Kapitel 34: Neurogenetik

34.3.1.14 Genetische Interaktionen von Notch und wingless: Kontrolle der Notch-Signaltransduktion

Die unmittelbare Signalübertragung von der Zellmembran zum Nucleus vermittelt durch die intrazelluläre Notch-Domäne ist ungewöhnlich, weil das Signal weder verstärkt wird, noch die sonst für Transduktionskaskaden üblichen Kontrollinstanzen existieren. Dennoch ist eine ganze Reihe genetischer Interaktionen mit der Notch-Signalkette außerhalb der bereits beschriebenen neurogenen Gene bekannt. Modifikation des Notch-Signals ist zunächst einmal auf der Seite der Empfängerzelle möglich. Für die Aktivität von Notch im Zellkern ist das Suppressor-of-Hairless-Protein essentiell; es stellt das DNA-bindende Modul des aktivierten Komplexes dar. Wie der Name bereits andeutet, wurde es durch seine genetische Interaktion mit Hairless gefunden und auf molekularer Ebene erwies es sich, daß beide Moleküle miteinander interagieren können; im Komplex ist der Suppressor of Hairless nicht in der Lage an DNA zu binden. Die Gegenwart von Hairless-Protein wirkt also antagonistisch auf die Notch-Signaltransduktion und setzt somit die Schwelle der Empfängerzelle für Signalempfang herauf.

Viele †bertragungsmechanismen der Zelle, die auf Signale wie Wachstumsfaktoren und Cytokine von der Zelloberfläche reagieren, zeigen ausgeprägte reziproke Kontrollen, welche die Reizantwort feinregulieren bzw. die Schwellenwerte für das Reaktionspotential festsetzen. Lange war kein solcher "crosstalk" zwischen bekannten Signaltransduktionsketten und der Notch-Kaskade bekannt, obwohl zahlreiche Gene existieren, deren Mutagenese verschiedene Notch-Phänotypen modifizieren. Gefunden wurde eine solche Interaktion sowohl genetisch als auch mit molekularen Methoden mit dem Produkt des wingless(wg)-Gens. Bestimmte Allelkombinationen von Notch ergeben zum Beispiel Phänokopien von wingless-Mutationen. Am eindrucksvollsten zeigt sich diese Interaktion bei der Entwicklung der Flügel, die sich bei hemimetabolen Insekten aus Imaginalscheiben bilden. Die Flügelimaginalscheibe läßt sich als einschichtiger zellulärer Sack betrachten, dessen Seiten sich jeweils zur ventralen bzw. dorsalen Oberfläche des Flügels differenzieren. Am Rand bilden sich zahlreiche Sinneshaare, die aus der differenziellen Aktivität der proneuralen Gene und der antagonistischen Notch-Signalkette entstehen. Die Frage, warum gerade am Rand solche neuronale Entwicklungsaktivität dominiert, erklärt sich aus der Expression des wingless-Signals aus einer einzigen Zellreihe, dem späteren Flügelrand (Abb. 34-17).

Das Produkt des wingless-Gens ist ein Vertreter einer großen Gruppe sezernierter Wachstumsfaktoren, die sowohl bei Invertebraten als auch bei Vertebraten weit verbreitet sind und ursprünglich als Drosophila-Homolog des Brustkrebs-Onkogens int-1 bekannt wurden. Das Protein hat eine zentrale Rolle nicht nur während der Entwicklung des Nervensystems (s. Kap. 33).

Die Aufklärung der wingless-Transduktionskaskade und ihre allgemeine Bedeutung in der Entwicklung wird an anderer Stelle behandelt. Die molekulare und genetische Analyse der wingless-Signalkette war erschwert durch die zahlreichen pleiotropen Effekte von wingless-Mutationen sowie das Fehlen geeigneter experimenteller Systeme, mit denen einzelne Komponenten der Signalkette isoliert werden konnten. Sowohl die phänotypischen Defekte von Mutationen, als auch das Expressionsmuster von wingless weisen auf seine allgemeine Bedeutung hin, ähnlich wie bei Notch. Es gilt inzwischen als sicher, daß das Wingless-Protein an einen Membranrezeptor der Frizzled-Familie bindet (Dfz2), der daraufhin das cytoplasmatische Dishevelled-Protein aktiviert. Dishevelled gehört zu einer wachsenden Familie von Proteinen mit bekannten Sequenzsignaturen, die häufig in Protein-Protein-Interaktionen und in Elementen der "tight junctions" und Synapsen gefunden werden, im weitesten Sinne also an der interzellulären Kommunikation beteiligt sind.

Es wird hypothetisiert, daß in Flügelimaginalscheiben aktiviertes Dishevelled-Protein mit der intrazellulären Domäne von Notch (NotchICD) assoziiert und dadurch mit der Bindung von Suppressor of Hairless Su(H) konkurriert. Dieses Modell erklärt die antagonistische Wirkung von Wingless auf die Notch-Signalübertragung. Winglessvermittelte Signaltransduktion kann in vielen Geweben gezeigt werden, die auch Notch exprimieren und es ist anzunehmen, daß dieser antagonistische Kontrollvorgang eine wichtige Instanz für die gezielte Regulation der Notch-Signale darstellt. In Wirbeltieren wurden zahlreiche Vertreter der wingless-Familie gefunden (wnt), die während der Embryogenese definierte Expressionsmuster zeigen. Auch diese Tatsache kann als Indiz für die ubiquitäre Bedeutung der Wingless-Kaskade für die Notch-Signalübertragung interpretiert werden.

Experimentell wird die Suche nach Notch-Interakteuren mit Sicherheit noch weitere Quervernetzungen zu bereits bekannten Mechanismen hervorbringen, insbesondere die Suche nach genetischen Modifikatoren (Enhancer- oder Suppressor-Mutationen) in einem "sensitisierten" Hintergrund.

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