Dr. E. Bolleter: Bilder und Studien von einer Reise nach den Kanarischen
Inseln (1910)
Kapitel 6: Die Guanchen, die Urbevölkerung der Kanaren.
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Kapitel 7 ]
Die fremdartigste Erscheinung der kanarischen Flora ist zweifelsohne der
Drago. Seine Gestalt mutet uns vorweltlich an; die dicken unförmigen, grauen
Äste mit den riesigen Blattbüscheln stempeln ihn zu einen pflanzlichen Mammut.
Er stammt aus Afrika. Im frühen Tertiär war er auf dem ganzen afrikanischen
Kontinent verbreitet. Als die Kanaren Inseln wurden, war das Verbreitungsareal
des Dragos zerstückelt. Auf dem Festland mußte die Pflanze einer neuen
Flora weichen, auf den Inseln vermochte sie sich zu halten. Jetzt ist die
Existenz auch hier bedroht; die Einwanderung von neuen Pflanzen, die
bisherige Kultur des Menschen haben sie an vielen Orten vollständig ausgerottet.
Nur an wenigen unzugänglichen Stellen wächst sie noch wild; in nicht ferner
Zeit aber wird sie für immer vom Erdboden verschwunden sein.
Der Drachenbaumist ein trauriges Symbol für das Schicksal der Guanchen,
der Urbevölkerung der Kanarischen Inseln. Sie stammen ebenfalls aus Afrika.
Dort waren die Völker in steter Mischung begriffen, wobei die alten Sitten und
Gebräuche umgeprägt wurden oder verloren gingen; die Guanchen behielten auf ihren
Inseln alles, was sie mitgebracht, bei: Sprache, Glauben, Geräte, Lebensweise
usw. Als die Spanier im 15. Jahrhundert dieses Volk entdeckten, das den Gebrauch
des Erzes noch nicht kannte, in Höhlen wohnte, die Natur anbetete, von Schrift
nichts wußte, da mochten sie ähnliche Gedanken heben wie sie heute der Drago
in uns erweckt: das war eine durchaus vorweltliche Rasse; denn gerade
in diesem primitiven Kulturzustande hatte sich die allerälteste Steinzeitbevölkerung,
von der man wußte und weiß, befunden. Leider erging es dem merkwürdigen
Volksstamm wie dem Drachenbaum; die Einwanderung der Europäer bedeutete für ihn
den Untergang. Er ist ausgerottet, und nur in einem kleinen Teil der jetzigen
Bevölkerung rinnt noch Guanchenblut.
Die Guanchen bilden nicht die einzige, wohl aber interessanteste
Urbevölkerung der Kanaren. Das sorgfältige Studium der Skelette und
Schädelformen ergab, daß neben ihnen noch zwei andere Rassen existierten, die eine
auf Palma, Hierro und Gran Canaria, die andere auf Gomera. Alle kanarischen
Volksstämme stammten aus Afrika. Am sichersten läßt sich dies bei der
Hauptbevölkerung, den Guanchen, nachweisen. Die anthropologische Beschaffenheit
derselben stimmt überein mit der Cro-Magnon-Rasse, die im Westen der alten Welt,
in Europa und Nordafrika saß, lange vor der Einwanderung der arischen Völker aus
Asien und Osteuropa. Es waren hochgewachsene, kräftige Gestalten. Der Schädel
ist vortrefflich entwickelt, groß, mit etwas abgesetztem Hinterkopf, gewölbter
Stirne, und breitem, niedrigem Gesicht versehen. Diese Schädelform finden wir
auch in den schweizerischen Pfahlbauten, sowie im neusteinzeitlichen Österreich,
Deutschland und Frankreich. Noch heute kommt der genannte Typus in diesen
Ländern vor, weshalb Franz von Löher auf den Gedanken kam, die alten Guanchen
auf die Vandalen zurückzuführen. Nächst verwandt mit ihnen sind im heutigen
Europa die Basken, in Nordafrika die hellen Berberstämme im Gebiet des
Atlasgebirges. Als hier noch die Steinzeit herrschte, drangen Teile dieser
Berber bis zu den Kanaren vor; wahrscheinlich wichen sie vor aus dem Osten
andringenden Völkermassen westwärts, eine Erscheinung, wie wir sie zur Zeit der
Völkerwanderung in Europa beobachten.
Den hellen Berbern sind in späterer prähistorischer Zeit dunklere, brünette
Stämme mit fortgeschrittener Kultur gefolgt; sie mischten sich mit den
Guanchen und gingen schließlich in ihnen auf. Gelegentlich mögen auch andere
Völkersplitter auf die Insel verschlagen worden sein; sie wurden aber von der
Urbevölkerung aufgesogen.
Die Guanchen waren stattliche Menschen, im Durchschnitt 1,70-2 m hoch. Das
breite starke Knochengerüst verrät große Kraft. Die Haut war hell, das Haar
blond, rötlich oder kastanienbraun, schlicht herabhängend, selbst bei den
Männern oft bis zu den Hüften reichend. Das Gesicht war niedrig, oben breiter,
die Augen groß und meist blau, die Backenknochen vorspringend, die Nase kurz
und dick, die Lippen fleischig. Das mag ihnen öfters einen brutalen Ausdruck
verliehen haben.
Wahrscheinlich trugen nur die Weiber und die vornehmen Männer Kleider;
viele gingen nackt. Das Hauptkleid war ein weiter Kittel ohne Ärmel, welcher bis
zu den Knien reichte, tamarco genannt; er war mit großer Geschicklichkeit
aus zwei Ziegenfellen zusammengenäht. Dazu trug man Bundschuhe aus dem gleichen
Material; Gestalt und Namen sind bis heute geblieben (mako, xerco).
Unter dem Tamarco trugen die Frauen einen bis auf die Füße reichenden
Lederrock. Die Gewänder waren häufig gefärbt, meist rot, gelb oder grün. Die
Fäden wurden aus den Sprungsehnen der geschlachteten Tiere hergestellt. Man kennt
auch Gewebe aus Pflanzenfasern.
Die Guanchen wohnten in Höhlen. Die Kanaren eigneten sich trefflich hiezu; die
Laven weisen eine Menge von Höhlen und Gängen auf, welche einen prächtigen
Unterschlupf boten. Gewöhnlich wählte man solche aus, deren Zugang sehr
schwierig war. Die meist niedrigen Öffnungen wurden nur ausnahmsweise verschlossen.
Wo natürliche Höhlen fehlten, grub man solche in den weichen Tuff, wie dies
auch heute noch vielorts geschieht. Der Hausbau war den Guanchen fremd. Allerdings
weiß man von früheren freistehenden Häusern in Hierro, Lanzerote, Fuerteventura und
Gran Canaria; hier war aber die Mischung mit den später erschienenen Rassen
bedeutender, so daß sie diesen zugeschrieben werden müssen. - Das Innere der
Höhlen war höchst einfach. Als Sitze dienten unbehauene Steinblöcke, als Lager
ein Haufen Laub oder Felle. In einer Ecke lag die offene Feuerstelle, über
welcher nachts eine Keinfackel brannte; Feuer wurde durch Reiben zweier
Hölzer erzeugt.
Die wichtigsten Geräte waren aus Stein gefertigt. Basalt diente als
Material für Hämmer, Beile, Meißel, Handmühlen; aus Obsidian machte man allerlei
spitzes und scharfes Gerät. Die heutigen Sammlungen guanchischen Werkzeugs
zeigen, daß man eine große technische Fertigkeit im Herstellen desselben besaß.
Das Schleifen war nicht üblich; die vorhandenen geschliffenen Geräte stammen
von den neolithischen Nichtguanchen. Aus Knochen von Haustieren erstellte
man Pfriemen, Nadeln und Angeln, kleinere Schneidewerkzeuge auch aus Muscheln.
Zur Verfertigung von Körben wurde Holz verwenden; zu Schnüren und Säcken bediente
man sich des Bastes. Auch besaßen die Guanchen hölzerne Dolche, Keulen und
Schilde. Die Spitze des Wurfspießes war im Feuer gehärtet. Die gefährlichste
Waffe indessen war der Wurfstein, der aus freier Hand geschleudert wurde.
Der Schmuck bestand aus aneinander gereihten Muscheln oder Tonperlen.
Aus Ton wurden auch Wassergefäße und Kochtöpfe hergestellt. Allerdings
stand die Töpferei ncoh auf einer niedrigen Stufe; die Geschirre sind
unregelmäßig, unverglast und mit Fingerspuren versehen. Die wenig häufig
angebrachten Ornamente waren Nageleindrücke oder roh eingeritzte
Parallel- und Zickzacklinien am Rand. Auf Gran Canaria hat man bessere und
reicher ornamentierte Gefäße entdeckt; sie rühren von den späteren
Einwanderern her.
Die Guanchen waren ein Hirtenvolk. Große Jagdtiere fehlten; der Fischfang
lieferte keinen großen Erträge, da die Insulaner von Booten nichts wußten [
Trotzdem müssen die Guanchen auf Schiffen von Afrika herübergekommen sein! Doch
ist die Küste wegen der zahlreichen Klippen und der gewaltigen Brandung
sehr unzugänglich und gefährlich; die reiche einheimische nahrungsspendende
Vegetation und die leichte Bebauung des weichen Tuffbodens machten das Volk
zudem unabhängig von den Schätzen des Meeres. Die Boote, die anfangs vorhanden
waren, verfielen so dem Nichtgebrauch; mit der Zeit verlernte man den Schiffsbau
vollständig. ]. Man fischte mit Angel und Netz vom Lande aus oder indem man
in das Meer hinauswatete. Die Guanchen liebten das Fleisch der Ziegen. Diese
Tiere bildeten den Hauptbestandteil ihrer Herden, wozu noch Schweine kamen; Rind,
Pferd, Esel, Kamel fehlten den alten Kanariern. Auch das Fleisch
junger Hunde, verwilderter Kaninchen und wilder Tauben wurde genossen. Dazu
kamen Milch, Käse und Butter, welche einen wichtigen Teil der Nahrung ausmachten.
Butter wurde in der Weise bereitet, daß man einen Lederbeutel mit Milch mittelst
einer Schnur an einem Ast aufhängte. Zwei Frauen warfen ihn aus einiger
Entfernung einander zu, daß er klatschend hin und her flog [ Noch jetzt soll diese
Art der Butterbereitung auf einzelnen Inseln üblich sein. ]. Doch kannten die
Guanchen auch den Ackerbau. Nachdem der weiche Tuffboden bearbeitet war - man
benutzte dabei hölzerne Stiebe mit Bockshörnern oder länglichen spitzen Steinen
als Hacke -, pflanzte man Gerste, Weizen und Bohnen. Sorgfältig wurden die
Unkräuter entfernt. Die zunächst gerösteten Körner wurden auf einer Handmühle
gemahlen, mit Milch und Wasser versehen und in einem Ledersach tüchtig
geknetet. Dieses Gericht, Gofio genannt, bildet heute noch das wichtigste
kanarische Nahrungsmittel. Im übrigen verzehrte man, was die Natur an Genießbarem
bot: Feigen, Brombeeren, die Früchte des Erdbeerbaumes und des Mocans, Farnwurzeln,
Pinienkerne, wilden Honig. Als Getränke kannte man nur Milch und Wasser.
Die geistigen und moralischen Eigenschaften der Guanchen standen über denjenigen
der europäischen Eroberer, mit deren Eindringen der Untergang dieses
merkwürdigen Volkes beginnt. Die Großmut, Kühnheit, ausdauernde Tapferkeit,
Geschicklichkeit im Gebrauch der Waffen setzten die Spanier in Erstaunen. Mit
größter Treffsicherheit schleuderten sie schwere Steine aus riesiger Entfernung;
die Lanzen flogen mit Kraft und Gewalt und verfehlten selten ihr Ziel. Geschickt
wichen sie selbst dem Wurfe aus; es wird erzählt, daß sie fliegende Steine und
Spieße mit der Hand auffingen. Kein Terrain war für ihren Sprung zu schwierig;
sie holten Ziegen und wilde Kaninchen ein. Als sie mit den Spaniern im Kriege
lagen, paßten sie ihre Kampfart dem Feinde an und wählten das Schlachtfeld da,
wo dessen Taktik zunichte werden mußte. Einmal in Besitz fremder Waffen,
wußten sie dieselben trefflich zu gebrauchen. Sie lernten auch bald das Eisen
hämmern.
Viel gerühmt wurde die Sicherheit der Guanchen im Zählen. Mit einem einzigen
Blicke, ohne Handbewegung oder Zucken der Mundmuskeln, wußten sie die Zahl der
Tiere einer Herde auszugeben. Unter Tausenden fanden sie die Mutter eines
Lammes heraus, und von jedem Stück kannten sie sofort Alter und Abstammung
anzugeben. Die Eroberer lernten vielfach ihre Gastfreundschaft kennen, die sie
freilich oft genug mit Undank belohnten. Ferner besaßen die Guanchen einen
offenen und ehrlichen Sinn. Ihr Mut grenzte an Tollkühnheit. Sie waren von
glühender Freiheitsliebe beseelt. Weiber erwürgten ihre Kinder, Greise ihre
Enkel, damit sie nicht in die Hände des Feindes fielen. Sie liebten Gesang und
Tanz [ Die Spanier führten in ihrer Heimat einen Tanz ein, die sie baile
canaria, kanarischen Tanz, nannten. Der Takt wurde dabie mit heftigen,
kurzen Fußstößen angegeben. ]; sie waren imstande, auf alles einen Sangvers
zu machen. In ihren Volksliedern, deren sie eine große Anzahl besaßen, herrschten
schwere, langgezonene Töne vor. Überhaupt berichten Spanier und Franzosen, daß
die Guanchen bei all ihrer Körperstärke und Energie etwas Weiches und Zartes
hatten, und daß sie sich leicht der Wehmut und schmerzlichen Gedanken hingaben.
Die Ehe wurde in freier Wahl geschlossen, ohne Zeremonie; sie galt als
heilig. Verletzung wurde mit dem Tode bestraft. Die Frauen genossen auch in der
Öffentlichkeit große Achtung; sie wurden nicht selten in allgemeinen
Angelegenheiten um Rat gefragt. Im übrigen lagen ihnen die eigentlichen
Hausgeschäfte ob, obenso die Heilkunst. Sie bereiteten Kräutertränke und Salben
aus Butter und Mark von Ziegen. Bei Verletzungen wurde gekautes Werg mit heißer
Butter auf die Wunde gelegt. Ein leidendes Glied wurde oft angebrannt und mit
scharfen Geräten aus Obsidian und Muscheln beschabt und dann gesalbt. Bei innern
Krankheiten wurde der Patient tüchtig mit Pflaster eingerieben und in warme
Felle gesteckt, wonach er schwitzen mußte. Viele Schädel, die man in den
Gräberstätten gefunden hat, weisen darauf hin, daß die alten
Kanarier Trepanation ausübten; nach Analogie mit den berberischen Kabylen,
die heute noch trepanieren, dürfen wir annehmen, daß sie in Anwendung kam bei
Splitterbrüchen und anderen Verletzungen des Schädels, bei heftigem Kopfweh,
bei Knochenkrankheiten.
Die Toten wurden in Höhlen beigesetzt, fest stets solchen, welche verborgen
und möglichst unzugänglich waren. Die Öffnung wurde mit Steinen und Erde
ausgefüllt. Verstorbene Häuptlinge sowie angesehene Adelige wurden einbalsamiert.
Zur Konservierung verwendete man aromatische Kräuter, Pinienrinde, Harz, Bimsstein.
Die so präparierten Leichen wurden zum Trocknen tagsüber an die Sonne gelegt, nachts
in Holzrauch gestellt und nach 14 Tagen in weiche Felle eingebunden. Die meisten
Toten wurden direkt beigesetzt; unter dem Einfluß der trockenen Luft schrumpften
sie mumienhaft zusammen. Nicht selten finden wir den Toten Gefäße mit Milch
beigegeben, was auf eine Vorstellung von einem jenseitigen Leben deutet. Für die
Behandlung der Toten waren besondere Leute angestellt, Weiber für die Frauen,
Männer für die männlichen Leichen. Ihr Handwerk galt aber als ein unreines;
man durfte sie nicht berühren. - Auf Gran Canaria und Lanzerote sind Erd- und
Steinhügel gefunden worden, welche mehrere Leichen bargen; sie sind auf die
Nichtguanchen zurückzuführen.
Die Religion der Guanchen äußerte sich in der Verehrung der Berge. Diese
galten als Sitz der Gütter. Hoch aufragende Felsen und in den Bergen gelegene
Höhlen mit bestimmten Namen waren die Kultusstätten, wo Tier- und Fruchtopfer
im Feuer dargebracht wurden. Der Pik von Tenerife, den wilde Laven und kalte
Schneemassen unzugänglich machten, dessen Dämpfe ein unheimliches inneres
Feuer offenbarten, an dessen Flanken dann und wann glutflüssige Lava zum Ausbruch
gelangten, war die Heimat des bösen Geistes Guayota und stellte den
Eingang zur Hölle dar, Echeyde, aus welchem Namen durch Verstümmelung
Teyde geworden ist. Neben dem höchsten Gott, Acaman, wurden auch Sonne
und Mond angebetet. Nach letzterem war die Zeit eingeteilt. Wenn der befruchtende
Regen ausblieb, zog man auf Tenerife in ein geschlossenes Tal der Berge, Greise,
Frauen, Kinder und Herden mit. Alles flehte zur Gottheit. Die jungen Tiere
wurden von ihren Müttern getrennt, auf daß auch ihr klägliches Schreien die
Götter erbarme. Es kam vor, daß in schlimmen Zeiten ein Mann sich freiwillig
von schroffen Felsen ins Meer stürzte, um durch seinen Mut und sein Leben für
das ganze Volk Sühne zu sein. Die Ausübung des Kultus war einer eigenen
Priesterkaste in die Hand gegeben. Sie weissagte die Zukunft und überlieferte
die sagenhafte Vergangenheit. Auf Gran Canaria wurde so eine uralte Tradtition
von Geschlecht zu Geschlecht überliefert, nach welcher die Bevölkerung der
Insel einst von Nordafrika herüber gekommen sein soll.
Die Bevölkerung schied sich in Adelige, Freie und Unfreie. Die ersteren
waren reich an Land und Herden und trugen einen besonderen Schmuck an Bart,
Haar und Kleidung; unter ihnen ragte das Geschlecht des Königs hervor. Die
Freien machten das eigentliche Volk aus. Das Handwerk, das die Hörigen ausüben
mußten, war nicht sehr geachtet, am wenigsten dasjenige eines Scharfrichters,
welcher begangenen Diebstahl durch Ausreißen eines Auges oder eine blutige
Bastonade strafen mußte, einem zum Tode Verurteilten aber den Schädel zu
zerschmettern hatte. Womöglich wurden zu diesem Amt Kriegsgefangene gezwungen.
Meist lebten die Guanchen in Geschlechterverbänden, die miteinander zu
größeren Stämmen vereint waren. Die Blutsverwandten hingen eng zusammen;
Beschimpfung derselben wurde als eigene Schmach empfunden und bitter gerächt.
Jede Insel zerfiel in mehrere Gaue, deren jeder einen König hatte. Im Kriege
war er Oberfeldherr und führte die Verhandlungen mit dem Feind; er hatte
den Vorsitz in öffentlichen Versammlungen, wobei er auf einem erhöhten Steine
saß. Wenn er durch das Land zog, war er von den vornehmsten Adeligen begleitet;
voraus wurde eine Lanze mit einer Art Flagge getragen. Den Hofstaat bestritt er aus
den eigenen Gütern. Starb ein König, so wurde er in einer besondern Höhle beigesetzt.
Wir Würde erbte sich auf den Sohn, woran die Guanchen mit Zähigkeit hingen. Der
Thronbesteigung ging eine große Huldigung voraus; auf Tenerife war
sie das größte Fest, und zu seiner Abhaltung war allgemeiner Friede geboten.
Dem neuen Könige wurde eine Reliquie, ein Armknochen oder ein Schädelstück des
Urahnen, der den Gau gestiftet, überreicht, auf welche er dem Volke Treue
schwur. Nachher war allgemeiner Festjubel, Kampfspiel und Gelage. Der Jahrestag
der Huldigung wurde stets gefeiert; auch der Landtag und die Ernte waren
Festanlässe. Die allgemeine Gauversammlung, Tagoror, übte die Rechtspflege. Der
König hatte den Kulturboden neu unter die Stammesgenossen zu verteilen.
Streitigkeiten über Weidegrenzen konnten zu erbitterten Fehden führen.
Leider sind wir über die Sprache der Guanchen nur wenig unterrichtet, weil
die Spanier es unterlassen haben, Grammatik und Wörterverzeichnis anzulegen.
Alonse de Espinosa, ein Dominikaner auf Tenerife, war der erste, welcher eine
zusammenhängende, wenn auch kurze Darstellung über die Guanchen brachte, die
zugleich einige Wörter und Sätze enthielt; sie erschien im Jahre 1594. 1604
verfaßte Antonio de Viana, der auf Tenerife geboren war, eine Geschichte der
Inseln in Versen; sie enthält zahlreiche Traditionen und Sprachüberreste. Galindo,
ein Franziskaner auf Palma, brachte 1632 wenig Neues bei. In neuester Zeit
hat Lord Bute die eingehendsten Studien über die Guanchensprache gemacht.
Nach ihm sind heute außer den zahlreichen Orts- und Personennamen kaum 150
Wörter bekannt, deren Sinn mit Sicherheit ermittelt ist [
Einige derselben mögen hier folgen:
- achimeyce, Mutter.
- afaro, Korn.
- aguere, See.
- ahof, Milch.
- ana, Schaf.
- aran, Bauernhof.
- ataman, Himmel.
- axo, xayo, Leiche.
- banot, Speer.
- benesmen, Saezeit.
- cabuco,Ziegenstall.
- cancha, Hund.
- cel, Mond.
- chamato, Frau.
- gofio, Mehlspeise (s. oben).
- guan, Sohn.
- guanche, Zusammenziehung von guanchinerfe, Sohn von Tenerife.
- hacichei, Bohnen.
- manse, Küste.
- mencey, Herr.
- oche, geschmolzene Butter.
- samet, sance, Bruder.
- tagoror, Versammlung. Wurzel auch in Taoro und Orotava.
- tara, Gerste.
- yoya, Saft von Mocan.
- sucasa, Tochter.
];
einzelne derselben bilden die neun Sätze, die uns
überliefert sind [ Hier zwei derselben: Agonec acoron in at Zahana chaso namet.
Ich schwöre, o Gott, den Vasallen auf den Knochen. - Achit guanoth Mencey
reste Bencom. Sei, o Bencom, Herr und Beschützer des Landes. ]. Es fällt
sofort auf, daß unter den Vokalen das a weit überwiegt (doppelt bis dreimal
so viel wie i, e und o); daraus dürfen wir wohl schließen, daß die Sprache der
Guanchen eine sehr klangvolle war. Unverkennbar läßt sich aus den bekannten Resten
erkennen, daß dieselbe ein berberisches Idiom ist. Der Grundstock war ellen Inseln
gemein; die die Bevölkerungsmischung nicht überall dieselbe war und ein
gegenseitiger Verkehr nicht existierte, bildeten sich insulare Dialekte,
sprachliche Endemismen, aus. Die späteren Einwanderer vermochten wohl ihre
Sitten und Kunstferigkeiten teilweise zu bewahren; ihre Sprache aber haben sie
wahrscheinlich im Verkehr mit den Guanchen verloren.
Die Schrift war unbekannt. Wohl fand man auf einzelnen Inseln merkwürdige
Felseninschriften, die berberischen Schriftzeichen sehr ähneln; sie rühren von
den Nichtguanchen her. Wir dürfen aber annehmen, daß der Gebrauch der Schrift
nur ein vorübergehender war und daß sie dieselbe mit Annahme der Guanchensprache verlernten.
Jahrtausende mögen die Guanchen mit ihrer Steinzeitkultur auf den Inseln
ungestört gehaust haben. Kein Schiff erschien am Horizonte, um die Nachricht
zu bringen, daß drüben im Osten ein mächtiges Festland mit vielen Völkern sei;
nur die Sonne tauchte rotgolden aus den Fluten des Ozeans empor, um abends im
Westen wiederum ins Meer zu versinken. Kein Ruf drang von den benachbarten
Inseln herüber; nicht einmal ein Boot schaukelte auf den Wellen, das Kunde
gebracht hätte, daß verwandte Stämme dort auf ähnliche Art ihr Dasein
fristeten. In gewaltiger Stille und Einsamkeit lebten die Guanchen froh und
glücklich dahin. Die primitivsten Werkzeuge genügten, dem Boden die nötige
Nahrung abzuringen; die Fehden mit den Nachbarstämmen hielten die körperlichen und
geistigen Kräfte frisch. Doch gab es auch Augenblicke, da sie
erschreckt auffuhren und furchtbebend die Götter anriefen. Wenn auf den Bergen
ein Feuerschein aufstieg, die Erde erbebte und Ströme glühenden Gesteins sich
über die Hänge ergossen, Wälder und Felder versengend und verwüstend, dann mochten die
Guanchen die Existenz dämonischer Mächte im Erdinnern ahnen.
Beinahe ebensowenig wie die Kanarier vom Festland, wußten die dortigen
Völker von den Kanarischen Inseln. Die Phönizier waren die ersten, werlche
Kenntnis von ihnen hatten. Strabo berichtet, daß denselben eine Inselgruppe
gegenüber Maurtanien (Nordwestafrika) gehört habe. Erst nach dem Falle
Karthagos gelangten reichlichere Nachrichten ins Abendland. Verschiedene
Römer berichten über die Eilande (Statius Sebosus, Sertorius, Pomponius Mela),
Genaueres jedoch erst Plinius. König Juba II. von Mauretanien veranstaltete
im Jahre 40 v. Chr. eine Expedition nach den Inseln, über welche er später einen
Bericht an Augustus schickte. Sie werden darin mit dem Kollektivnamen
Fortunatae (glückliche Inseln) bezeichnet; es werden aufgeführt Ombrios (Palma),
Junonia, Capraria (Gomera) und Ninguaria oder Nivaria (Tenerife). Plinis
erzählt, daß die Einwohner außerdordentlich große Hunde besessen hätten; die
Inseln werden daher auch Kanaren genannt.
Die folgenden Jahrhunderte lüfteten das Dunkel, das über dem Archipel lag,
nur wenig. Die Kenntnisse der Araber, welche ihn Ghezr el Khadelat (Fortunaten)
hießen, fußten auf den Berichten der Alten. Erst im 14. Jahrhundert hörte man
Bestimmteres im Abendlande. Die Mannschaft eines auf den Kanaren gestrandeten
französischen Schiffes verbreitete zuerst die Kunde von der Existenz der Inseln.
Als eigentlicher Entdecker gilt aber der Genueser Lancelot Malocelli, der um
1336 die Inseln besuchte, wahrscheinlihc im Auftrage der portugiesischen
Königs Alfonse IV. Die Insel Lanzerote ist nach ihm benannt. Schon 1334 hatte
Alfonsos Vorgänger, Clemens VI., die Kanaren als Königtum einem Don Luis de la
Cerda übertragen; dieser hat indessen sein Reich nie besucht.
Von nun an landen öfters Schiffe auf den Inseln, absichtlich oder durch
Zufall, war es ja doch die Zeit, wo man längs der afrikanischen Westküste immer
mehr nach Süden drang. Die Kanaren lieferten das hochgeschätzte
Drachenblut, den roten Saft des Dragos; auch wurden die kräftigen Guanchen
als Sklaven teuer bezahlt. 1393 wurden die Inseln von einer sevillanischen Flotte
besucht; sie brachte eine ganze Anzahl Landesprodukte mit und erweckte in
Spanien Gelüste nach dem Besitz des Archipels. Die Eroberung wurde ausgeführt
durch Jean de Bethencourt aus der Normandie. Mit Hilfe einiger Freunde, die
ihn mit Geld und Mannschaft unterstützten, rüstete er in La Rochelle ein Schiff
aus, mit dem er nach vielfachen Abenteuern 1402 auf Lanzerote landete. Nach
Unterwerfung der Insel eroberte er auch Fuerteventura, Gomera und
Hierro; die Angriffe auf die übrigen Inseln wurden abgeschlagen. Heinrich III.
von Kastilien belehnte ihn mit dem neugewonnenen Gebiet und verlieh ihm den
Titel eines Königs. 1428 starb Bethencourt kinderlos in Frankreich; der Besitz
seiner Herrschaft änderte nunmehr öfters. Unter Ferdinand und Isabelle begann
1478 die Eroberung von Gran Canaria; 1483 wurde sie durch Don Pedro de Vera
nach hartnäckigem Kampfe beendigt. Zu gleicher Zeit, als Kolumbus die spanischen
Könige um ein Schiff zur Ausführung seiner Pläne bat, schloß Don Alonse F. de
Lugo mit denselben einen Vertrag, nach welchem er Palma und Tenerife auf
eigene Kosten zu unterwerfen übernahm. Palma ergab sich schon nach der ersten
Schlacht 1492; schwieriger gestaltete sich die Unterwerfung von Tenerife.
Auf dieser Insel hatte im Anfang des 15. Jahrhunderts ein einziger König
geherrscht, Tinerfe. Nach seinem Tode war das Reich in 9 Gaue zerfallen (Anagra,
Tegueste, Tacoronte, Taoro, Icod, Daute, Guimar, Abono und Adexe), die unter
seine 9 Söhne verteilt wurden. Als Lugo am 12. April 1492 auf der Insel
landete, da wo jetzt Santa Cruz steht (so genannt wegen des hölzernen Kreuzes,
das bei der Landung errichtet wurde), dachten die Guanchenkönige nicht daran,
einen gemeinsamen Angriff auf das spanische Lager zu unternehmen. Das sollte
ihr Verderben werden. Umsonst forderte der König von Taoro, Bencomo, auf dem
allgemeinen Landtag ein geeinigtes Vorgehen unter seinem Oberbefehl; der Stolz
der übrigen Fürsten oder Menceys gab eine solche Unterordnung nicht
zu. Diejenigen von Daute, Icod, Adexe und Abono wollten jeder sein Land selbst
verteidigen. Der Mencey von Guimar, Anjaterfe, war zur Tagsatzung gar nicht
erschienen, da er mit den Spaniern gemeinsame Sache machte [ Diese unglückselige
Abtrünnigkeit hatte allerdings ihren Grund. Ein Jahrhundert früher hatten
zwei Schafhirten im Gebüsch an der Küste von Guimar ein vielfarbiges Madonnenbild
mit Kind gefunden, das vom Sturm dorthin geworfen worden war. Wahrscheinlich
hatte es das Vorderteil eines Schiffes geschmückt. Dieses Bild übte auf die
Guanchen einen geheimnisvollen Zauber aus. Sie brachten ihm stets die größte
Verehrung entgegen; ein Stammesgenosse, der einst geraubt worden, später als
Christ zurückgekehrt war, erzählte, daß diese Frau die Mutter von Acaman, ihres
höchsten Gottes, sei. So waren die Guanchen von Guimar schon halbe Christen, als
Lugo auf der Insel landete; deshalb mag ihrem Mencey ein Bündnis mit dem Spaniern
leicht geworden sein.
Das Wunderbild genoß auch von seiten der Spanier große Verehrung. Candelaria,
wo es sich befand, wurde ein Wallfahrtsort, dessen Ruhm und Reichtum fortwährend
wuchs. Jedes Jahr wurden große Feste gefeiert (15. August, 2. Februar), zu
denen die Isleños von allen Seiten herströmten. Espinosa weiß 1594 von
65 Mirakeln zu berichten. Im November 1826 wurde ein Teil des Dominikanerklosters
von Candelaria durch ein tobendes Bergwasser zerstört; dabei ward die
Madonnenstatue werggeschwemmt und ins Meer gespült, von wannen sie einst
gekommen war. Ein neues Bild wurde erstellt und vom Papste feierlich geweiht.
Wohl ist die Zahl der jährlichen Candelaria-Pilger heute noch groß; doch hat
der Ort an Bedeutung gegenüber früheren Jahrhunderten verloren.].
Ein volles Jahr herrschte Ruhe. Als die Spanier im Frühjahr 1494 zur
Eroberung aufbrachen, fanden sie das Land weit herum von allem Volk verlassen. Nach
mehrtägigem resultatlosen Vorrücken zogen sie sich wieder zurück. In einer
Schlucht wurden sie plötzlich überfallen; ein wildes Ringen entstand, nach welchem
sich Lugo mit großen Verlusten zurückziehen mußte. Der Ort, wo seine
Toten das Schlachtfeld bedeckten, heißt heute noch Matanza, das Gemetzel.
Die Guanchen hatten zahlreiche Gefangene gemacht: sie erquickten dieselben
und schickten sie zu den Ihrigen zurück. Am 8. Juni verließen die Spanier die Insel;
die 300 Mann, die Anjaterfe als Bundesgenossen geschickt, wurden als Sklaven
verkauft.
Tenerife war befreit. Aber schon am 2. November landete Lugo wieder mit
2000 Mann. Die Guanchen von Guimar blieben ihm auch diesmal treu. Am 14. kam es
zum Kampf. Drei fürchterliche Stunden wogte die Schlacht; die Spanier waren daran
zu unterliegen. Da warf sich ein getaufter Guanchenfürst, Wanarteme, der mit den
Europäern gelandet, mit seiner ganzen Schar auf die löwenmutig kämpfenden,
aber schon ermüdeten Stammesgenossen. Zwei Menceys fielen; Bencomo wurde
verwundet. Die Guanchen wichen und zogen sich zurück. Lugo, der die Tapferkeit
derselben kennen gelernt, wagte trotz seines Sieges in der nächsten Zeit nicht
anzugreifen. Da erstand ihm ein neuer Bundesgenosse, die Modorra, eine
pestartige Krankheit. Ihr waren die Insulaner, die durch übermenschliche
Anstrengungen, Not, Mißwachs, Hunger, Seelenqualen geschwächt waren, nicht
gewachsen; scharenweise fielen sie derselben zum Opfer. Dazu wüteten die Spanier
in ihren Reihen. Der Mencey Bencharo stürzte sich aus Gram über seine Niederlage
in einen tiefen Abgrund; ein Greis, dem man drei Enkel entreißen wollte,
erwürgte sie und stieß sich den Spieß durch den Leib.
Die Spanier erhielten stets neue Zuzüge. Den ganzen Winter hindurch dauerte
der ungleiche Krieg fort. Im Sommer 1496 endlich sah sich Bencomo gezwungen,
die Waffen niederzulegen. Die noch übrigen Gaue waren mit Hilfe der
Unterworfenen bald besiegt. Wer sich nicht fügen wollte, floh ins Gebirge. Aber
auch dorthin folgten ihnen die Spanier; was dem Hunger und Winter nicht zum
Opfer fiel, wurde durch sie niedergeschossen.
Durch den Fall von Tenerife war die Eroberung der Kanarischen Inseln vollendet.
Zu gleicher Zeit aber war das Volk, welches von Bethencourts Kaplänen "ein
Barbarenvolk voll schlichten Adels und natürlicher Tugenden" genannt worden
war, fast gänzlich ausgerottet. Nur in der Landschaft von Guimar, deren
Bewohner sich von Anfang an freiwillig unterworfen hatten, konnten sich die
Guanchen noch eine Zeitlang halten. Aber die Vermischung mit den zahlreichen
spanischen Auswanderern war unausbleiblich; die Inquisition tat ein übriges.
So erlosch die reine Guanchenrasse vollständig. Noch rinnt etwas
guanchisches Blut durch die Adern vieler Isleños,
besonders im Süden der Insel Tenerife; die Kultur des merkwürdigen Volkes aber ist
vernichtet. Glücklicherweise gewähren uns die Museen von Las Palmas und Santa
Cruz mit ihren zahlreichen Artefakten noch heute einen Einblick in dieselbe.
Einzelne Sitten wie das Wohnen in Höhlen, Gebräuche wie die Herstellung des
Gofio sind auf die Spanier übergegangen; die Gewohnheit sich durch Pfeifen
verständlich zu machen, besteht auf Gomera fort. Die alte Sprache aber klingt
in Orts-, Personen- und Pflanzennamen noch nach, die uns mit ihrem Vokalreichtum
anmuten wie ein Gruß aus längst vergangener, uralter Zeit.
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Erstellt am 6. August 2001 von
Kurt Stüber.
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