Spazierengehen: Hobby des Bürgertums
Spaziergang (Wikipedia)
- "Der Ursprung des Spaziergangs ist das aristokratische "Lustwandeln" in Gärten und Barockparks, später kam eine soziale Komponente hinzu (Kontakte knüpfen, ungestört Gespräche führen). Die Entwicklung von Parks oder Promenaden hängt unmittelbar mit dem Spaziergang zusammen. Unter Bürgerlichen ist er im 18. Jahrhundert in Mode gekommen. Als Brauch war er zu bestimmten Zeiten in Deutschland sehr verbreitet – so der Osterspaziergang (vgl. dazu Goethes Faust I) oder Pfingstspaziergang. Beim sonntäglichen 'Familienspaziergang' konnte dessen Gemächlichkeit für Kinder recht quälend sein."
- "Spaziergänger gehen immer wieder die gleichen Wege in gewohntem Terrain und versuchen nicht in unbekannte Umgebung vorzudringen. Diese Eigenart lässt den Wiederholungscharakter eines Spaziergangs erkennen, der somit eine Art Ritual darstellt. Auch wenn der Weg auf ein Ziel, beispielsweise einen Lieblingsplatz oder ein Rasthaus, hinausläuft, so ist die Funktion eines Spaziergangs nicht das Ankommen an einem vorherbestimmten Ziel, sondern die Aktion des Gehens, der Bewegung selber, die das damit häufig verbundene Beobachten der Umgebung, der Natur oder das Gespräch während des Spaziergangs mit dem Freund oder dem Passanten am Wegesrand mit einschließt."
Friedrich Schillers große und großartige "Elegie" (1795) ist zwar "Der Spaziergang" überschrieben, gleicht aber eher einer Wanderung, die durch eine realistisch geschilderte Landschaft in die Vorzeit der Menschheit führt und dann zu einem idealisierten Gang durch die Geschichte wird.
Friedrich Schiller, "Der Spaziergang" [...] Frei empfängt mich die Wiese mit weithin verbreitetem Teppich; Durch ihr freundliches Grün schlingt sich der ländliche Pfad. Um mich summt die geschäftige Bien', mit zweifelndem Flüge Wiegt der Schmetterling sich über dem röthlichten Klee. Glühend trifft mich der Sonne Pfeil, still liegen die Weste, Nur der Lerche Gesang wirbelt in heiterer Luft. Doch jetzt braust's aus dem nahen Gebüsch: tief neigen der Erlen Kronen sich, und im Wind wogt das versilberte Gras; Mich umfängt ambrosische Nacht; in duftende Kühlung Nimmt ein prächtiges Dach schattender Buchen mich ein. In des Waldes Geheimniß entflieht mir auf einmal die Landschaft, Und ein schlängelnder Pfad leitet mich steigend empor. Nur verstohlen durchdringt der Zweige laubigtes Gitter Sparsames Licht, und es blickt lachend das Blaue herein. Aber plötzlich zerreißt der Flor. Der geöffnete Wald gibt Überraschend des Tags blendendem Glanz mich zurück. Unabsehbar ergießt sich vor meinen Blicken die Ferne, Und ein blaues Gebirg endigt im Dufte die Welt. Tief an des Berges Fuß, der gählings unter mir abstürzt, Wallet des grünlichten Stroms fließender Spiegel vorbei. Endlos unter mir seh' ich den Äther, über mir endlos, Blicke mit Schwindel hinauf, blicke mit Schaudern hinab. Aber zwischen der ewigen Höh' und der ewigen Tiefe Trägt ein geländerter Steig sicher den Wandrer dahin. [...]zit. nach Projekt Gutenberg-De.
Heinrich v. Kleist schildert in einem Brief an Luise von Zenge, die Schwester seiner Verlobten, Wilhelmine von Zenge, die Vergnügungen der Einwohner von Paris, im August 1801:
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„Überdrüssig aller ... Feuerwerke und Illuminationen und Schauspiele und Possenreißereien hat ein Franzose den Einfall gehabt, den Einwohnern von Paris ein Vergnügen von einer ganzen neuen Art zu bereiten, nämlich das Vergnügen an der Natur. [...]
Von Zeit zu Zeit verläßt man die matte, fade, stinkende Stadt, und geht in die - Vorstadt, die große, einfältige, rührende Natur zu genießen. Man bezahlt (im Hameau de Chantilly) am Eingange 20 sols für die Erlaubnis, einen Tag in patriarchalischer Simplizität zu durchleben. Arm in Arm wandert man, so natürlich wie möglich, über Wiesen, an dem Ufer der Seen, unter dem Schatten der Erlen, hundert Schritte lang, bis an die Mauer, wo die Unnatur anfängt - dann kehrt man wieder um. Gegen die Mittagszeit (das heißt um 5 Uhr) sucht jeder sich eine Hütte, der eine die Hütte eines Fischers, der andere die eines Jägers, Schiffers, Schäfers etc. etc., jede mit den Insignien der Arbeit und einem Namen bezeichnet, welchen der Bewohner führt, so lange er sich darin aufhält. Funfzig Lakaien, aber ganz natürlich gekleidet, springen umher, die Schäfer- oder die Fischerfamilie zu bedienen. Die raffiniertesten Speisen und die feinsten Weine werden aufgetragen, aber in hölzernen Näpfen und in irdenen Gefäßen; und damit nichts der Täuschung fehle, so ißt man mit Löffeln von Zinn. Gegen Abend schifft man sich zu zwei und zwei ein, und fährt, unter ländlicher Musik, eine Stunde lang spazieren auf einem See, welcher 20 Schritte im Durchmesser hat. Dann ist es Nacht, ein Ball unter freiem Himmel beschließt das romantische Fest, und jeder eilt nun aus der Natur wieder in die Unnatur hinein -
Große, stille, feierliche Natur, du, die Kathedrale der Gottheit, deren Gewölbe der Himmel, deren Säulen die Alpen, deren Kronleuchter die Sterne, deren Chorknaben die Jahrszeiten sind, welche Düfte schwingen in den Rauchfässern der Blumen, gegen die Altäre der Felder, an welchen Gott Messe lieset und Freuden austeilt zum Abendmahl unter der Kirchenmusik, welche die Ströme und die Gewitter rauschen, indessen die Seelen entzückt ihre Genüsse an dem Rosenkranze der Erinnerung zählen - so spielt man mit dir -?"
H.v.Kleist, Brief vom 16. August 1801, zit. nach Sämtliche Werke und Briefe Band II, Hrsg. Helmut Sembdner, Hanser 1985 S. 689f
Wie immer hat Heinrich Heine seine eigene Sicht auf dieses moderne bürgerliche Vergnügen: XXXVII Philister* in Sonntagsröcklein Spazieren durch Wald und Flur; Sie jauchzen, sie hüpfen wie Böcklein, Begrüßen die schöne Natur. Betrachten mit blinzelnden Augen, Wie alles romantisch blüht; Mit langen Ohren saugen Sie ein der Spatzen Lied. Ich aber verhänge die Fenster Des Zimmers mit schwarzem Tuch; Es machen mir meine Gespenster Sogar einen Tagesbesuch. Die alte Liebe erscheinet, Sie stieg aus dem Totenreich, Sie setzt sich zu mir und weinet, Und macht das Herz mir weich. aus: Buch der Lieder. Lyrisches Intermezzo (v. 1824) | Carl Spitzweg: Der Sonntagsspaziergang (1841) - mehr dazu in Lore Wageners "lerncafe.de". ![]() |
* Mehr zum Begriff 'Philister' ist zu finden auf meinen Seiten zum Thema Von Spießern, Kleinbürgern, Künstlern und Genies.
Ohne etwas Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz themengerecht sein sollte.