli 1940

Seit April 1940 - nach Aufenthalten in Frankreich, der Schweiz, Dänemark und Schweden - befand sich Bertolt Brecht im Exil in Finnland, bevor ihm über die Sowjetunion die Ausreise nach Kalifornien gelang.

* Die Landessprachen sind Finnisch und Schwedisch.

(cc) Klaus Dautel

Ohne etwas Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.
Dautels ZUM-Materialien: Google-Fuss

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