E.T.A. Hoffmann

E.T.A. Hoffmanns Erzählungen

Gedanken und Denkanstöße zu Hoffmanns Erzählungen im Unterricht

E.T.A. Hoffmann zu lesen ist faszinierend und befremdlich zugleich.
Faszinierend, weil die Geschichten so bizarr und die Sprache so üppig ist.
Befremdlich, weil uns der Autor im Ungewissen lässt, anstatt uns durch den Wirrwarr seiner Phantasien zu leiten. Der „Erzähler“ trägt sogar noch zur Verwirrung bei, wenn er das Erzählte als lediglich Gehörtes oder Aufgeschnapptes oder Zugetragenes darstellt. Konstruktionen wie „Blätter aus dem Tagebuch eines reisenden Enthusiasten“ („Fantasiestücke“) befriedigen nicht das Bedürfnis nach Verlässlichkeit und Ordnung in der Welt. Im Gegenteil: E.T.A. Hoffmann bedient sich solcher Erzählstrategien, die den Autor hinter „Enthusiasten“, „Tagebüchern“ und „Nachgelassenen Papieren“ (Elixiere des Teufels) zum Verschwinden bringen. Mit der Rolle des Herausgebers entzieht sich der Autor der Zuständigkeit für das Berichtete. Bezeichnungen wie „Fantasiestücke“, „Nachtstücke“, „Märchen“ tragen des Weiteren dazu bei, die Erzählstoffe zwie-lichtig zu machen.

E.T.A. Hoffmann stiftet also eher Verwirrung als Aufklärung - und Schüler, die es aus nachvollziehbaren Gründen gerne überschaubar und selbsterklärend hätten, sollten vorgewarnt werden.
Sie müssen behutsam herangeführt werden an Texte mit ellenlangen Sätzen und merkwürdig altertümlich erscheinendem Wortschatz. Sie müssen auch vorbereitet werden auf Protagonisten und Ereignisse, die nicht mehr von dieser Welt scheinen, auch wenn die Darstellung von Handlungsort und Handlungszeit überaus präzise sein mag.
Sie müssen ausgestattet werden mit Vorwissen und Lese-Hinweisen.
Darum bedarf es

  1. 1. einer Initiationsphase für Vorwissen, Wissen und Erwartungshaltung
  2. 2. einer gemeinsamen, angeleiteten ersten Textbegegnung und
  3. 3. der Unterstützung von 'außen' durch Info-Material, analog, digital, medial.
Ein vorwiegend induktives Vorgehen mag zwar edel und angesagt sein, ist aber riskant und vor allem anstrengend.
Ein instruktiv angereichertes Vorgehen („Input-orientiert“) erscheint didaktisch-methodisch vielleicht etwas „konservativ“, ist aber enorm entlastend - für alle Beteiligten.
Was die zu erwerbenden bzw. zu vertiefenden Kompetenzen angeht, so geht es insbesondere um die systematische Erarbeitung von Textverständnis durch habitualisierten Einsatz von Lese-Strategien, zum anderen um die Fähigkeit, komplexe Sachverhalte strukturiert und stilistisch angemessen zu verschriftlichen. Im Grunde also das Übliche, aber hier ganz besonders (siehe Eingangsstatement).

Als Verstehensansatz für E.T.A. Hoffmanns Erzählungen halte ich das „serapiontische Prinzip“ für hilfreich. Es wird in Hoffmanns Erzählsammlung „Die Serapionsbrüder“ in mehreren literarischen Gesprächen über die vorgetragenen Erzählungen entwickelt.

Es ließe sich - etwas vereinfacht - so zusammenfassen und anwenden:

  1. Es gibt zwei Welten, eine Innen- und Außenwelt, das Reich der Phantasie und das der Realität („Duplizität“). Beide sind gleichwertig, greifen ineinander und wirken ständig auf den Menschen, seinen Seelenzustand, ein.
  2. Es gibt Zeiten und Zustände, in denen das Reich der Phantasie stärker präsent ist (Nacht, Alkohol, Liebe, Depression) und solche, in denen durch das Tagesgeschäft oder die Anwesenheit „vernünftiger“ Personen das Hier und Jetzt dominiert. Dennoch ist immer beides zugleich existent.
  3. Darum sind diejenigen Erzählungen besonders gelungen, in denen die Präsens bzw. das Wirken der „inneren Welten“ im Alltäglichen sichtbar gemacht wird. Das erklärt z.B. den Untertitel „Ein Märchen aus der neuen Zeit“. Diese Verschränkung wird auch unterstützt durch → protokollarisch genaue Orts- und Zeitangaben (vgl. den ersten Satz aus dem „Goldenen Topf“).
  4. Der Mensch befindet sich in dieser → Duplizität und ist in zweierlei Hinsicht gefährdet: Findet er keinen Weg, diese Welten in sich zu vereinbaren, dann droht ihm entweder eine Spießer-Existenz (→ „Philister“) oder er verfällt dem Wahnsinn.
  5. Sensible Menschen, Menschen „kindlich frommen” Gemütes, und dazu gehören die Künstler, sind der zweiten Gefahr besonders ausgesetzt, Nathanael im „Sandmann“ wird tatsächlich verrückt, der Mönch Serapion ist verrückt, Anselmus im „Goldenen Topf“ bleibt dies Schicksal glücklich erspart. Warum das so ist, gilt es herauszuarbeiten!
  6. Die Welten des E.T.A. Hoffmann sind also besiedelt von → Philistern und Poeten: Von Menschen, die wenig phantasiebegabt sind und dem Nützlichkeitsprinzip zugeneigt sind („Philister“), und von Künstler-Figuren, die empfindsam und für die Einwirkungen des Phantastischen empfänglich sind („Poeten“). „Aufklärung“ - sofern sie lediglich Phantasie-Feindlichkeit und Nützlichkeitsdenken repräsentiert - ist dann als Unglück und Bedrohung zu verstehen, wie dies auf satirische Weise im „Klein Zaches“ vorgeführt wird.
  7. Ein Dichter muss das, was er darstellt („verkündet”) wirklich „geschaut” haben, nur so ergreift seine Rede Herz und Gemüt des Zuhörers. Der Leser/Zuhörer soll sich aber nie sicher wähnen. Das Erzählverfahren entzieht Handlung und Figuren der Eindeutigkeit, der Leser wird immer wieder direkt aufgefordert, die Perspektive zu wechseln und sich auf das innere Erleben der Figuren einzulassen (→ Leseransprache und „multiperspektivisches“ Erzählen).

E.T.A. Hoffmann war als Schriftsteller erfolgreich und gewann eine beachtliche Leserschaft - international und weit über die damals angesagten Frauentaschenbücher hinaus. Das hat wohl den großen Philosophen G.W.F. Hegel dazu veranlasst, in seinen „Vorlesungen über die Ästhetik“ (1835-1838) den viel gelesenen Hoffmann posthum mit Verachtung zu strafen:

„Vorzüglich jedoch ist in neuester Zeit die innere haltlose Zerrissenheit, welche alle widrigsten Dissonanzen durchgeht, Mode geworden und hat einen Humor der Abscheulichkeit und eine Fratzenhaftigkeit der Ironie zuwege gebracht, in der sich Ernst Theodor Amadeus Hoffmann z.B. wohlgefiel.“ (G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I, Werke in 20 Bänden, Band 13, Suhrkamp Verlag 1977 S. 289)
Zwar ist es für Hegel die Aufgabe der Kunst, das Wesen der Wirklichkeit zur Erscheinung zu bringen, was aber die Wirklichkeit sei, darüber kann man streiten. Für Hoffmann jedenfalls ist die Wirklichkeit von einer Duplizität geprägt - die sich nicht dialektisch ineinander „aufheben“ lässt. In den Welten des E.T.A. Hoffmann wäre der Berliner Staatsphilosoph wohl im Revier des aufgeklärten Philistertums anzusiedeln.

Und ein weiterer Beinahe-Zeitzeuge hat den Dichter Hoffmann einzuordnen versucht: Heinrich Heine in seiner "Romantischen Schule" (1832-35).E.T.A. Hoffmann mit Novalis vergleichend gelangt Heine zu folgendem Schluss:

„Die große Ähnlichkeit zwischen beiden Dichtern besteht wohl darin, daß ihre Poesie eigentlich eine Krankheit war. In dieser Hinsicht hat man geäußert, daß die Beurteilung ihrer Schriften nicht das Geschäft des Kritikers, sondern des Arztes sei. Der Rosenschein in den Dichtungen des Novalis ist nicht die Farbe der Gesundheit, sondern der Schwindsucht, und die Purpurglut in Hoffmanns »Phantasiestücken« ist nicht die Flamme des Genies, sondern des Fiebers.”
Aber schon im nächsten Satz rückt Heine dieses harte Urteil in ein milderes Licht:
„Aber haben wir ein Recht zu solchen Bemerkungen, wir, die wir nicht allzusehr mit Gesundheit gesegnet sind? Und gar jetzt, wo die Literatur wie ein großes Lazarett aussieht? Oder ist die Poesie vielleicht eine Krankheit des Menschen wie die Perle eigentlich nur der Krankheitsstoff ist, woran das arme Austertier leidet?” (Zit. nach Projekt Gutenberg-DE)
Darüber wäre nachzudenken - oder ein literarischer Essay zu schreiben.

 

  

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