Georg Büchner: Woyzeck (1837) | |
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![]() Johann Christian Woyzeck 1780 - 1824 |
Der Fall Woyzeck
Der 41-jährige ehemalige Soldat und jetzt arbeitlose Perückenmacher J.C.Woyzeck ersticht am 3. Juni 1821 seine Geliebte, die 46-jährige Witwe des Chirurgen Woost, im Hauseingang ihrer Wohnung in Leipzig. Für jenen Abend hatte sie ihm zwar ein Rendezvous versprochen, war aber mit einem anderen ausgegangen. Woyzeck war es bekannt, dass die Witwe mit anderen Männern, vorzugsweise mit Soldaten, Umgang pflegte. Schon am Nachmittag hatte er sich das Mordinstrument, eine abgebrochene Degenklinge, besorgt und einen Griff daranmachen lassen. Nach der Tat lässt er sich widerstandslos festnehmen. Der Verteidiger wirft die Frage auf, ob der Täter überhaupt recht bei Verstand sei und regt eine gerichtsärztliche Beobachtung von Woyzecks Geisteszustand an. Diese wird von Hofrat Dr. J.C.A. Clarus durchgeführt, welcher im September 1821 sein Gutachten vorlegt: Woyzeck zeige zwar deutliche "Kennzeichen von moralischer Verwilderung", weise aber keine Geistesstörungen auf. Daraufhin wird Woyzeck zum Tod durch das Schwert verurteilt. Ein zweites Gutachten wird angefordert, als man erfährt, dass Woyzeck öfters von Stimmen heimgesucht worden sei, die ihm den Mord befohlen haben. Das zweite Clarus-Gutachten bleibt bei dem Standpunkt, die Tat sei ein Ergebnis von moralischer Verkommenheit und sexueller Zügellosigkeit, die Stimmen und Visionen seien "durch Unordnungen des Blutumlaufes erregt". (Die Clarus-Gutachten, insbesondere das zweite, welches einen detaillierten Lebenslauf Woyzeks enthält, sind auch für sich genommen schon eine spannende und aufschlussreiche Lektüre - zu finden im Anhang der gängigen Studienausgaben bei Hanser oder dtv.) |
Stoffgeschichte
Die Veröffentlichung der Clarus-Gutachten in medizinischen Fachzeitschriften ("Zeitschrift für Staatsarzneikunde" 1824 und 1826) erregte eine öffentliche Diskussion über Woyzecks Unzurechnungsfähigkeit und die physiologische Deutung von dessen Sinneswahrnemungen. Georg Büchners Vater war Mitarbeiter dieser Zeitschrift und steuerte selbst Berichte über merkwürdige Fälle aus seiner Arztpraxis bei. Im Büchnerschen Haushalt existierten die gesammelten Jahrgänge der Zeitschrift und Georg Büchner hat als Medizinstudent und während seines Aufenthalts im Elternhaus im Herbst 1834 (siehe Biografie) die Gutachten gelesen. Gearbeitet hat er an diesem Drama, von dem es keine endgültige Fassung gibt, 1836/7 in Straßburg und Zürich. Überliefert ist es in drei Handschriften, in denen sich auch das Bild des Protagonisten Woyzeck verändert: Jeder Leseausgabe oder Bühnenfassung liegt also bereits eine Interpretation dieser Entwürfe zugrunde.(*) (* Hinweis für Lehrer: Clemens Kammler macht diese Tatsache und den Fragmentcharakter des 'Woyzeck' zum Ausgangspunkt einer Unterrichtseinheit mit "dekonstruierender" Absicht; in C.Kammler, "Neue Literaturtheorien und Unterrichtspraxis", Schneider Verlag 2000 S.41 ff.) | |
Das Thema
"Letztlich - und das ist das Entscheidende - geht es im "Woyzeck" wie zuvor im "Landboten" und im "Danton" um die stets gleiche Frage: um die Abhängigkeit menschlicher Existenz von Umständen, die 'außer uns liegen'. Den "gräßlichen Fatalismus der Geschichte" und seine "zernichtende" Gewalt hatte Büchner schon in seiner frühesten Gießener Zeit empfunden. Das Studium der Geschichte, vor allem der großen politischen Umwälzungen, hatte ihm die Frage gestellt, die er als Schicksalsfrage menschlicher Existenz empfand: "Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?". Das aber war nichts anderes als die Frage nach den bestimmenden und verursachenden Faktoren des menschlichen Schicksals; es war die Frage nach Freiheit oder Vorherbestimmtheit menschlicher Willensentscheidungen, nach der Möglichkeit oder auch nur Sinnhaftigkeit, durch Handeln und Planen in den Geschichtsverlauf und den Verlauf des Einzellebens eingreifen zu können.
(...)
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- Die Gutachten über "Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Johann Christian Woyzeck" von Dr. Johann Christian August Clarus, K. Sächsischem Hofrath (wikisource.org)
Aus den im Vorhergehenden dargestellten Thatsachen und erörterten Gründen schließe ich: daß Woyzecks angebliche Erscheinungen und übrigen ungewöhnlichen Begegnisse als Sinnestäuschungen, welche durch Unordnungen des Blutumlaufes erregt und durch seinen Aberglauben und Vorurtheile zu Vorstellungen von einer objektiven und übersinnlichen Veranlassung gesteigert worden sind, betrachtet werden müssen, und daß ein Grund, um anzunehmen, daß derselbe zu irgend einer Zeit in seinem Leben und namentlich unmittelbar vor, bei und nach der von ihm verübten Mordthat sich im Zustande einer Seelenstörung befunden, oder dabei nach einem nothwendigen, blinden und instinktartigen Antriebe und überhaupt anders, als nach gewöhnlichen leidenschaftlichen Anreizungen gehandelt habe, nicht vorhanden sey."
- Carl Moritz Marc kritisiert Hofrath Clarus - "War der am 27ten August 1824 zu Leipzig hingerichtete Mörder Johann Christian Woyzeck zurechnungsfähig? Bamberg 1825
Ich darf kühn behaupten, daß wenn dieser Fall tausend Gerichtsärzten zur Entscheidung vorgelegt worden wäre, keiner mit einer solchen Gewißheit, wie Hr. CL. es that, unter so schwierigen Umständen die Zurechnungsfähigkeit ausgesprochen haben würde, und nach den bisherigen Grundsätzen fast aller medizinisch-gerichtlichen Autoren älterer und neuerer Zeit solches auch nicht gedürft hätte. Die meisten würden die Frage, ob die begangene That des W. in einem nothwendigen und unmittelbaren Zusammenhang mit dem Gemüthszustand des Inquisiten gestanden, nicht mit Gewißheit bejahend beantwortet, jedoch mit einer sehr großen Wahrscheinlichkeit sich dafür erklärt haben, daß der krankhafte Gemüths- und Körperzustand des W. einen Einfluß auf die Mordthat gehabt habe, wodurch die Zurechnungsfähigkeit in Zweifel gezogen, in jedem Falle aber sehr vermindert erscheine."
- Büchner und der "gräßliche Fatalismus der Geschichte"
- Woyzeck. Der Text nach der Handschrift
- und Woyzeck. Die Lesefassung im BüchnerPortal.de.
- Szenen-Synopse nach Reclam-Heft Nr. 7733 (Cornelia Steinmann)
Ohne ein bisschen Werbung geht es nicht. Ich bitte um Nachsicht, falls diese nicht immer ganz Themen-gerecht sein sollte.