Station 6 - Musterstadt Bernau

Die Planung des Flächenabrisses


Die ersten Überlegungen zur Umgestaltung Bernaus existierten bereits in den 60er Jahren. In dieser Phase des Aufbaus der DDR standen allerdings Großstädte wie Halle, Leipzig und Berlin im Vordergrund. Da somit weder Geld noch Baumaterialien zur Verfügung standen, verzögerte sich der Beginn der Bauarbeiten für Bernau.
Die DDR-Regierung plante, in Bernau den innerstädtischen Plattenbau musterhaft zu trainieren. Die Stadt avancierte zu einem Beispiel für sozialistisches Bauen, Wohnen und Leben. Die Plattenbauweise entsprach diesem Anspruch in vollem Maße. Durch die industrielle Massenproduktion der Fertigbauelemente konnte sehr kostengünstig und außerdem in stets gleichbleibender Form und Qualität gebaut werden. Diese immer gleiche Wohnung zielte darauf ab, ein Gemeinschaftsgefühl der Bewohner und eine gewisse Konformität im Sinne des Sozialismus zu erzeugen.
Der Umbau Bernaus war Teil eines Modellversuchs, in dessen Verlauf drei verschiedene Städte in unterschiedlicher Weise saniert und modernisiert wurden. Ein Ziel dieses Versuches bestand auch darin, die unterschiedlichen Modelle auf ihre Akzeptanz in der Bevölkerung hin zu prüfen. Für das Projekt wählte die Bauakademie die drei Städte Bernau, Greifswald und Quedlinburg aus. In Bernau schufen die Abrißbirnen rigoros Baufreiheit für die Plattenbauweise. In Greifswald kombinierten die Planer die Sanierung alter Bauten mit der Errichtung von neuen. In Quedlinburg restaurierte man die bestehenden Gebäude.

Vom Zehngeschosser zur kleinen Platte
Die eigentlichen Baupläne für den Abriß Bernaus entstanden als Ergebnis eines Wettbewerbs an der Bauakademie der DDR Anfang der 70er Jahre. Diese teilten die Altstadt in drei Bauabschnitte ein.
  • Abschnitt I: Tuchmacherstraße, Grünstraße, linke Seite der Bürgermeisterstraße, Berliner Straße.
  • Abschnitt II: Brüderstraße, Louis-Braille-Straße, Roßstraße, Berliner Straße.
  • Abschnitt III: rechte Seite der Bürgermeisterstraße, Brauerstraße, Louis-Braille-Straße, Breite Straße, Hohe-Stein-Straße.
Die Planungen sahen vor, den ersten Abschnitt von 1975 bis 1980, den zweiten Abschnitt 1980 bis 1985 und den Abschnitt III von 1985 bis 1990 fertigzustellen.


Die drei Bauabschnitte in der Altstadt


Während der Planungen fanden die Wünsche der Stadt selbst wenig Berücksichtigung. Weder die Stadtführung, noch die Bürger der Stadt konnten sich in angemessener Weise in die Planungsphase mit einbringen. Einzig und allein der Bürgermeister Bernaus saß pro forma mit im Gremium, welches die Ausführungen zu den Bauarbeiten erarbeitete. Die Bauakademie und ein sogenannter Hauptauftraggeber fällten die wichtigsten Entscheidungen.
Absichten aus den 60er Jahren, sogenannte „Punkthochhäuser“ zu bauen, also Hochhäuser mit möglichst großer Geschoßzahl auf einem Minimum an Grundfläche gaben die Planer auf. Vielmehr sollten, angepaßt an das ursprüngliche Aussehen des Stadtkerns, höchstens fünfstöckige Neubauten entstehen.
Ebenfalls setzten sie sich für den Erhalt des historischen Straßenbildes ein, das noch aus dem Mittelalter stammte und als eines der Merkmale des ursprünglichen Bernaus bis heute erhalten blieb. Als weitere Besonderheiten der Stadt entwarfen sie die Lichthöfe im Inneren der Plattenbau-Karrees, die den einzelnen Wohnungen eine besonders gute Lichtqualität sicherten. Diese wurden den ursprünglichen Hofsituationen des mittelalterlichen Bernaus nachempfunden. Daß sich die Verantwortlichen bei der Neubebauung der Altstadt wirklich Mühe gaben, sieht man auch an den kleineren bunten Betonplatten, die den Gesamteindruck der Gebäude nicht so trist erscheinen lassen. Die Vorstellung vom modernen innerstädtischen Wohnungsbau lautete auf einen Nenner gebracht: Platte und soweit es die Finanzen erlaubten, schönere Plattenbauten. Ein Gefühl für die bereits 700jährige Stadt fand darin keinen Platz.
Diese Einstellung der Verantwortlichen fand darin Ausdruck, daß mit den Denkmälern der Stadt äußerst skrupellos umgegangen wurde. In der DDR teilte man Denkmäler in drei Kategorien ein: Landesliste, Bezirksliste und Kreisliste.
Auf der Landesdenkmalschutzliste stand vor allem Mittelalterliches, wie zum Beispiel das Straßenbild, die Sankt-Marien-Kirche, das Henkerhaus oder die Wallanlagen. Zu den Bezirks- und Kreislisten gehörten z.B. das Kantorhaus, die Lateinschule und die Bürgerhäuser am Marktplatz.
Weder die Denkmäler der Kreis-, noch die der Bezirksliste spielten beim Abriß der Altstadt irgendeine Rolle. Allein die mittelalterlichen Bauten der Landesliste entgingen der Planierraupe. Offenbar schien den Planern das einzig Erhaltenswerte in Bernau aus dem Mittelalter zu stammen, denn Relikte jüngerer Geschichte existieren heute kaum mehr.
Hier verdienten sich junge, ehrgeizige Architekten, die von außerhalb kamen, ihre ersten Sporen. Aber auch die meisten Einheimischen folgten der Vision vom modernen Wohnkomfort.
Zeitzeugen aus jenen Tagen berichteten mehrheitlich von unhaltbaren Zuständen in den alten Gebäuden: fehlenden Sanitäranlagen, Außentoiletten und einer maroden Bausubstanz. Aus diesem erinnerten Erscheinungsbild leiteten sie die Notwendigkeit des kompletten Abrisses ab.
Andererseits meinte selbst einer der damals verantwortlichen Ingenieure nun im Rückblick: „Man wollte in Bernau den Plattenbau trainieren“ und Bernau sei ein „Übungsplatz“ gewesen. Für ein „Experiment Bernau“ sprechen auch die Bauzustandskarten aus jenen Tagen. Äußerlich mögen die Gebäude marode gewirkt haben, laut Erfassungskarte stuften die Gutachter aber nur ein kleinen Teil der Altstadt wirklich als abrißreif ein. Für die Kategorisierung der Gebäude gab es vier Stufen.
  • In gutem Zustand, nur kleinste Mängel
  • Geringfügige Sanierungsarbeiten sind nötig
  • Sanierungsarbeiten sind in größerem Maße nötig, um das Gebäude seiner Funktion zuzuführen
  • Derart schwerwiegende Mängel, daß Sanierung nur in Form von Neubau erfolgen kann
Nach dieser Einteilung mußte nur ein sehr kleiner Teil tatsächlich abgerissen werden, die Mehrzahl der Häuser war nur oberflächlich heruntergekommen. Der angeblich schlechte Bauzustand rechtfertigt den Flächenabriß also ganz und gar nicht!
Ein weiteres Argument zur Abrißrechtfertigung entkräften die Recherchen ebenfalls. Der aus dem 19. Jahrhundert stammende Fassadenputz ließ das darunterliegende Holz angeblich verfaulen. Diesen Punkt führen sowohl ehemals Verantwortliche als auch Zeitzeugen nur zu gern ins Feld, um die Hinfälligkeit der Stadtsubstanz zu beweisen. Ganz zu Unrecht, wie Experten widersprechen, denn wie beispielsweise an Frau Wieses Haus in der Breiten Straße zu sehen ist, überdauert das Fachwerk auch die Putzschicht.
An den bleibenden, tatsächlich vorhandenen Schäden trug jedoch die DDR-Führung zu einem beträchtlichen Teil die Schuld. Einerseits verstärkten infolge des Prager Frühlings 1968 die Ostblockstaaten die russischen Truppen, für deren Objekte immense Mengen an Baumaterial benötigt wurde. Andererseits sorgte die Regierung durch einen Baumaterialienstopp bereits in den 60er Jahren dafür, indem sie privaten Hausbesitzern schon lange vor dem eigentlichen Stadtumbau weder Materialien noch Kredite für Instandsetzungen ihrer Gebäude zur Verfügung stellte. Beide Strategien führten zum Ergebnis, daß die Häuser in der Altstadt allmählich verfielen.
Ebenfalls auf den Flächenabriß vorbereitend erfolgten bereits weit im Vorfeld jeglicher Bauaktivität gezielt Aufkäufe privater Grundstücke durch den Staat. Wollte ein Hausbesitzer nicht verkaufen, wurde er stark unter Druck gesetzt, sogar mit Enteignungsdrohungen. Diese harte Vorgehensweise schwächte sich bei den Bauabschnitten II und III ab, da dort das Geld bereits knapp wurde und Privateigentümer die sich selbst um ihre Häuser kümmerten, eher als Entlastung gesehen wurden.

Die Pläne gehen nicht auf
Mitte der 70er Jahre plante die DDR-Regierung dann auch Geld und Baumaterial für kleinere Städte. Neben den nun fließenden staatlichen Mitteln unterstützte zusätzlich auch noch ein UNESCO-Programm das Projekt, so daß die Arbeiten am ersten Bauabschnitt 1975 planmäßig begannen.
Die Bauarbeiten in den Abschnitten erfolgten nacheinander, da für gleichzeitiges Bauen an allen drei Teilen nicht genügend Baumaterialien, Kapital und Arbeitskräfte zur Verfügung standen.
Geldmangel bekamen die Umbauarbeiten bereits beim ersten Abschnitt zu spüren, der um einiges teurer wurde, als eigentlich angenommen. Die Mehrkosten schlugen sich natürlich auf die nachfolgenden Bauvorhaben nieder, weshalb Bauabschnitt II dann nur noch unvollständig ausgeführt und Abschnitt III überhaupt nicht mehr begonnen wurde. Der Druck auf die Planer verstärkte sich noch einmal, als die UNESCO-Förderung auslief und die drastische Verstärkung der Investitionen der DDR-Regierung in sowjetische Militärobjekte ein noch tieferes Loch in die Kassen riß.
Der gegenn die sowjetischen SS20-Raketen gerichtete NATO-Doppelbeschluß der NATO von 1979 führte zu einer verstärkten Aufrüstung in der DDR, was alle anderen Bauvorhaben in den Hintergrund rücken ließ.
All dies brachte die Planungen völlig durcheinander. Aufgrund des Fehlens von Geld und Baumaterial änderte man sogar die Bauabschnittseinteilung noch einmal. Ein Straßenzug, der eigentlich Abschnitt II angehörte, wurde dem dritten zugeordnet, um den zweiten Abschnitt dadurch früher fertigstellen zu können.
Die Probleme bei den Arbeiten führten dann dazu, daß bei weitem nicht genügend Wohnraum in Bernau geschaffen werden konnte. Laut einer 1980 bis 1981 erfolgten Zählung von Personen und Wohnraum fehlten zu dieser zeit in der DDR etwa 100 000 Wohnungen. Dem eigentlichen Anliegen, durch Plattenbauten billig Wohnraum in großen Mengen zu schaffen, entsprach dies nicht.
1983 prüfte und überarbeitet man die komplette Konzeption erneut. Jedes Haus in den noch anstehenden Bauabschnitten unterzogen die Planer einer eingehenden Untersuchung, ob ein Abriß überhaupt notwendig war. Offensichtlich hatte man bemerkt, daß unter Beibehaltung der bisherigen Vorgehensweise - Haus für Haus abzureißen und statt dessen Neubauten zu errichten - die Mittel nicht ausreichten. „Mehr Häuser werden stehenbleiben“ und „der dritte Abschnitt wird Neubau nur noch als Lückenbebauung enthalten“, waren die wichtigsten Ergebnisse dieser Prüfung.


Quelle: Jentsch, Peter: Die bildkünstlerische Gestaltung von Bernau
Selbstverlag, Bernau u. Berlin 1989, S.376
Animation: Autor

Bernau vor und nach dem Flächenabriß (Animation)






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