GRUNDBEGRIFFE DER TEXTANALYSE UND INTERPRETATION

StD Wolfgang Winter
DS Barcelona 1986

Neubearbeitung:
Hölderlin-Gymnasium
Nürtingen 2004

6. Die Gedichtinterpretation: Grundbegriffe der äußeren Form

6.1 Die Metrik

Der deutsche Vers geht von der Folge von betonten Silben, den Hebungen, und unbetonten Silben, den Senkungen, aus. Die Hebung bezeichnen wir ‑ wenn wir das traditionelle System anwenden ‑ mit dem aus der antiken Metrik entlehnten Zeichen / - /die Senkung mit dem Zeichen / v /.

Die Folge von Betonungen und Senkungen kann frei gestaltet oder nach bestimmten Prinzipien organisiert sein. Liegt eine fest organisierte Folge von Hebungen und Senkungen vor, sprechen wir von einem „Versmaß”. Es lassen sich dann in einer Verszeile kleinste Einheiten feststellen, die eine festgelegte Folge von Hebungen und Senkungen sind. Eine solche kleinste Einheit innerhalb eines Versmaßes nennen wir in der traditionellen Metrik Versfuß.

In der deutschen Dichtung lassen sich vor allem folgende, auf antike Vorbilder zurückgehende Versfüße finden:

Für die Gestaltung einer Verszeile ist jedoch nicht nur der zugrunde­liegende Versfuß wichtig, sondern auch andere Gesichtspunkte müssen beachtet werden:

die Zäsur

Die Zäsurist ein Einschnitt im Versinneren, eine deutliche Pause entsteht. Im folgenden Beispiel liegt eine deutliche Zäsur nach der dritten Hebung vor:

Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret.

die Kadenz

Mit Kadenzwird der Schluss einer Verszeile bezeichnet. Endet eine Verszeile mit einer betonten Silbe, so heißt das „männliche Kadenz“,z.B. „Flut“, „Glut“. Endet eine Verszeile mit einer unbetonten Silbe, so heißt das „weibliche Kadenz“, z.B. „Ferne“, „Sterne“.

Um die Untersuchung der Kadenzen für die Interpretation nutzbar zu machen, muss auch der Beginn der nächsten Verszeile analysiert werden; denn es ist wichtig, ob z.B. auf eine männliche Kadenz eine Hebung zu Beginn der nächsten Verszeile folgt, wodurch eine kurze Pause entsteht und im Allgemeinen die Verszeilen stärker voneinander abgesetzt werden.

die Verbindung zwischen den Verszeilen:

Das Übergreifen einer syntaktischen Einheit über das Verszeilenende heißt das Enjambement. Fallen Verszeilenende und Satzende zusammen, sprechen wir von Zeilenstil. Beide Phänomene müssen auf den Inhalt des Gedichts bezogen werden, um zu einer interpretatorischen Aussage zu gelangen.

Die Angabe des Versmaßes/des Metrums:

Um das Versmaß einer Verszeile zu bestimmen, geben wir im Deutschen die Art des zugrunde liegenden Versfußes und die Anzahl der Hebungen an.

Das Wasser rauscht, das Wasser schwoll.

v       -     v      -           v       -    v      -

Ein Fischer saß daran.
Sah nach dem Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinein

 aus: Goethe, „Der Fischer“

Goethe verwendet hier abwechselnd vierhebige und dreihebige Jamben.

6.1.1 Bezeichnungen für bestimmte Versformen

der vers commun“ (frz.)

Du daurest mich, du allerliebstes Kind!

v     -     v     -       v   -   v    -   v     -

Du fühlst mein Weh, ich leide deine Schmerzen,

aus: Johann Christian Günther, Abschied an Leonore“

Der vers communist ein französischer Vers. Er ist ein jambischer Fünfheber, mit männlicher und weiblicher Kadenz und einer festen Zäsur nach der zweiten Hebung. Er ist außerdem gereimt und kommt im Barock häufig vor.

der Endecasillabo

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,

   v    -    v      -     v      -      v     -       v   -   v

Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,­
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.

aus: Goethe, Urworte. Orphisch“

Der Endecasillaboist ursprünglich ein italienischer Vers. Er besteht aus gereimten fünfhebigen Jamben, meist mit weiblicher Kadenz, ohne feste Zäsur.

der Blankvers

Denn ach! mich trennt das Meer von den Geliebten,

  v      -        v        -        v       -      v      -        -     v

Und an dem Ufer steh ich lange Tage,
Das Land der Griechen mit der Seele suchend."

aus: Goethe, Iphigeniel I,1“

Der Blankversbesteht aus ungereimten fünfhebigen Jamben. Er ist der Vers des klassischen deutschen Dramas und wurde aus dem englischen Drama übernommene

der Alexandriner

Du siehst, wohin du siehst, nur Eitelkeit auf Erden!

  v     -        v   -    v     -        v    -  v   -      v     -   v

Was dieser heute baut, reißt jener morgen ein;
aus: Andreas Gryphius, Es ist alles eitel“

Der aus dem Französischen übernommene Alexandriner besteht aus sechshebigen Jamben mit fester Zäsur nach der dritten Hebung. Er ist gereimt und kommt vor allem im Barock vor.

Madrigalverse, freie Verse

Schöne Linde
Deine Rinde
Nehm den Wunsch von meiner Hand:
Kröne mit den sanften Schatten
....

Die Madrigalverse sind jambotrochäische Verse mit freier und wechselnder Hebungszahl. Sie sind gereimt und kommen auch in der modernen Dichtung vor.

der Hexameter

Pfingsten, das liebliche Fest war gekommen! es grünten und

     -     v     v     -    v  v   -      v    v    -     v     v     -     -   v

Der Hexameterist ungereimt und besteht aus sechs Daktylen. Im Deutschen ist die Füllung dieses griechischen Verses jedoch sehr frei, d.h.,  die Senkungen können ein‑ oder zweisilbig sein; zweisilbige Senkungen kommen jedoch fast immer nach der fünften Hebung vor. Meistens liegt eine weibliche Kadenz vor.

der Pentameter

Der Pentameterist im Deutschen ein sechshebiger Vers mit männlicher Kadenz. Die dritte und vierte Hebung folgen ohne Senkung aufeinander. Eine Strophe, die aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht, heißt (-s) Distichon.

  Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule,

    -   v  -   v   v      -      v        -      v        -   v  v     -  v

  im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab.

   -    v    -   v  v      -      -      v    v  -   v      v   -

Friedrich Schiller

Verse mit Senkungsfreiheit

Es schienen so golden die Sterne,

 v      -     v    v    -   v    v     -   v

Am Fenster ich einsam stand.

  v     -    v     v   -    v      -

aus: J. v. Eichendorff, Sehnsucht“

Außer den zuvor erwähnten ‑ meist an ausländischen Vorbildern orientierten ‑ Formen sind in der deutschen Lyrik einheimische Formen verbreitet, die nicht alternieren, da bei ihnen weitgehende Freiheit bei der Senkungszahl besteht. Man gibt in einem solchen Falle nur die Zahl der Hebungen an. Im Beispiel liegen dreihebige Verse mit Senkungsfreiheit vor.

freie Rhythmen,

Bedecke deinen Himmel, Zeus,
Mit Wolkendunst!
Und übe, Knaben gleich,
Der Disteln köpft,
An Eichen dich und Bergeshöhn!

aus: Goethe, "Prometheus"

Seit der Epoche des Sturm und Drangsgibt es die freien Rhythmen. Sie haben keine feste Hebungszahl der einzelnen Verszeilen, keine regelmäßige Ordnung von Senkung und Hebung. Die freien Rhythmen sind ungereimt. Sie sind wichtig, weil sie vor allem in der modernen Lyrik eigentlich die traditionellen Formen verdrängt haben. Sie können sehr unterschiedlich benutzt werden und sehr prosahaft wirken.

6.2 Der Rhythmus

Für ein Gedicht ist zunächst das metrische Schema wichtig. Aber die metrischen Schemata können zwar gleich sein ‑ es kann l000 Gedichte z.B. mit vierhebigen Jamben geben ‑ ; aber jedes Gedicht klingt“ anders. Dafür sind der Satzbau, die Kadenzen und auch die Länge der Wörter verantwortlich. Außerdem kann ein Wort von seiner Bedeutung her gegen die Metrik besonders hervorgehoben werden.

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!

Nach der metrischen Form wäre „dies“ eine Senkung und „ist“ eine Hebung, von der Bedeutung her muss jedoch dies“ betont werden. „Dies“ wird also gegen das Schema besonders hervorgehoben, da eine Unregelmäßigkeit vorliegt. Man nennt diese Erscheinung „schwebende Betonung“. Die Unregelmäßigkeit, also die schwebende Betonung, soll in dieser Verszeile wohl die Bewunderung des lyrischen Ichs über den Herbsttag ausdrücken. In vielen deutschen Gedichten ist es daher wichtig zu schauen, ob irgendwelche schwebende Betonungen vorliegen! Der Rhythmus selbst muss für jedes Gedicht beschrieben werden. Man muss sich überlegen, ob er harmonisch oder stockend ist.

6.3 Das Klangbild

Das Klangbild von Gedichten wird besonders auffällig vom Reim geprägt, falls gereimte Gedichte vorliegen.

Beim Endreimgibt es verschiedene Formen:

den Paarreim: aa bb

den Kreuzreim: ab ab

den umarmenden Reim: a bb a

den Haufenreim: aaaa bbbb cccc

-   der Binnenreim:

     Binnenreimliegt vor, wenn sich die Verse im Versinneren reimen.

-   die Alliteration:

Winterstürme wichen dem Wonnemond

Richard Wagner

Mit „Alliteration“ wird der gleichlautende Anlaut von betonten Stammsilben bezeichnet. Alliterationen kommen in vielen deutschen Gedichten vor. Die Alliteration war das Grundprinzip der altgermanischen Dichtung; sie hieß dort „Stabreim“.

6.4 Die Strophenformen

Meist ist es nur notwendig, in deutschen Gedichten die Anzahl der Verszeilen anzugeben (Jede Strophe besteht aus vier Verszeilen“). Manche Strophen mit einem festen Aufbau haben jedoch spezielle Bezeichnungen.

6.5 Gedichtformen

Im Allgemeinen gibt man bei deutschen Gedichten die Strophenzahl an. Es gibt jedoch auch feste Gedichtformen, die zumeist aus der romanischen Dichtung übernommen wurden. Wie bei der Metrik liefern vor allem die italienische und die französische Dichtung Vorbilder (Kanzone, Rondel, Ritornell). Am wichtigsten ist das Sonett. Das Sonett besteht aus zwei Quartetten und aus zwei Terzetten.

abba abba cdc cdc Petrarca- Typ

abab abab cde cde Petrarca- Typ

abba abba ccd eed Ronsard-Typ

Das englische Shakespeare-Sonett ist anders gebaut. Es besteht aus drei Quartetten und einem abschließenden Zweizeiler, dem „heroic couplet.“


1. Aufsatzarten | 2. Wortarten | 3. Bildlichkeit | 4. Stilfiguren | 5. Fiktionale Prosatexte |
6. Gedichtinterpretation | 7. Arbeitsblätter

Inhaltsverzeichnis | Seitenanfang

© Wolfgang Winter 2006

Zentrale für Unterrichtsmedien im Internet e.V. (ZUM.DE)