Kapitel 34: Neurogenetik

34.3.2.16 Augenentwicklung bei Vertebraten: ein kurzer Vergleich

Im Gegensatz zur Augenentwicklung bei Insekten ist die Augenentwicklung bei Wirbeltieren auf molekularer Ebene nur schlecht verstanden. Das Vertebratenauge ist ein inverses Auge und besteht aus einem epidermalen und einem neuralen Anteil. Im Frühstadium der Entwicklung werden im Bereich der cranialen Neuralleiste, die sich bereits verdickt hat und die drei Gehirnbläschen bildet, die sogenannten Augenbläschen sichtbar. Dies sind bilaterale Ausstülpungen des Diencephalons, die sich zum optischen Stiel verlängern und schließlich als optische Vesikel bezeichnet werden. Die optischen Vesikel stoßen an einen bestimmten Bereich des Ektoderms, der die Kompetenz hat, sich zur Linse zu entwickeln. Dies wird durch den Kontakt mit den optischen Vesikeln induziert. Während nun vom Linsenektoderm Zellen einwandern und die Linse bilden, stülpt sich gleichzeitig der distale Bereich der optischen Vesikel ein und bildet die sogenannten Augenbecher. Jetzt liegen zwei Epithelschichten übereinander. Die proximale Schicht bildet die Pigmentzellschicht, während das distale Epithel als neuroretinale Zellschicht bezeichnet wird. Aus ihr entwickelt sich die Retina, die aus Photorezeptorzellen, Horizontal- und Amakrinzellen, Bipolarzellen, Interplexiformzellen, Ganglienzellen und Gliazellen besteht, wobei die Axone der Ganglienzellen den optischen Nerv bilden.

Im Gegensatz zum Komplexauge der Insekten, welches aus einer Vielzahl von identischen Einzelaugen besteht, die jeweils aus wenigen Zellen aufgebaut sind, ist das Vertebratenauge ein einheitliches Organ von hoher Komplexität. Doch obwohl die genetischen Wirkgefüge, die seiner Entwicklung zugrunde liegen, noch weitgehend unverstanden sind, spielen dabei doch viele der Gene eine Rolle, die bei der Entwicklung des Komplexauges der Insekten von Bedeutung sind. Die meisten wurden sogar aufgrund von Sequenzvergleichen mit Drosophila-Genen gefunden (Tab. 34-7). Das spektakulärste Beispiel, eyeless und Pax-6, wurde bereits am Anfang des Kapitels erwähnt. Es muß zur Zeit als eine spannende, aber noch ungeklärte Frage betrachtet werden, inwieweit die bei Drosophila aufgedeckten genetischen Wirkgefüge der Augenentwicklung auch bei Vertebraten im Einsatz sind. Falls tatsächlich Start- (eyeless/Pax-6) und Endpunkt (Opsingene) der Genkaskaden der Augenentwicklung in der Evolution konserviert sind, müßte die kon- bzw. divergente Augenevolution in den verschiedenen Phyla durch interkalierende Rekrutierung von Gensystemen erklärt werden.

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