Kapitel 34: Neurogenetik

34.3.4.2 Straßenbau für Axone

Für die Wegfindung können Wachstumskegel verschiedene Mechanismen verwenden (Abb. 34-41). Ein Mechanismus ist die Chemotaxis, d.h. Wachstumskegel können in bestimmten Stoffgradienten gerichtet auswachsen. Die Stoffgradienten können hierbei anziehend oder abstoßend wirken. Entsprechend spricht man von positiver und negativer Chemotaxis. Ein anderer Mechanismus ist Kontaktführung, d.h. daß Wachstumskegel eine ausgesprochene Präferenz für oder Vermeidung von speziellen Substraten zeigen. Wenn das Substrat genehm ist, können die Wachstumskegel bis zu 1 mm pro Tag zurücklegen. Kommen sie jedoch auf ungünstiges Terrain, kann das Wachstum stagnieren; der entsprechende Nervenfortsatz kann sogar wieder völlig eingeschmolzen und in anderer Richtung neu ausgebildet werden. Die Präferenz für bestimmte Substrate (selektive Adhäsion) bedeutet nichts anderes, als daß Wachstumskegel durch "Umweltsignale" quasi auf Straßen geleitet werden können (Abb. 34-42).

Von F. Bonhoeffer und Mitarbeitern wurde in eleganten In-vitro-Streifenassays nachgewiesen, daß retinale Wachstumskegel herkunftsabhängig zwischen Membranen aus verschiedenen tektalen Bereichen unterscheiden können. Hierzu wird die Retina in schmale Streifen zerlegt und die Koordinaten jedes Streifens werden notiert. Wenn von Streifen der temporalen Retina auswachsende Axone die Wahl zwischen rostralen oder caudalen Membranfraktionen als Wachstumsunterlage haben, sammeln sich alle Axone auf den Membranen des rostralen Tectums an, was der retinotop richtigen Entscheidung entspricht.

In Zellkulturen wachsen Axone besonders gut auf Unterlagen, die aus Polyornithin, Poly-L-Lysin, Kollagen Typ IV, Fibronectin oder aus Laminin bestehen. Diese Moleküle werden als extrazelluläre Matrixmoleküle oder auch als Substrat-Adhäsionsmoleküle (SAM) bezeichnet, da viele Zellen hierfür spezifische Rezeptoren besitzen (Tab. 34-8).

Fibronectin ist ein besonders wichtiges SAM (Abb. 34-43). Seine einfachste Form ist ein Dimer aus zwei homologen, aber nicht identischen Polypeptidketten, die durch differentielles Spleißen von einem einzigen Gen hervorgebracht werden. Ein Fibronectin-Polypeptid ist im Mittel etwa 2.500 Aminosäuren lang. Das Fibronectin-Gen enthält in der Ratte knapp 50 Exons und erstreckt sich über etwa 70 kb. Es sind mindestens 20 verschieden gespleißte Transkripte beschrieben worden. Durch die Kombination zu einem Di- oder Multimer ergeben sich damit sehr viele Molekülvarianten (mindestens 190). Differentielles Spleißen ist, wie wir hiermit sehen, einer der wichtigen Mechanismen für die Erzeugung ortsspezifischer Adhäsionsmuster. Das gilt nicht nur für Fibronectin (s.u.).

Auch der Glykoproteinkomplex Laminin, der ein Hauptbestandteil von Basalmembranen darstellt, zählt zu den extrazellulären Matrixmolekülen (Tab. 34-8). Er ist nicht nur eine gute Unterlage für axonales Wachstum, sondern scheint die Bildung von Neuriten aktiv zu begünstigen. Dieser 850-kDa-Proteinkomplex besteht bei Vertebraten und Invertebraten aus drei umeinandergewobenen Polypeptidketten (A, B1 und B2) und ist wie ein Kreuz geformt (Abb. 34-44). Die drei Polypeptidketten werden von verschiedenen Genen codiert, sind untereinander jedoch teilweise homolog. Laminin enthält mehrere funktionelle Domänen. Hierzu gehören z.B. Bindestellen für Typ IV- (und für Typ I-)Kollagen, für Heparin, für Laminin selbst und für Lamininrezeptoren auf Zelloberflächen.

Andere bedeutsame Matrixmoleküle sind die Tenascine (Abb. 34-45), eine Familie von Proteinen, von denen in Vertebraten 3 (Tenascin-R, -C, -X) bekannt sind. In Invertebraten wurden Proteine mit ähnlicher Domänenstruktur identifiziert (z.B. Drosophila-Tenascin a und m). Vertebraten-Tenascine können Homohexamere bilden. Die einzelnen Polypeptidketten sind wiederum modular aufgebaut, d.h. sie bestehen aus Unterabschnitten, die sich unabhängig voneinander zu der für sie charakteristischen dreidimensionalen Struktur falten. Es gibt vier deutlich zu unterscheidende Domänen. C-terminal findet sich eine fibronectinähnliche, globuläre Domäne von 215 Aminosäuren. Daran schließen sich mehrere (bis zu 29) Fibronectin III-Domänen an. Zusammen bilden sie eine ausgedehnte fasrige Struktur. Weiter N-terminal folgen EGF-ähnliche Wiederholungssequenzen. Die N-terminale Domäne ist etwa 150 AS lang und enthält Oligomerisierungstellen, z.B. ein 22 AS langes a-helikales Segment, das einen Dreifachstrang bilden kann. Hier können sich 3 Tenascin-Polypeptidketten aneinander lagern. Tenascin-C und Tenascin-R enthalten daran anschließend ein N-terminales Cystein. Über eine Disulfidbrücke können Trimere somit ein sternförmiges Hexamer formen.

Extrazelluläre Matrix ist nicht immer ein gutes Substrat für Axonwachstum. Insbesondere tenascinähnliche Proteine können ihr eher abstoßende oder wachstumsinhibierende bzw. verzweigungsinduzierende Eigenschaften verleihen, so hemmt Tenascin das Neuritenwachstum von olfaktorischen Neuronen im Antennallobus von Manduca sexta. Exprimiert wird das Motten-Tenascin von Gliazellen, die einzelne olfaktorische Glomeruli umgeben. Seine Funktion wird darin gesehen, das Wachstum der Axone auf den Glomerulus zu beschränken. Es dient als Wachstumsbarriere. Auch bei Vertebraten ist Tenascin an Gewebegrenzschichten angereichert.

In Zellkultur kann Mäuse-Tenascin das Wachstum von Neuronen aus dem olfaktorischen Lobus der Motte hemmen. Es ist instruktiv, daß das nicht für alle Neurone aus anderen Hirnteilen gilt. Die Bedeutung von Molekülen wie Tenascin für eine Zelle ist die eines Signals. Welche "Schlüsse“ eine Zelle aus diesem Signal zieht, hängt ganz allein von ihrem Differenzierungszustand ab. Negative Signale für die eine Zelle können von einer anderen positiv interpretiert werden. Wie am Beispiel der Augenentwicklung bei Drosophila gesehen (s. 34.3.2.14), ist hierzu theoretisch noch nicht einmal ein zelltypspezifischer Signaltransduktionsweg notwendig. Der Zustand des Genoms und der Bestand an Transkriptionsfaktoren in einer Zelle kann Unterschiede in der "Interpretation“ eines Signals erklären.

Tenascin-C und Tenascin-R werden in Vertebraten vor allem als Gegenspieler von fibronectinvermittelter Adhäsion gesehen. Knock-out-Mäuse für Tenascin-C zeigen überraschenderweise keinen krassen Phänotyp. Die hohe Konservierung der Tenascin-Struktur zwischen Vertebratenspezies läßt jedoch vermuten, daß das bisherige Fehlen einer Phänotypbeschreibung in vivo nur ein Problem der genauen Analyse darstellt. In Zellkultur hat man ganz spezifische Effekte der unterschiedlichen Tenascin-C-Domänen auf einzelne Zellkompartimente von Neuronen (Zellkörper, Axon, Dendriten etc.) gefunden und schließt daraus auf die Existenz unterschiedlicher Tenascin-Rezeptoren mit spezifischen intrazellulären Signaleigenschaften. Ein nur die EGF-Wiederholungssequenzen von Tenascin enthaltendes rekombinantes Protein z.B. inhibiert die Adhäsion von Zellkörpern und stößt Wachstumskegel ab, während die Fibronectin Typ III ähnlichen Domänen auf Neurone des Kleinhirns und des Hippocampus adhäsiv wirken. Solche Analysen zeigen den multifunktionellen Charakter des Moleküls. Sie werden langfristig ein besseres Verständnis der In-vivo-Funktionen von Tenascin bewirken.

Integrine sind Zellmembran-ständige Rezeptoren für Substrat-Adhäsionsmoleküle (Tab. 34-8). Diese positionsspezifisch verteilten Glykoproteine, die u.a. auf Axonen gefunden werden, binden an die Arg-Gly-Asp (RGD) Tripeptid-Sequenz, die z.B. in Fibronectin und Laminin vorkommt, und gewährleisten so die Adhäsion von Axonen zum Substrat. Die Integrine bestehen aus einer a- und einer ß-Untereinheit. Die a-Untereinheit der Integrine ist besonders variabel und für die Spezifizität der Bindeeigenschaften individueller Integrine verantwortlich. Von der ß-Untereinheit existieren weniger Varianten. Bei Drosophila codiert das lethal (1) myospheroid [l(1) mys]-Gen für eine b-Untereinheit. Mutationen in diesem Gen sind letal, da z.B. die Muskeln nicht an ihren Verankerungen haften bleiben und deshalb eine kugelförmige Gestalt annehmen.

Axone wachsen nicht nur auf extrazellulärer Matrix, sondern auch sehr gerne auf anderen Axonen und können hierbei dicke Bündel bilden. Dabei ist jedoch eine selektive Faszikulierung zu beobachten, d.h. nur Axone mit passenden Zelladhäsionsmolekülen bündeln sich zusammen.

In Vertebraten und Invertebraten treten neben den Ca2+-abhängigen Cadherinen Ca2+-unabhängige neuronale Adhäsionsmoleküle auf (Tab. 34-8). Cadherine sind in Gegenwart von Ca2+ homophil, d.h. nur Zellen, die das gleiche Cadherin exprimieren, verkleben miteinander. Die Mitglieder der Immunoglobulin-Superfamilie benötigen hierzu kein Ca2+. Diese Klasse von Molekülen, zu der die namensgebenden Antikörper gehören, zeichnet sich durch extrazelluläre immunglobulinähnliche Domänen (Ig-Domänen) aus, die sich in charakteristischer Weise falten und u.a. durch konservierte Disulfidbrücken in Form gehalten werden. Die Mitglieder der Immunglobulin-Superfamilie sind auf Erkennung von Oberflächen spezialisiert, ob sie nun ihre Funktion im Immunsystem oder im Nervensystem wahrnehmen.

Abb. 34-46 zeigt einige der neuralen Zelladhäsionsmoleküle dieser Familie. Vertebratenvertreter (schwarz) sind bei Drosophila identifizierten Vertretern (blau) gegenübergestellt. Die Ähnlichkeit zwischen den Zelladhäsionsmolekülen von Vertebraten und Invertebraten legt nahe, daß die molekularen Mechanismen neuraler Adhäsion und Zellerkennung früh in der Evolution des Nervensystems erworben und über lange Zeiträume konserviert worden sind.

L1 und Neuroglian, NCAM (neural  cell  adhesion molecule) und Fasciclin II sowie DM-GRASP und IrreC-rst bilden heterologe Molekülpaare, das erstgenannte ist jeweils der Vertebraten-Vertreter, das zweitgenannte ein Drosophila-Molekül. Auf der Ebene der Aminosäuresequenz beträgt die Identität von L1 mit Neuroglian 28%, von NCAM mit FasII 25% und von DM-GRASP mit IrreC-rst 22% (ohne intrazelluläre Domäne, die im letztgenannten Fall keine Ähnlichkeit aufweist). Enge Verwandtschaft zu Neuroglian und L1 hat auch das Vertebratenmolekül Contaktin, das lediglich eine Fn-III-Domäne weniger besitzt. Zur Immunoglobulinsuperfamilie gehören zudem inzwischen weit über 100 in verschiedenen Organismen beschriebene Vertreter. Erwähnt sei noch Amalgam, ein Invertebraten-Glykoprotein, das auf allen Axonen des sich entwickelnden Drosophila-ZNS zu finden ist. Amalgam weist keine Fn-Domänen auf. Dafür enthält es neben zwei Ig-C2- eine Ig-I-Domäne.

Die Tendenz von Axonen, Bündel zu bilden, bedeutet, daß das erste Axon, das Pionieraxon, eine Sonderrolle einnimmt. Wenn es seinen Weg gefunden hat, können ihm spätere Axone durch Kontaktführung zumindest über eine gewisse Wegstrecke folgen. Kontaktführung durch differentielle Adhäsion zu nicht neuronalen Zellen (z.B. Glia-Wegweiserzellen) oder entlang von Basalmembranen spielt deshalb vor allem bei der Wegfindung der Pionieraxone eine wichtige Rolle. Eine interessante Frage bei späten Axonen, die vorwiegend neuronale Oberflächen für die Wegfindung einsetzen können, ist die nach der Spezifität der Wegpräferenzen. Wie kommt es z.B., daß verschiedene Axone verschiedene Bündel wählen oder warum können Axone aus einem gemeinsamen Bündel unterschiedliche Abzweigungen zu unterschiedlichen Zielregionen wählen?

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, daß auf ein und demselben Axon regional unterschiedliche Adhäsionsmoleküle nachweisbar sind, je nachdem in welchem Traktsystem der entsprechende Teilabschnitt zu finden ist. Dies konnte z.B. sowohl in Vertebraten als auch in Invertebraten für kommissurale und longitudinale Axonabschnitte bei der Anlage des embryonalen Nervensystems nachgewiesen werden (Abb. 34-47). Erklärbar ist dieser Befund sowohl durch ein zeitlich sich veränderndes Expressionsmuster als auch dadurch, daß sich Adhäsionsmoleküle dort ansammeln, wo Bindung zu Liganden auf benachbarten Membranen möglich ist. Zeitliche Veränderungen der Expression sind dabei nicht zeitlich starr programmiert. Das Verhalten wachsender Axone spricht für die Existenz von Rückkopplungsschleifen nach dem Schema: Neues Signal Æ Meldung an Zellkern Æ Synthese neuer Adhäsionsmoleküle Æ Wachsen in neue Richtung (Abb. 34-48). Zwischen Signalerhalt und Richtungsänderung verharrt ein Axon typischerweise einige Zeit, bis neue Adhäsionsmoleküle an Ort und Stelle sind.

In jüngster Zeit wurden mehrere molekulare Faktoren identifiziert, die bei der Defaszikulation von Axonbündeln eine Rolle spielen. In Vertebraten ist die Polysialsäure (PSA) bedeutsam, zumindest dort, wo das NCAM-Protein an der Bündelbildung beteiligt ist. Posttranslational kann PSA kovalent an NCAM gebunden werden. Mit steigender Glykosylierung schwindet die homophile Bindefähigkeit von NCAM, d.h. die leicht glykosylierte L-Form von NCAM (Sialsäure macht nur 10% des MW aus) begünstigt die Bündelung von Axonen (z.B. innerhalb des Auges zum optischen Nerv), während die stark glykosylierte H-Form (Sialsäure macht 30% des MW aus) Defaszikulation erlaubt (z.B. im extraocularen Nerv), was den Axonen erst die Suche nach individuellen Zielen im Gehirn möglich macht (Abb. 34-49).

Polysialsäure ist bisher nur bei Wirbeltieren und hier nur im Zusammenhang mit NCAM beschrieben worden. Damit scheint dieser Mechanismus der Defaszikulierung von Axonbündeln eine relativ neue Erfindung der Evolution zu sein. Es muß daher noch andere Mechanismen geben. Bei Drosophila ist die genetische Analyse eines konkreten Fallbeispiels durch Goodman und Mitarbeiter weit fortgeschritten. Fasciclin II (Fas II) wird auf allen Motoneuronen exprimiert und ist für deren Faszikulation notwendig. Der segmentale (SNb) und intersegmentale Nerv (ISN) bilden über einen kurzen Abschnitt ein gemeinsames Bündel. Die Axone des SNb-Nervs lösen sich dann jedoch von denen des ISN und projizieren zu ihrem Muskel (Abb. 34-49). Überexpression von Fas II kann die Defaszikulierung unterbinden. Es wurden fünf Gene identifiziert, deren Ausfall zum gleichen Ergebnis führt, deren Produkte also potentielle negative Regulatoren der Fas II vermittelten Adhäsion sind. Drei dieser Gene codieren für Rezeptorphosphotyrosinphosphatasen (RPTP): Dlar, DPTP69D und DPTP99A und eines, beaten path (beat) , für das von den Motoneuronen sezernierte Beat-Protein. Beat ist für die Verminderung der Fas II vermittelten Adhäsion zwischen SNb- und ISN-Axonen am Verzweigungspunkt notwendig. Strukturell weist das sezernierte Beat-Protein Ähnlichkeit zu Mitgliedern der Ig-Superfamilie auf. Damit besteht die Möglichkeit, daß es einen kompetitiven Inhibitor der homophilen Fas-II-Interaktion darstellt.

Voraussetzung für die zeitliche Regulation von Zelladhäsionsmolekülen ist sowohl ein rascher Abbau der mRNAs als auch ein hoher Protein-Turnover. Beides läßt sich in vivo und in vitro nachweisen. Ursache für diesen schnellen Abbau ist oft eine PEST-Sequenz (reich an Prolin, Glutamin, Serin, Threonin) in der cytoplasmatischen Domäne. PEST-Sequenzen werden in zahlreichen Zelladhäsionsmolekülen nachgewiesen, die in der Entwicklung dynamisch reguliert werden.

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