Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
Siebzehntes Kapitel
Wissenschaft und Christenthum.
Monistische Studien über den Kampf zwischen der
wissenschaftlichen Erfahrung und der christlichen Offenbarung. Die vier
Perioden in der historischen Metamorphose der christlichen Religion.
Vernunft und Dogma.
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Inhalt: Wachsender Gegensatz zwischen moderner
Naturerkenntniß und christlicher Weltanschauung. Der alte und der
neue Glaube. Vertheidigung der vernünftigen Wissenschaft gegen
die Angriffe des christlichen Aberglaubens, vor Allem gegen den
Papismus. Vier Perioden in der Entwickelungsgeschichte des
Christenthums. I. Das Urchristenthum (drei Jahrhunderte). Die vier
kanonischen Evangelien. Die Episteln Pauli. II. Der Papismus (das
ultramontane Christenthum). Rückschritt der Kultur im Mittelalter.
Ultramontane Geschichtsfälschung. Papismus und Wissenschaft.
Papismus und Christenthum. III. Die Reformation. Luther und Calvin.
Das Jahrhundert der Aufklärung. IV. Das Scheinchristenthum des
19. Jahrhunderts. Die Kriegserklärung des Papstes gegen die
Vernunft und Wissenschaft: I. Unfehlbarkeit. II. Encyklika. III.
Unbefleckte Empfängniß.
Zu den hervorragenden Charakterzügen des scheidenden 19.
Jahrhunderts gehört die wachsende Schärfe des Gegensatzes
zwischen Wissenschaft und Christenthum. Das ist ganz natürlich
und nothwendig; denn in demselben Maße, in welchem die
siegreichen Fortschritte der modernen Naturerkenntniß alle
wissenschaftlichen Eroberungen früherer Jahrhunderte
überflügeln, ist zugleich die Unhaltbarkeit aller jener
mystischen Weltanschauungen offenbar geworden, welche die Vernunft
unter das Joch der sogenannten "Offenbarung" beugen wollen;
und dazu gehört auch die christliche Religion. Je sicherer durch die
moderne Astronomie, Physik und Chemie die Alleinherrschaft
unbeugsamer Naturgesetze im Universum, durch die moderne Botanik,
Zoologie und Anthropologie die Gültigkeit derselben Gesetze im
Gesammtbereiche der organischen Natur nachgewiesen ist, desto
heftiger sträubt sich die christliche Religion, im Vereine mit der
dualistischen Metaphysik, die Geltung dieser Naturgesetze im Bereiche
des sogenannten "Geisteslebens" anzuerkennen, d. h. in einem
Theilgebiete der Gehirn-Physiologie.
Diesen offenkundigen und unversöhnlichen Gegensatz zwischen
der modernen wissenschaftlichen und der überlebten christlichen
Weltanschauung hat Niemand klarer, muthiger und unwiderleglicher
bewiesen als der größte Theologe des 19. Jahrhunderts,
David Friedrich Strauß. Sein letztes Bekenntniß: "Der
alte und der neue Glaube" (1872, vierzehnte Auflage 1900) ist der
allgemein gültige Ausdruck der ehrlichen Ueberzeugung aller
derjenigen Gebildeten der Gegenwart, welche den unvermeidlichen
Konflikt zwischen den anerzogenen, herrschenden Glaubenslehren des
Christenthums und den einleuchtenden, vernunftgemäßen
Offenbarungen der modernen Naturwissenschaft einsehen; aller
derjenigen, welche den Muth finden, das Recht der Vernunft
gegenüber den Ansprüchen des Aberglaubens zu
wahren, und welche das philosophische Bedürfniß nach einer
einheitlichen Naturanschauung empfinden. Strauß hat als
ehrlicher und muthiger Freidenker weit besser, als ich es vermag, die
wichtigsten Gegensätze zwischen "altem und neuem Glauben"
klargelegt. Die volle Unversöhnlichkeit des Entscheidungskampfes
zwischen beiden - "auf Tod und Leben" - hat von philosophischer Seite
namentlich Eduard Hartmann nachgewiesen in seiner
interessanten Schrift über die Selbstzersetzung des Christenthums
(1874).
Unter den zahlreichen Werken, die im Laufe des 19. Jahrhunderts die
wissenschaftliche Kritik des Christenthums, seines Wesens und seiner
Lehre gefördert haben, sind außerdem namentlich folgende
hervorzuheben: David Strauß, Das Leben Jesu für das
deutsche Volk. 1864 (XI. Auflage, Bonn 1890). Ludwig Feuerbach,
Das Wesen des Christenthums. 1841 (IV. Aufl. 1883). Paul de
Regla (P. Desjardin), Jesus von Nazareth, vom wissenschaftlichen,
geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte dargestellt. Leipzig,
1894. S. E. Verus, Vergleichende Uebersicht der vier Evangelien.
Leipzig, 1897.
Wenn man die Werke von Strauß und Feuerbach,
sowie die "Geschichte der Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft"
von John William Draper (1875) gelesen hat, könnte es
überflüssig erscheinen, diesem Gegenstande hier ein
besonderes Kapitel zu widmen. Trotzdem wird es nützlich und
nothwendig sein, hier einen kritischen Blick auf den historischen
Verlauf dieses großen Kampfes zu werfen, und zwar deshalb, weil
die Angriffe der streitenden Kirche auf die Wissenschaft im
Allgemeinen und auf die Entwickelungslehre im Besonderen in neuester
Zeit besonders scharf und gefahrdrohend geworden sind. Auch ist leider
die geistige Erschlaffung, welche sich neuerdings geltend macht, so wie
die steigende Fluth der Reaktion auf politischem, socialem und
kirchlichem Gebiete nur zu sehr geeignet, jene Gefahren zu
verschärfen. Wollte Jemand daran zweifeln, so braucht er nur die
Verhandlungen der christlichen Synoden und des Deutschen Reichstags
in den letzten Jahren zu lesen. Im Einklang damit stehen die
Bemühungen vieler weltlicher Regierungen, sich mit dem
geistlichen Regimente, ihrem natürlichen Todfeinde, auf
möglichst gutem Fuß zu setzen, d. h. sich dessen Joche zu
unterwerfen; als gemeinsames Ziel schwebt dabei den beiden
Verbündeten die Unterdrückung des freien Gedankens und
der freien wissenschaftlichen Forschung vor, mit dem Zwecke, sich auf
diese Weise am leichtesten die absolute Herrschaft zu sichern.
Wir müssen ausdrücklich betonen, daß es sich hier um
nothgedrungene Vertheidigung der Wissenschaft und der
Vernunft gegen die scharfen Angriffe der christlichen Kirche und ihrer
gewaltigen Heerschaaren handelt, und nicht etwa um unberechtigte
Angriffe der ersteren gegen die letzteren. In erster Linie
muß dabei unsere Abwehr gegen den Papismus oder
Ultramontanismus gerichtet sein; denn diese "allein selig
machende" und "für Alle bestimmte" katholische Kirche ist nicht
allein weit größer und weit mächtiger als die anderen
christlichen Konfessionen, sondern sie besitzt vor Allem den Vorzug
einer großartigen, centralisirten Organisation und einer
unübertroffenen politischen Schlauheit. Man hört allerdings
oft von Naturforschern und von anderen Männern der
Wissenschaft die Ansicht äußern, daß der katholische
Aberglaube nicht schlimmer sei als die anderen Formen des
übernatürlichen Glaubens, und daß diese
trügerischen "Gestalten des Glaubens" alle in gleichem Maße
die natürlichen Feinde der Vernunft und Wissenschaft seien. Im
allgemeinen theoretischen Princip ist diese Behauptung richtig, aber in
Bezug auf die praktischen Folgen irrthümlich; den die
zielbewußten und rücksichtslosen Angriffe der
ultramontanen Kirche auf die Wissenschaft, gestützt auf die
Trägheit und Dummheit der Volksmassen, sind vermöge
ihrer mächtigen Organisation ungleich schwerer und
gefährlicher als diejenigen aller anderen Religionen.
Entwickelung des Christenthums. Um die ungeheure
Bedeutung des Christenthums für die ganze Kulturgeschichte,
besonders aber seinen principiellen Gegensatz gegen Vernunft und
Wissenschaft richtig zu würdigen, müssen wir einen
flüchtigen Blick auf die wichtigsten Abschnitte seiner
geschichtlichen Entwickelung werfen. Wir unterscheinen in derselben
vier Hauptperioden: I. das Urchristenthum (die drei ersten
Jahrhunderte), II. den Papismus (zwölf Jahrhunderte, vom
vierten bis zu fünfzehnten), III. die Reformation (drei
Jahrhunderte, von sechzehnten bis achtzehnten), IV. das moderne
Scheinchristenthum (im neunzehnten Jahrhundert).
I. Das Urchristenthum umfaßt die ersten drei Jahrhunderte.
Christus selbst, der edle, ganz von Menschenliebe erfüllte Prophet
und Schwärmer, stand tief unter dem Niveau der klassischen
Kulturbildung; er kannte nur jüdische Tradition; er hat selbst
keine einzige Zeile hinterlassen. Auch hatte er von dem hohen Zustande
der Welterkenntniß, zu dem die griechische Philosophie und
Naturforschung schon ein halbes Jahrtausend früher sich erhoben
hatten, keine Ahnung. Was wir daher von ihm und von seiner
ursprünglichen Lehre wissen, schöpfen wir aus den
wichtigsten Schriften des Neuen Testamentes: erstens aus den vier
Evangelien und zweitens aus den paulinischen Briefen. Von den vier
kanonischen Evangelien wissen wir jetzt, daß sie im Jahre 325
auf dem Koncil zu Nicäa durch 3318 versammelte Bischöfe
aus einem Haufen von wiedersprechenden und gefälschten
Handschriften der drei ersten Jahrhunderte ausgesucht wurden. Auf die
weitere Wahlliste kamen vierzig, auf die engere vier Evangelien. Da sich
die streitenden, boshaft sich schmähenden Bischöfe
über die Auswahl nicht einigen konnten, beschloß man, die
Auswahl durch ein göttliches Wunder bewirken zu lassen, man
legte alle Bücher zusammen unter den Altar und betete, daß
die unechten, menschlichen Ursprungs, darunter liegen bleiben
möchten, die echten von Gott selbst eingegebenen dagegen auf den
Tisch des Herrn hinaufhüpfen möchten. Und das geschah
wirklich! Die drei synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus,
Lukas - alle drei nicht von ihnen, sondern nach ihnen
niedergeschrieben, im Beginn des zweiten Jahrhunderts -) und
das ganz verschiedene vierte Evangelium (angeblich nach
Johannes, in der Mitte des zweiten Jahrhunderts abgefaßt), alle
vier hüpften auf den Tisch und wurden nunmehr zu echten
(tausendfach sich widersprechenden!) Grundlagen der christlichen
Glaubenslehre. Sollte ein moderner "Ungläubiger" dieses
"Bücherhüpfen" unglaubwürdig finden, so
erinnern wir ihn daran, daß das ebenso glaubhafte
"Tischrücken" und "Geisterklopfen" noch heute von
Millionen "gebildeter" Spiritisten fest geglaubt wird; und Hunderte von
Millionen gläubiger Christen sind noch heute ebenso fest von ihrer
eigenen Unsterblichkeit, ihrer "Auferstehung nach dem Tode" und von
der "Dreieinigkeit Gottes" überzeugt - Dogmen, welcher der reinen
Vernunft nicht mehr und nicht weniger widersprechen als jenes
wunderbare Springen der Evangelien-Handschriften. Näheres
darüber berichtet der englische Theologe Saladin (Stewart
Rofs) in seiner scharfsinnigen, neuerdings vielbesprochenen Schrift:
"Jehovahs Gesammelte Werke", eine kritische Untersuchung des
jüdisch-christlichen Religions-Gebäudes auf Grund der
Bibelforschung, Leipzig 1896. (Vergl. Anm. 4, S. 159.).
Nächst den Evangelien sind bekanntlich die wichtigsten Quellen
die 13 verschiedenen (größtentheils gefälschten!)
Episteln des Apostels Paulus. Die echten paulinischen Briefe (der
neueren Kritik zufolge nur vier: an die Römer, die Galater und die
beiden Korinther-Briefe) sind sämmtlich früher
niedergeschrieben als die vier kanonischen Evangelien und enthalten
weniger unglaubliche Wundersagen als die letzteren; auch suchen sie
mehr als diese sich mit einer vernünftigen Weltanschauung zu
vereinigen. Die aufgeklärte Theologie der Neuzeit konstruirt daher
theilweise ihr ideales Christenthum mehr auf Grund der Paulus-Briefe als
der Evangelien, so daß man dasselbe geradezu als
Paulinismus bezeichnet hat. Die bedeutende Persönlichkeit
des Apostels Paulus, der jedenfalls viel mehr Weltkenntniß und
praktischen Sinn befaß als Christus, ist für die
anthropologische Beurtheilung auch insofern interessant, als der
Rassen-Ursprung der beiden großen Religions-Stifter
ähnlich sein soll. Auch den beiden Eltern des Paulus soll
(neueren historischen Forschungen zufolge) der Vater griechischer, die
Mütter jüdischer Rasse sein. Die Mischlinge dieser beiden
Rassen, die ursprünglich ja sehr verschieden sind (obgleich beide
Zweige derselben Species: Homo mediterraneus!), zeichnen
sich oft durch eine glückliche Mischung der Talente und
Charakter-Eigenschaften aus, wie auch viele Beispiele aus neuerer Zeit
und aus der Gegenwart beweisen. Die plastische orientalische Phantasie
der Semiten und die kritische occidentale Vernunft der
Arier ergänzen sich oft in vortheilhafter Weise. Das zeigt
sich auch in der paulinischen Lehre, die bald größeren
Einfluß gewann als die älteste urchristliche Anschauung. Man
hat daher auch den Paulinismus mit Recht als eine neue
Erscheinung bezeichnet, deren Vater die griechische Philosophie, deren
Mutter die jüdische Religion war; eine ähnliche Mischung
zeigte der Neuplatonismus.
Ueber die ursprünglichen Lehren und Ziele von Christus -
ebenso wie über viele wichtigen Seiten seines Lebens - sind die
Ansichten der streitenden Theologen um so mehr auseinander gegangen,
je mehr die historische Kritik (Strauß, Feuerbach,
Baur, Renan u. s. w.) die zugänglichen Thatsachen in
ihr wahres Licht gestellt und unbefangene Schlüsse daraus
gezogen hat. Sicher bleibt davon stehen das edelste Princip der
allgemeinen Menschenliebe und der daraus folgende höchste
Grundsatz der Sittenlehre: die "goldene Regel" - beide
übrigens schon Jahrhunderte vor Christus bekannt und
geübt (vergl. Kap. 19)! Im Uebrigen waren die Urchristen
der ersten Jahrhunderte zum größten Theil reine
Kommunisten, zum Theil Social-Demokraten, die nach den heute
in Deutschland herrschenden Grundsätzen mit Feuer und Schwert
hätten vertilgt werden müssen.
II. Der Papismus. Das "lateinische Christenthum" oder
Papstthum, die "romisch-katholische Kirche", oft auch als
Ultramontanismus, nach ihrer Residenz Vatikanismus oder
kurz Papismus bezeichnet, ist unter allen Erscheinungen der
menschlichen Kulturgeschichte eine der großartigsten und
merkwürdigsten, eine "welthistorische Größe" ersten
Ranges; trotz aller Stürme der Zeit erfreut sie sich noch heute des
mächtigsten Einflusses. Von den 410 Millionen Christen, welche
die Erde gegewärtig bewohnen, bekennt die größere
Hälfte, nämlich 225 Millionen, den römischen, nur 75
Millionen den griechischen Katholicismus, und 110 Millionen sind
Protestanten. Während eines Zeitraumes von 1200 Jahren, vom
vierten bis zum sechzehnten Jahrhundert, hat der Papismus das geistige
Leben Europa's vollkommen beherrscht und vergiftet; dagegen hat er
den großen alten Religions-Systemem in Asien und Afrika nur sehr
wenig Boden abgewonnen. In Asien zählt der Buddhismus heute
noch 503 Millionen, die Brahma-Religion 138 Millionen, der Islam 120
Millionen Anhänger. Die Weltherrschaft des Papismus prägt
vor Allem dem Mittelalter seinen finsteren Charakter auf; sie
bedeutet Tod alles freien Geisteslebens, den Rückgang aller
wahren Wissenschaft, den Verfall aller reinen Sittlichkeit. Von der
glänzenden Blüthe, zu welcher sich das menschliche
Geistesleben im klassischen Alterthum erhoben hatte, im ersten
Jahrtausend vor Christus und in den ersten Jahrhunderten nach
demselben, sank dasselbe unter der Herrschaft des Papstthums bald zu
einen Niveau herab, das mit Bezug auf die Erkenntniß der
Wahrheit nur als Barbarei bezeichnet werden kann. Man
rühmt wohl am Mittelalter, daß andere Seiten des
Geisteslebens darin zu reicher Entfaltung gekommen seien, Dichtkunst
und bildende Kunst, scholastische Gelehrsamkeit und patristische
Philosophie. Aber diese Kulturthätigkeit befand sich im Dienste
der herrschenden Kirche und wurde nicht zur Hebung, sondern zur
Unterdrückung der freien Geistesforschung verwandt. Die
ausschließliche Vorbereitung für ein unbekanntes "ewiges
Leben im Jenseits", die Verachtung der Natur, die Abwendung von
ihrem Studium, welche im Princip der christlichen Religion innewohnt,
wurde von der römischen Hierarchie zur heiligen Pflicht gemacht.
Eine Wandlung zum Besseren brachte erst im Beginn des 16.
Jahrhunderts die Reformation.
Rückschritte der Kultur im Mittelalter. Es würde uns
viel zu weit führen, wenn wir hier die jammervollen
Rückschritte schildern wollten, welche menschliche Kultur und
Gesittung während zwölf Jahrhunderte unter der geistigen
Gewaltherrschaft des Papismus erlitten. Am prägnantesten sind
dieselben wohl durch einen einzigen Satz des größten und
geistreichsten Hohenzollern-Fürsten illustrirt; Friedrich
der Große faßte sein Urtheil in dem Satze zusammen, man
werde durch das Studium der Geschichte zu der Ueberzeugung
geführt, daß von Konstantin dem Großen bis auf die Zeit
der Reformation die ganze Welt wahnsinnig gewesen sei. Eine
vortreffliche kurze Schilderung dieser "Wahnsinns-Periode" hat (1887)
L. Büchner gegeben in seiner Schrift "Ueber religiöse
und wissenschaftliche Weltanschauung". Wer sich näher
darüber unterrichten will, den verweisen wir auf die
Geschichtswerke von Ranke, Draper, Kolb,
Svoboda u. s. w. Die wahrheitsgemäße Darstellung,
welche diese und andere unbefangene Historiker von den grauenhaften
Zuständen des christlichen Mittelalters geben, wird
bestätigt durch alle ehrliche Quellenforschung und durch die
kulturgeschichtlichen Denkmäler, welche diese traurigste
Periode der menschlichen Geschichte überall hinterlassen hat.
Gebildete Katholiken, welche ehrlich die Wahrheit suchen,
können nicht genug auf das eigene Studium dieser Quellen
hingewiesen werden. Dies ist um so mehr zu betonen, als auch
gegenwärtig noch die ultramontane Literatur einen gewaltigen
Einfluß besitzt; das alte Kunststück, durch dreiste Umkehrung
der Thatsachen und Erfindung von Wundermärchen das
"gläubige Volk" zu bethören, wird auch heute noch von ihr
mit größtem Erfolge angewendet; wir erinnern nur an
Lourdes und an den "Heiligen Rock" von Trier (1844, erneuert
1890). Wie weit die Entstellung der Wahrheit selbst in
wissenschaftlichen Werken geht, davon liefert ein auffälliges
Beispiel der ultramontane Professor der Geschichte Johannes
Janssen in Frankfurt a. M.; seine vielgelesenden Werke (besonders
die "Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des
Mittelalters", in zahlreichen Auflagen erschienen) leisten das
Unglaublichste an dreister Geschichtsfälschung. Die
Verlogenheit dieser jesuitischen Fälschungen steht auf gleicher
Stufe mit der Leichtgläubigkeit und Kritiklosigkeit des
einfältigen deutschen Volkes, das sie als baare Münze
annimmt.
Papismus und Wissenschaft. Unter den historischen
Thatsachen, welche am einleuchtendsten die Verwerflichkeit der
ultramontanen Geistestyrannei beweisen, unteresirt uns vor Allem ihre
energische und konsequente Bekämpfung der wahren
Wissenschaft als solcher. Diese war zwar schon von Anfang an
principiell im Christenthum dadurch bestimmt, daß dasselbe den
Glauben über die Vernunft stellte und die blinde Unterwerfung
der letzteren unter den ersteren forderte; nicht minder dadurch,
daß es das ganze Erdenleben nur als eine Vorbereitung für
das erdichtete "Jenseits" betrachtete, also auch der wissenschaftlichen
Forschung an sich jeden Werth absprach. Allein die
planmäßige und erfolgreiche Bekämpfung der letzteren
begann doch erst im Anfange des vierten Jahrhunderts, besonders seit
dem berüchtigten Konzil von Nicäa (325), welchem Kaiser
Konstantin präsidirte, - "der Große" ganannt,
weil er das Christenthum zur Staatsreligion erhob und Konstantinopel
gründete, dabei ein nichtswürdiger Charakter, ein falscher
Heuchler und vielfacher Mörder. Wie erfolgreich der Papismus in
seinem Kampfe gegen jedes selbstständige wissenschaftliche
Denken und Forschen war, beweist am besten der jammervolle Zustand
der Naturerkenntniß und ihrer Literatur im Mittelalter. Nicht nur
wurden die reichen Geistesschätze, welche das klassische
Alterthum hinterlassen hatte, zum größten Theil vernichtet
oder der Verbreitung entzogen, sondern Folterknechte und
Scheiterhaufen sorgten dafür, daß jeder "Ketzer", d. h. jeder
selbstständige Denker, seine vernünftigen Gedanken
für sich behielt. That er das nicht, so mußte er sich darauf
gefaßt machen, lebendig verbrannt zu werden, wie es dem
großen monistischen Philosophen Giordano Bruno, dem
Reformator Johann Huß und mehr als hunderttausend
anderen "Zeugen der Wahrheit" geschah. Die Geschichte der
Wissenschaften im Mittelalter belehrt uns auf jeder Seite, daß das
selbstständige Denken und die empirische wissenschaftliche
Forschung unter dem Drucke des allmächtigen Papismus durch
zwölf traurige Jahrhunderte wirklich völlig begraben
blieben.
Papismus und Christenthum. Alles das, was wir am wahren
Christenthum im Sinne seines Stifters und seiner edelsten Nachfolger
hochschätzen, und was wir aus dem unausbleiblichen Untergange
dieser "Weltreligion" in unsere neue monistische Religion hinüber
zu retten suchen müssen, liegt auf seiner ethischen und
socialen Seite. Die Principien der wahren Humanität, der
goldenen Regel, der Toleranz, der Menschliebe im besten und
höchsten Sinne des Wortes, all diese wahren Lichtseiten des
Christenthums sind zwar nicht von ihm zuerst erfunden und aufgestellt,
aber doch erfolgreich in jener kritischen Periode zur Geltung gebracht
worden, in der das klassiche Alterthum seiner Auflösung
entgegenging. Der Papismus aber hat es verstanden, alle jene Tugenden
in ihr direktes Gegentheil zu verkehren und dabei doch die
alte Firma als Aushängeschild zu bewahren. An die Stelle
der christlichen Liebe trat der fanatische Haß gegen alle
Andersgläubigen; mit Feuer und Schwert wurden nicht allein die
Heiden ausgerottet, sondern auch jene christlichen Sekten, welche in
besserer Erkenntniß Einwendungen gegen die aufgezwungenen
Lehrsätze des ultramontanen Aberglaubens zu erheben wagten.
Ueberall in Europa blühten die Ketzergerichte und forderten
unzählige Opfer, deren Folterqualen ihren frommen, von
"christlicher Bruderliebe" erfüllten Peinigern besonderen
Vergnügen bereiteten. Die Papstmacht wüthete auf ihrer
Höhe durch Jahrhunderte erbarmungslos gegen Alles, was ihrer
Herrschaft im Wege stand. Unter dem berüchtigten Groß-Inquisitor
Torquemada (1481-1498) wurden allein in Spanien
achttausend Ketzer lebendig verbrannt, neunzigtausend mit Einziehung
des Vermögens und den empfindlichsten Kirchenbußen
bestraft, während in den Niederlanden unter der Herrschaft Karl's
des Fünften dem klerikalen Blutdurst mindestens
fünfzigtausend Menschen zum Opfer fielen. Und während
das Geheul gemarterter Menschen die Luft erfüllte, strömten
in Rom, dem die ganze christliche Welt tributpflichtig war, die
Reichthümer der halben Welt zusammen, und wälzten sich
die angeblichen Stellvertreter Gottes auf Erden und ihre Helfershelfer
(welche selbst nicht selten dem weitestgehenden Atheismus huldigten!)
in Lüsten und Lastern jeder Art. "Welche Vortheile," sagte der
frivole und syphilitische Papst Leo X. ironisch, "hat uns doch
diese Fabel von Jesus Christus gebracht!" Dabei war der Zustand
der europäischen Gesellschaft trotz Kirchenzucht und Gottesfurcht
von der allerschlimmsten Art. Feudalismus, Leibeigenschaft,
Gottesgnadenthum und Mönchthum beherrschten das Land, und
die armen Heloten waren froh, wenn sie ihre elenden Hütten im
Machtbereiche der Schlösser oder Klöster ihrer geistlichen
und weltlichen Unterdrücker und Ausbeuter errichten durften.
Heutzutage noch leiden wir unter den Nachwehen und Ueberbleibseln
dieser traurigen Zustände und Zeiten, in welchen von Pflege der
Wissenschaft und höherer Geistesbildung nur ausnahmsweise und
im Verborgenen die Rede sein konnte. "Unwissenheit, Armuth und
Aberglaube vereinigten sich mit der entsittlichenden Wirkung des im
elften Jahrhundert eingeführten Cölibats, um die
absolute Papstmacht immer stärker werden zu lassen"
(Büchner a a. O.). Man hat berechnet, daß
während dieser Glanzperiode des Papismus über zehn
Millionen Menschen dem fanatischen Glaubenshaß der
"christlichen Liebe" zum Opfer fielen; und wie viel mehr
Millionen betrugen die geheimen Menschenopfer, welche das
Cölibat, die Ohrenbeichte und der
Gewissenzwang erforderten, die gemeinschädlichen und
fluchwürdigsten Institutionen des päpstlichen Absolutismus!
Die "ungläubigen" Philosophen, welche Beweise gegen das
Dasein Gottes sammelten, haben einen der stärksten Beweise
dagegen übersehen, die Thatsache, daß die römischen
"Statthalter Christi" zwölf Jahrhunderte hindurch ungestraft
die greulichsten Verbrechen und Schandthaten "im Namen Gottes"
verüben durften.
III. Die Reformation. Die Geschichte der Kulturvölker,
welche wir "die Weltgeschichte" zu nennen belieben, läßt
deren dritten Hauptabschnitt, die "Neuzeit", mit der Reformation der
christlichen Kirche bginnen, ebenso wie den zweiten, das Mittelalter, mit
der Gründung des Christenthums, und sie thut recht daran. Denn
mit der Reformation beginnt die Wiedergeburt der gefesselten
Vernunft, das Wiedererwachen der Wissenschaft, welche die eiserne
Faust des christlichen Papismus durch 1200 Jahre gewaltsam
niedergehalten hatte. Allerdings hatte die Verbreitung allgemeiner
Bildung durch die Buchdruckerkunst schon um die Mitte des
fünfzehnten Jahrhunderts begonnen, und gegen Ende desselben
traten mehrere große Ereignisse ein, welche im Verein mit der
"Renaissance" der Kunst auch diejenige der Wissenschaft
vorbereiteten, vor Allen die Entdeckung von Amerika (1492). Auch
wurden in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts
mehrere höchst wichtige Fortschritte in der Erkenntniß der
Natur gemacht, welche die bestehende Weltanschauung in ihren
Grundfesten erschütterten; so die erste Umschiffung der Erde
durch Magellan, welche den empirischen Beweis für ihre
Kugelgestalt lieferte (1522); die Gründung des neuen Weltsystems
durch Kopernikus (1543). Aber der 31. Oktober 1517, an
welchem Martin Luther seine 95 Thesen an die hölzerne
Thür der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, bleibt daneben
ein weltgeschichtlicher Tag; denn damit wurde die eiserne Thür
des Kerkers gesprengt, in dem der päpstliche Absolutismus durch
1200 Jahre die gefesselte Vernunft eingeschlossen gehalten hatte. Man
hat die Verdienste des großen Reformators, der auf der Wartburg
die Bibel übersetzte, theils übertrieben, theils
unterschätzt; man hat auch mit Recht darauf hingewiesen, wie er
gleich den anderen Reformatoren noch vielfach im tiefsten Aberglauben
befangen blieb. So konnte sich Luther zeitlebens nicht von dem
starren Buchstabenglauben der Bibel befreien; er vertheidigte eifrig die
Lehre von der Auferstehung, der Erbsünde und
Prädestination, der Rechtferigung durch den Glauben u. s. w. Die
gewaltige Geistesthat des Kopernikus verwarf er als Narrheit,
weil der in der Bibel "Josua die Sonne stillstehen hieß und nicht das
Erdreich". Für die großen politischen Umwälzungen
seiner Zeit, besonders die großartige und vollberechtigte
Bauernbewegung, hatte er kein Verständniß. Schlimmer noch
war der fanatische Reformator Calvin in Genf, welcher (1553) den
geistreichen spanischen Arzt Servete lebendig verbrennen
ließ, weil er den unsinnigen Glauben an die Dreieinigkeit
bekämpfte. Ueberhaupt traten die fanatischen
"Rechtgläubigen" der reformirten Kirche leider nur zu oft in die
blutbefleckten Fußstapfen ihrer papistischen Todfeinde, wie sie es
auch heute noch thun. Leider folgten auch ungeheure Greuelthaten der
Reformation auf dem Fuße: Die Bartholomäus-Nacht und die
Hugenotten-Verfolgung in Frankreich, blutige Ketzer-Jagden in Italien,
lange Bürgerkriege in England, der Dreißigjährige Krieg
in Deutschland. Aber trotz alledem bleibt dem sechzehnten und
siebzehnten Jahrhundert der Ruhm, dem denkenden Menschengeiste
zuerst wieder freie Bahn geschaffen und die Vernunft von dem
erstickenden Druck der papistischen Herrschaft befreit zu haben. Erst
dadurch wurde die mächtige Entfaltung verschiedener Richtungen
der kritischen Philosophie und neuer Bahnen der Naturforschung
möglich, welche dann dem folgenden achtzehnten Jahrhundert den
Ehrentitel des "Jahrhunderts der Aufklärung" erwarb.
IV. Das Scheinchristenthum des neunzehnten Jahrhunderts.
Als vierten und letzten Hauptabschnitt in der Geschichte des
Christenthums stellen wir das 19. Jahrhundert seinen Vorgängern
gegenüber. Wenn in diesen letzteren bereits die
"Aufklärung" nach allen Richtungen hin die kritische
Philosophie gefördert, und wenn das Aufblühen der
Naturwissenschaften derselben die stärksten empirischen Waffen
in die Hände gegeben hatte, so erscheint uns doch der Fortschritt
nach beiden Richtungen hin in unserem 19. Jahrundert ganz gewaltig; es
beginnt damit wiederum eine ganz neue Periode in der Geschichte des
Menschengeistes, chrakterisirt durch die Entwickelung der
monistischen Naturphilosophie. Schon im Beginne desselben
wurde der Grund zu einer neuen Anthropologie gelegt (durch die
vergleichende Anatomie von Cuvier) und zu einer neuen Biologie
(durch die Philosophie zoologique von Lamarck). Bald
folgten diesen beiden großen Franzosen zwei ebenbürtige
Deutsche, Baer als Begründer der Entwickelungsgeschichte
(1828) und Johannes Müller (1834) als der der
vergleichenden Morphologie und Physiologie. Ein Schüler des
Letzteren, Theordor Schwann, schuf 1838, im Verein mit M.
Schleiden, die grundlegende Zellentheorie. Schon vorher hatte
Lyell (1830) die Entwickelungsgeschichte der Erde auf
natürliche Ursachen zurückgeführt und damit auch
für unseren Planeten die Geltung der mechanischen Kosmogenie
bestätigt, welche Kant bereits 1755 mit kühner Hand
entworfen hatte. Endlich wurde durch Robert Mayer und
Helmholtz (1842) das Energie-Princip festgestellt und damit die
zweite, ergänzende Hälfte des großen Substanz-Gesetzes gegeben,
dessen erste Hälfte, die Konstanz der Materie,
schon Lavoisier endeckt hatte. Allen diesen tiefen Einblicken in
das innere Wesen der Natur setzte dann vor vierzig Jahren Charles
Darwin die Krone auf durch seine neue Entwickelungslehre, das
größte naturphilosophische Ereigniß des 19.
Jahrhunderts (1859).
Wie verhält sich nun zu diesen gewaltigen, alles Frühere
weit überbietenden Fortschritten der Naturerkenntniß das
moderne Christenthum? Zunächst wurde
natugemäß die tiefe Kluft zwischen den beiden
Hauptrichtungen desselben immer größer, zwischen dem
konservativen Papismus und dem progressiven Protestantismus.
Der ultramontane Klerus (- und im Verein mit ihm die orthodoxe
"Evangelische Allianz" -) mußten naturgemäß jenen
mächtigen Eroberungen des freien Geistes den heftigsten
Widerstand entgegensetzen; sie verharrten unbeirrt auf ihrem strengen
Buchstaben-Glauben und verlangten die unbedingte Unterwerfung der
Vernunft unter das Dogma. Der liberale Protestantismus hingegen
verflüchtigte sich immer mehr zu einem monistischen
Pantheismus und strebte nach Versöhnung der beiden
entgegengesetzten Principien; er suchte die unvermeidliche
Anerkennung der emprisich bewiesenen Naturgesetze und der daraus
gefolgerten philosophischen Schlüsse mit einer geläuterten
Religionsform zu verbinden, in der freilich von der eigentlichen
Glaubenslehre fast nichts mehr übrig blieb. Zwischen beiden
Extremen bewegten sich zahlreiche Kompromiß-Versuche;
darüber hinaus aber drang in immer weitere Kreise die
Ueberzeugung, daß das dogmatische Christenthum überhaupt
jeden Boden verloren habe, und daß man nur seinen werthvollen
ethischen Inhalt in die neue, monistische Religion des 20. Jahrhunderts
hinüberretten könne. Da jedoch gleichzeitig die gegebene
äußeren Formen der herrschenden christlichen
Religion fortbestanden, da sie sogar trotz der fortgeschrittenen
politischen Entwickelung mit den praktischen Bedürfnissen des
Staats immer enger verknüpft wurden, entwickelte sich jene
weitverbreitete religiöse Weltanschauung der gebildeten Kreise,
die wir nur als Scheinchristenthum bezeichnen können - im
Grunde eine "religiöse Lüge" bedenklichster Art. Die
großen Gefahren, welche dieser tiefe Konflikt zwischen der wahren
Ueberzeugung und dem falschen Bekenntniß der modernen
Scheinchristen mit sich bringt, hat u. A. trefflich Max Nordau
geschildert in seinem interessanten Werke: "Die Konventionellen
Lüger der Kulturmenschheit" (1883; XII. Auflage 1886).
Inmitten dieser offenkundigen Unwahrhaftigkeit des herrschenden
Scheinchristenthums ist es für den Fortschritt der
vernunftgemäßen Naturerkenntniß sehr werthvoll,
daß dessen mächtigster und entschiedenster Gegner, der
Papismus, um die Mitte des 19. Jahrhunderts die alte Maske
angeblicher höherer Geistesbildung fortgeworfen und der
selbstständigen Wissenschaft als solcher den
entscheidenden "Kampf auf Tod oder Leben" angekündigt hat. Es
geschah dies in drei bedeutungsvollen Kriegserklärungen gegen
die Vernunft, für deren Unzweideutigkeit und Entschiedenheit die
moderne Wissenschaft und Kultur dem römischen "Statthalter
Christi" nur dankbar sein kann: I. Im Dezember 1854 verkündete
der Papst das Dogma von der unbefleckten Empfängniß
Mariä. II. Zehn Jahre später, im Dezember 1864, sprach
der "heilige Vater" in der berüchtigten Encyklika das
absolute Verdammungs-Urtheil über die ganze moderne
Civilisation und Geistesbildung aus; in dem begleitenden
Syllabus gab er eine Aufzählung und Verfluchung aller
einzelnen Vernunftsätze und philosophischen Principien, welche
von unserer modernen Wissenschaft als sonnenklare Wahrheit
anerkannt sind. III. Endlich setzte sechs Jahre später, am 13. Juli
1870, der streitbare Kirchenfürst im Vatikan seinem Aberwitz die
Krone auf, indem er für sich und alle seine Vorgänger in der
Papstwürde die Unfehlbarkeit in Anspruch nahm. Dieser
Triumpf der römischen Kurie wurde der erstaunten Welt
fünf Tage später verkündet, am 18. Juli 1870, an
demselben denkwürdigen Tage, an welchem Frankreich den Krieg
an Preußen erklärte! Zwei Monate später wurde die
weltliche Herrschaft des Papstes infolge dieses Krieges aufgehoben.
Unfehlbarkeit des Papstes. Diese drei wichtigsten Akte des
Papismus im 19. Jahrhundert waren so offenkundige Faustschläge
in das Antlitz der Vernunft, daß sie selbst innerhalb der
orthodoxen katholischen Kreise von Anfang an das höchste
Bedenken erregten. Als man im vatikanischen Konzil am 13. Juli 1870
zur Abstimmung über das Dogma von der Unfehlbarkeit
schritt, erklärten sich nur drei Viertel der Kirchenfürsten zu
Gunsten desselben, nämlich 451 von 601 Abstimmenden; dazu
fehlten noch zahlreiche andere Bischöfe, welche sich der
gefährlichen Abstimmung enthalten wollten. Indessen zeigte sich
bald, daß der kluge und menschenkundige Papst richtiger
gerechnet hatte als die zaghaften "besonnenen Katholiken"; denn in den
leichtgläubigen und ungebildeten Massen fand auch dieses
ungeheuerliche Dogma trotz aller Bedenken blinde Annahme.
Die ganze Geschichte des Papstthums, wie sie durch Tausende von
zuverlässigen Quellen und von handgreiflichen historischen
Dokumenten unwiderleglich festgenagelt ist, erscheint für den
unbefangenen Kenner als ein gewissenloses Gewebe von Lug und Trug,
als ein rücksichtsloses Streben nach absoluter Macht, als eine
frivole Verleugnung aller der hohen sittlichen Gebote, welche das wahre
Christenthum predigt: Menschenliebe und Duldung, Wahrheit und
Keuschheit, Armuth und Entsagung. Wenn man die lange Reihe der
Päpste und der römischen Kirchenfürsten, aus denen
sie gewählt wurden, nach dem Maßstabe der reinen
christlichen Moral mustert, ergiebt sich klar, daß die große
Mehrzahl derselben schamlose Gaukler und Betrüger waren, viele
von ihnen nichtswürdige Verbrecher. Diese allbekannten
historischen Thatsachen hindern aber nicht, daß noch heute
Millionen von "gebildeten" Katholiken an die "Unfehlbarkeit" dieses
"heiligen Vaters" glauben, die er sich selbst zugesprochen hat; sie
hindern nicht, daß heute noch protestantische Fürsten nach
Rom fahren und den "heiligen Vater" (ihrem gefährlichsten
Feinde!) ihre Verehrung bezeugen; sie hindern nicht, daß noch
heute im Deutschen Reichstage die Knechte und Helfershelfer dieses
"heiligen Gauklers" die Geschicke des Deutschen Volkes bestimmen -
dank seiner unglaublichen politischen Unfähigkeit und seiner
kritiklosen Gläubigkeit!
Encyklika und Syllabus. Unter den angeführten drei
großen Gewaltthaten, durch welche der moderne Papismus in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seine absolute Herrschaft zu
retten und zu befestigen suchte, ist für uns am interessantesten
die Verkündigung der Encyklika und des Syllabus
im Dezember 1864; denn in diesen denkwürdigen
Aktenstücken wird der Vernunft und Wissenschaft
überhaupt jede selbstständige Thätigkeit
abgesprochen und ihre absolute Unterwerfung unter den
"alleinseligmachenden Glauben", d. h. unter die Dekrete des
"unfehlbaren Papstes", gefordert. Die ungeheure Erregung, welche diese
maßlose Frechheit in allen gebildeten und unabhängig
denkenden Kreisen hervorrief, entsprach dem ungeheuerlichen Inhalte
der Encyklika; eine vortreffliche Erörterung ihrer kulturellen und
politischen Bedeutung hat u. A. Draper in seiner Geschichte der
Konflikte zwischen Religion und Wissenschaft gegeben (1875).
Unbefleckte Empfängniß der Jungfrau Maria.
Weniger einschneidend und bedeutungsvoll als die Encyklika und als
das Dogma der Infallibilität des Papstes erscheint vielleicht das
Dogma von der unbefleckten Empfängniß. Indessen legt nicht
nur die römische Hierarchie auf diesen Glaubenssatz ds
höchste Gewicht, sondern auch ein Theil der orthodoxen
Protestanten (z. B. die Evangelische Allianz). Der sogenannte
"Immakulat-Eid", d. h. die eidliche Versicherung des
Glaubens an die unbefleckte Empfängniß Mariä, gilt
noch heute Millionen von Christen als heilige Pflicht. Viele
Gläubige verbinden damit einen doppelten Begriff; sie behaupten,
daß die Mutter der Jungfrau Maria ebenso durch den "Heiligen
Geist" befruchtet worden sei, wie diese selbst. Demnach würde
dieser seltsame Gott sowohl zur Mutter als zur Tochter in den intimsten
Beziehungen gestanden haben; er müßte mithin sein eigener
Schwiegervater sein (Saladin). Die vergleichende und kritische Theologie
hat neuerdings nachgewiesen, daß auch dieser Mythus, gleich den
meisten anderen Legenden der christlichen Mythologie keienswegs
originell, sondern aus älteren Religionen, besonders dem
Buddhismus, übernommen ist. Aehnliche Sagen hatten
schon mehrere Jahrhunderte vor Christi Geburt eine weite Verbreitung
in Indien, Persien, Klein-Asien und Griechenland. Wenn
Königstöchter oder andere Jungfrauen aus höheren
Ständen, ohne legitim verheirathet zu sein, durch die Geburt eines
Kindes erfreut wurden, so wurde als der Vater dieses illegitimen
Sprößlings meistens ein "Gott" oder "Halbgott" ausgegeben, in
diesem Falle der mysteriöse "Heilige Geist".
Die besonderen Gaben des Geistes und Körpers, durch welche
solche "Kinder der Liebe" oft vor gewöhnlichen Menschenkindern
sich auszeichneten, wurden damit zugleich theilweise durch
Vererbung erklärt. Solche hervorragende
"Göttersöhne" standen sowohl im Alterthum als im
Mittelalter in hohem Ansehen, während der Moral-Kodex der
modernen Civilisation ihnen den Mangel der "legitimen" Eltern als Makel
anrechnet. In noch höherem Maße gilt dies von den
"Göttertöchtern", obwohl diese armen Mädchen an
dem fehlenden Titel ihres Vaters ebenso unschuldig sind. Uebrigens
weiß Jeder, der sich an der schönheitsvollen Mythologie des
klassischen Alterthums erfreut hat, wie gerade die angeblichen
Söhne und Töchter der griechischen und römischen
"Götter" sich oft den höchsten Idealen des reinen Menschen-Typus am
meisten genähert haben; man denke nur an die
große legitime und die noch viel größere illegitime
Familie des Göttervaters Zeus u. s. w. (Vgl. auch
Shakespeare.)
Was nun speciell die Befruchtung der Jungfrau Maria durch den heiligen
Geist betrifft, so werden wir duch das Zeugniß der Evangelien
selbst darüber aufgeklärt. Die beiden Evangelisten, welche
allein daüber Bericht erstatten, Matthäus und
Lukas, erzählen übereinstimmend, daß die
jüdische Jungfrau Maria mit dem Zimmermann Joseph verlobt
war, aber ohne dessen Mitwirkung schwanger wurde, und zwar durch
den "Heiligen Geist". Matthäus sagt ausdrücklich (Kap.
1, Vers 19): "Joseph aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht in
Schande bringen, gedachte aber sie heimlich zu verlassen"; er wurde
erst beschwichtigt, als ihm der "Engel des Herrn" mittheilte: "Was in ihr
geboren ist, das ist von dem heiligen Geist." Ausführlicher
erzählt Lukas (Kap. 1, Vers 26-38) die "Verkündigung
Mariä" durch den Erzengel Gabriel mit den Worten: "Der heilige
Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten
wird dich überschatten" - worauf Maria antwortet; "Siehe, ich bin
des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast." Bekanntlich ist
dieser Besuch des Engels Gabriel und seine Verkündigung von
vielen berühmten Malers zum Vorwurf interessanter
Gemälde gewählt worden. Svoboda sagt
darüber: "Der Erzengel spricht da mit einer Aufrichtigkeit, welche
die Malerei zum Glück nicht wiederholen konnte. Es zeigt sich auch
in diesem Falle die Veredelung eines prosaischen Bibelstoffes durch die
bildende Kunst. Allerdings gab es auch Maler, welche für die
embryologischen Betrachtungen des Erzengels Gabriel in ihren
Darstellungen volles Verständniß bekundeten."
Wie schon früher angeführt wurde, sind die vier
kanonischen Evangelien, welche der von christlichen Kirche allein als die
echten anerkannt und als die Grundlagen des Glaubens hochgehalten
werden, willkürlich ausgewählt aus einer viel
größeren Zahl von Evangelien, deren thatsächliche
Angaben sich oft unter sich nicht weniger widersprechen als die Sagen
der ersteren. Die Kirchenväter selbst zählen nicht weniger
als 40-50 solcher unechter oder apokrypher Evangelien auf; einige
davon sind sowohl in griechischer als in lateinischer Sprache vorhanden,
so z. B. das Evangelium des Jakobus, des Thomas, des Nikodemus u. A.
Die Angaben, welche diese apokryphen Evangelien über das Leben
Jesu machen, bsonders über seine Geburt und Kindheit,
können ebenso gut (oder größtentheils ebenso wenig!)
Anspruch auf historische Glaubwürdigkeit erheben als die vier
kanonischen, die sogenannten "echten" Evangelien. Nun findet sich aber
in einer jener apokryphen Schriften eine historische Angabe, die
wahrscheinlich das "Welträthsel" von der
übernatürlichen Empfängniß und Geburt Christi
ganz einfach und natürlich löst. Jener Geschichtsschreiber
erzählt mit trockenen Worten in einem Satze die
merkwürdige Novelle, welche diese Lösung enthält:
"Josephus Pandera, der römische Hauptmann einer
kalabresischen Legion, welche in Judäa stand, verführte
Mirjam von Bethlehem, ein hebräisches Mädchen und
wurde der Vater von Jesus." (Vergl. Celsus, 178 n. Chr.)
Natürlich werden diese historischen Angaben von den officiellen
Theologen sorgfältig verschwiegen, da sie schlecht zu dem
traditionellen Mythus passen und den Schleier von dessen
Geheimniß in sehr einfacher und natürlicher Weise
lüften. Um so mehr ist es gutes Recht der objektiven
Wahrheitsforschung und heilige Pflicht der reinen Vernunft,
diese wichtigen Angaben kritisch zu prüfen. Da ergiebt sich denn,
daß dieselben sicher weit mehr Anrecht auf Glaubwürdigkeit
haben, als alle anderen Behauptungen über den Ursprung Christi.
Da wir seine Parthenogenesis, die übernatürliche Erzeugung
durch "Ueberschattung des Höchsten", aus den bekannten
wissenschaftlichen Principien überhaupt als reinen Mythus
ablehnen müssen, bleibt nur noch die weitverbreitete Behauptung
der modernen "rationellen Theologie" übrig, daß der
jüdische Zimmermann Joseph der wahre Vater von Christus
gewesen sei. Diese Annahme wird aber durch verschiedene Sätze
des Evangeliums ausdrücklich wiederlegt; Christus selbst war
überzeugt, "Gottes Sohn" zu sein, und hat niemals seinen
Stiefvater Joseph als seinen Erzeuger anerkannt. Joseph aber wollte
seine Braut Maria verlassen, als er entdeckte, daß sie ohne sein
Zuthun schwanger geworden war. Er gab diese Absicht erst auf,
nachdem ihm im Traum ein "Engel des Herrn" erschienen war
und ihn beschwichtigt hatte. Wie im ersten Kapitel des Evangeliums
Matthäi (Vers 24, 25) ausdrücklich hervorgehoben wird,
fand die sexuelle Verbindung von Joseph und Maria zum ersten Male
statt, nachdem Jesus geboren war.
Die Angabe der alten apokryphen Schriften, daß der
römische Hauptmann Pandera oder Pantheras der
wahre Vater von Christus gewesen, erscheint um so glaubhafter, wenn
man von streng anthropologischen Gesichtspunkten aus die
Person Christi kritisch prüft. Gewöhnlich wird
derselbe als reiner Jude betrachtet. Allein gerade die Charakter-Züge, die
seine hohe und edle Persönlichkeit besonders
auszeichnen und welche seiner "Religion der Liebe" den Stempel
aufdrücken, sind entschieden nicht semitisch; vielmehr
erscheinen sie als Grundzüge der höheren arischen
Rasse und vor allem ihres edelsten Zweiges, der Hellenen.
Nun deutet aber der Name von Christus' wahrem Vater:
"Pandera", unzweifelhaft auf hellenischen Ursprung; in einer
Handschrift wird er sogar "Pandora" geschrieben. Pandora
war aber bekanntlich nach der griechischen Sage die erste, von Vulkan
aus Erde gebildete und von den Göttern mit allen Liebreizen
ausgestattete Frau, welche Epimetheus heirathete, und welche der
Götter-Vater mit der schrecklichen, alle Uebel enthaltenden
"Pandora-Büchse" zu den Menschen schickte, zur Strafe
dafür, daß der Lichtbringer Prometheus das
göttliche Feuer (der "Vernunft"!) vom Himmel entwendet hatte.
Interessant ist übrigens die verschiedene Auffassung und
Beurtheilung, welche der Liebesroman der Mirjam von Seiten der vier
großen christlichen Kultur-Nationen Europa's erfahren hat. Nach
den strengeren Moral-Begriffen der germanischen Rassen wird
derselbe schlechtweg verworfen; lieber glaubt der ehrliche Deutsche
und der prüde Brite blind an die unmögliche Sage von der
Erzeugung durch den "heiligen Geist". Wie bekannt, entspricht diese
strenge, sorgfältig zur Schau getragene Prüderie der
feineren Gesellschaft (besonders in England!) keineswegs dem wahren
Zustande der sexuellen Sittlichkeit in dem dortigen "High life". Die
Enthüllungen z. B., welche darüber vor einem Dutzend
Jahren die "Pall Mall Gazette" brachte, erinnerten sehr an die
Zustände von Babylon und an das Rom der Kaiserzeit.
Die romanischen Rassen, welche diese Prüderie verlachen
und die sexuellen Verhältnisse leichtfertiger beurtheilen, finden
jenen "Roman der Maria" recht anziehend, und der besondere
Kultus, dessen gerade in Frankreich und Italien "Unsere liebe Frau" sich
erfreut, ist oft in merkwürdiger Naivetät mit jener
Liebesgeschichte verknüft. So finden z. B. Paul de Regla
(Dr. Desjardin), welcher (1894) "Jesus von Nazareth vom
wissenschaftlichen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Standpunkte
aus dargestellt" hat, gerade in der unehelichen Geburt Christi ein
besonderes "Anrecht auf den Heiligenschein, der seine herrliche
Gestalt umstrahlt"!
Es erschien mir nothwendig, diese wichtigen Fragen der Christus-Forschung hier
offen im Sinne der objektiven Geschichts-Wissenschaft zu beleuchten, weil
die streitende Kirche selbst darauf
das größte Gewicht legt, und weil sie den darauf
gegründeten Wunderglauben als stärkste Waffe gegen die
moderne Weltanschauung verwendet. Der hohe ethische Werth des
ursprünglichen reinen Christenthums, der veredelnde Einfluß
diese "Religion der Liebe" auf die Kulturgeschichte, ist ganz
unabhängig von jenen mythologischen Dogmen. Die angeblichen
"Offenbarungen", auf welche sich diese Mythen stützen, sind
dagegen unvereinbar mit den sichersten Ergebnissen unserer modernen
Naturerkenntniß.
Inhalt,
Kapitel
1,
2,
3,
4,
5,
6,
7,
8,
9,
10,
11,
12,
13,
14,
15,
16,
17,
18,
19,
20,
Schlußwort,
Anmerkungen,
Nachwort
Copyright 1997.
Kurt Stüber
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