Gott und Gottesbilder
Friedrich Nietzsche
Der tolle Mensch
Nietzsches beühmter Aphorismus begründet die Rede vom „Tode Gottes“. Darin deutet sich ein Wandel des Gottesversändnisses an. Die Metapher ist Programm unterschiedlicher theologischer und philosophischer Richtungen, die in der Abkehr von metaphisischer jenseitsorientierung ihren gemeinsamen Bezugspunkt finden, geworden.
der vorliegende Text ist der 125. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“ (1887). Den eigentlichen Aphorismus bildet nur der Satz „Gott ist tot“, während der Kontext Interpretation oder begründung des aphorismus ist.
Das ganze Stück ist in Aufbau und stilistischer Gestaltung (unmittelbare Ansprache des Lesers, Häufung rhetorischer Fragen, Paradoxien) außerordentlich anscheulich und suggestiv und durch die Fülle der Bilder fast unerschöpflich beziehungsreich.
Aufbau
1. Rahmenhandlung
· Der tolle Mensch auf dem Markt und sein Ruf: Ich suche gott
· Die Fragen der Umherstehenden
2. Die Rede des tollen Menschen und die Reaktion auf die Rede
2.1 Die Rede des tollen Menschen
· Die Tötung Gottes
· Die Ursachen des Todes Gottes
· Die Folgen
· Die Größe der Tat
2.2 Die Reaktion auf die Rede
· Bei den Zuhörerern: Unverständnis und Befremden
· Bei dem tollen Menschen: Bewusstsein, zu früh gekommen zu sein.
3. Rahmenhandlung
· Die weiteren Taten des tollen Menschen
Interpretation
Der tolle Mensch mit der Laterne ist dem Kyniker Diogenes von Sinope (um 412 - 323 v. Chr.) nachgebildet. Diogenes lebte in demonstrativer Bedürfnislosigkeit und bezeugte dadurch seine Verachtung für die Kultur und die Sitten seiner Zeit. Indem Nietzsche in die Maske des kynischen Philosophen schlüpft, bekundet er seinerseits Widerspruch zu den geltenden Überzeugungen und Werten seiner Gegenwart.
Der Markt bildet das Zentrum wirtschaftlichen Lebens und menschlicher Geschäftigkeit. In der Antike ist er auch Forum der Politik und Ort philosophischer Auseinandersetzung. Aber gerade weil die Menschen auf dem Markt so in den Geschäften ihres Alltags befangen sind, ist ihnen der Glaube an Gott verloren gegangen. Der „Tod Gottes“ ist keine theoretische Erkenntnis, sondern die Feststellung einer Tat, die sich für Nitzsche in einer ganz bestimmten Epoche der Menschheitsgeschichte zugetragen hat. Entscheidend ist das 19. Jahrhundert, in dem die neuzeitlichen Prozesse der Säkularisierung, des naturwissenschaftlichen Fortschritts, der Emazipation und des Autonomiestrebens einen gewissen Höhepunkt erreichen und den christlichen Gottesglauben verunsichern. Die Menschen auf dem Markt haben für den Propheten des Todes Gottes nur Spott übrig, und darin zeigt sich eine erste Ursache für das Ableben Gottes: Er ist gestorben am Vergessen und der Interesselosigkeit der Menschen. Sie selbst wissen nicht um ihre täterschaft.
In drei greoßen Bildern, die auf drei mythische Vorstellungen zurückgehen, umschreibt Nietzsche das göttliche Wesen: Die Sonne verweist auf seine Lebenskraft und seine Unnahbarkeit, das Meer ist ein Bild für seine Unergründlichkeit, der Horizont für seine Unendlichkeit. Man darf in diesen Bildern aber auch Anklänge an Platons Höhlengleichnis sehen.: Dann verweist die Sonne auf den Urgrund alles Seienden, das Meer spiegelt die ewigen Ideen, und der Horizont laässt Gott als Prinzip der Gestalthaftigkeit der Dinge erscheinen.
In solcher Bestimmung des göttlichen Wesens und im Rückblick auf die idealistische Philosophie Platons ergibt sich eine zweite Ursache für den Tod Gottes in der Neuzeit: Nach Nietzsche ist das Christentum dem Platonismus ein- und unterzuordnen, insofern es Platons weltanscheulichen Dualismus, die Herrschaft der Weltverdoppelung und der Weltentzweiung fortführt. Diese Sicht der Welt enthält von Anfang an den Keim der Auflösung, des Nihilismus, der im 19. Jahrhundert endgültig aufbricht, weil der Mensch nicht mehr fähig ist, die in dem dualistischen Weltbild angelegte Spannung durchzuhalten.
Der Nihilismus hat bei Zietzsche ein doppeltes Antlitz: Die Bilder des Stürzens, der Ortlosigkeit, der Leere verweisen auf die gefährliche Seite.
Gewohnte Ordnungen, selbstverständliche Deutungsmodelle der Welt und des Menschen verlieren ihre Verbindlichkeit und führen zu einer „Umwertung aller Werte“. Das andere Gesicht des Nihilismus blickt hoffnungsfroh und kündet die Zukunft eines neuen Menschen - des Übermenschen: In der Bereiung vom Jenseits verspürt der Mensch einen neuen Daseinswillen, ein neues Ich-Vertrauen, eine neue Liebe zur Erde, und er vermag ein ungeteiltes Ja zum Diesseits zu sprechen. Die Proklamation menschlicher Autonomie nach so langer Zeit der Fremdbestimmung ist für Nietzsche die größte Tat der Geschichte, und sie wird deshalb zu einem neuen Dreh- und Angelpunkt in Nietzsches Philosophie.
Die Zuhörer sind von der Rede des tollen Menschen befremdet. Der Prophet des Todes Gottes ist zu früh gekommen, noch hat ihr bewusstsein die Wirklichkeit ihres Unglaubens nicht eingeholt. Die Erfahrung, unzeitgemäß zu sein, findet in der symbolischen Handlung, dem Zertrümmern der Laterne, ihren sichtbaren Ausdruck.
Die große Wirkungsgeschichte des Textes ist ein Zeichen dafür, das Nietzsche eine von vielen heutigen Menschen empfundene Diskrepanz zwischen vorherrschender Gottesvorstellung und menschlichem Selbstverständnis nachempfunden und zum Ausdruck gebracht hat.
aus: Konzepte 2 - Lehrerkommentar. Erarbeitet v. R. Kaldewey, G. Neumüller u. F.W. Niehl. Frankfürt/München 1978, S. 48 - 50
Impulse:
· Stellen Sie Beziehungen zwischen dem tollen Menschen, Diogenes und Jeremia (Jer 19, 1ff) her.
· Deuten Sie die Metapher vom Tode gottes
· Deuten Sie die Bilder, in denen die Folgen des Todes Gotes beschrieben werden. Werlche Gefühle verbinden Sie mit den Bildern?
· Wie wertet der Text den Tod gottes?
· Diskutieren Sie die Metapher vom „Tode Gottes“
Nietzsche, Friedrich Wilhelm (1844-1900), deutscher Philosoph und Altphilologe.
Leben und Werk
Nietzsche wurde am 15. Oktober 1844 in Röcken bei Lützen geboren. Im Alter von fünf Jahren verlor er seinen Vater, einen lutherischen Pfarrer, und wurde von seiner Mutter in einem Haushalt erzogen, in dem auch seine Großmutter, zwei Tanten und seine Schwester lebten. Nach dem Studium der klassischen Philologie in Bonn folgte er seinem Lehrer F. W. Ritschl nach Leipzig und erhielt 1869 auf dessen Empfehlung eine Professur für klassische Philologie an der Universität Basel, die er im Alter von 24 Jahren antrat. Nietzsches Gesundheitszustand, insbesondere ein schweres Augenleiden, zwang ihn 1879 dazu, seine Professur aufzugeben. Die darauffolgenden zehn Jahre lebte er als freier Philosoph an verschiedenen Orten, u. a. in Venedig, Genua, Rapollo und Nizza. Nach einem psychischen Zusammenbruch 1889 fiel Nietzsche in geistige Umnachtung. Er starb am 25. August 1900 in Weimar.
Neben dem Einfluß der altgriechischen Kultur, vor allem der Philosophie Platons und Aristoteles’, wurde Nietzsche von dem Philosophen Arthur Schopenhauer, der Evolutionstheorie und seiner Freundschaft mit dem Komponisten Richard Wagner geprägt.
Nach Nietzsche haben die traditionellen Werte, wie sie sich vor allem im Christentum finden, ihre Gültigkeit verloren. Dieser Prozeß ist für ihn Ausdruck des Nihilismus, den er auf die Formel bringt: „Gott ist tot“. Nietzsche versteht die christlichen Werte als Ausdruck einer „Sklavenmoral“, die aus den Ressentiments der Schwachen hervorgegangen sei. Er behauptete, daß neue Werte geschaffen werden könnten, um die traditionellen zu ersetzen. Die Erörterung dieser Möglichkeit führte zu seinem Entwurf des Übermenschen.
Laut Nietzsche verhielten sich die Massen, die er auch die Herde nannte, traditionskonform, während sein idealer Übermensch selbstsicher, unabhängig und individualistisch sei. Er sei zu tiefen Gefühlen fähig, beherrsche aber seine Leidenschaften mittels der Vernunft. Statt sich auf den Lohn in einer kommenden Welt zu verlassen, wie er von der Religion versprochen werde, richte er seine Aktivitäten auf das Diesseits und bejahe das Leben, und darin auch Leid und Schmerz als Teil der menschlichen Existenz. Nietzsches Übermensch ist selbst der Schöpfer der Werte, einer „Herrenmoral“, die die Stärke und Unabhängigkeit dessen widerspiegelt, der sich von allen ihm auferlegten Werten befreit und nur die Werte annimmt, zu denen er sich selbst entschieden hat.
Nietzsche behauptete, daß sich alles menschliche Verhalten aus dem Willen zur Macht herleite. Positiv verstanden, handele es sich dabei nicht einfach um Macht über andere, sondern um die Macht über sich selbst als Voraussetzung für die eigene Schaffenskraft. Diese Macht manifestiere sich in der Unabhängigkeit, Kreativität und Originalität des Übermenschen. Obwohl Nietzsche ausdrücklich verneint, daß es solche Übermenschen bereits gegeben habe, erwähnt er doch einige Menschen, die er als Vorbilder ansieht: Sokrates, Jesus Christus, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Shakespeare, Goethe, Julius Caesar und Napoleon.
Der Begriff „Übermensch“ als auch die Begriffe „Willen zur Macht“ und „Herrenmoral“ wurden von den Nationalsozialisten mißbräuchlich aufgegriffen und politisiert, wobei es sich jedoch um eine Fehldeutung von Nietzsches Werk handelte, da Nietzsche z. B. den deutschen Nationalismus, den Antisemitismus sowie den Biologismus entschieden ablehnte und kritisierte.
Die bedeutendsten Werke, die Friedrich Nietzsche verfaßte, tragen folgende Titel: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872), Unzeitgemäße Betrachtungen (1873-1876, 4 Bde.), Menschliches, Allzumenschliches (1878), Morgenröte (1881), Die fröhliche Wissenschaft (1882), Also sprach Zarathustra (1883-1891, 4 Bde.), Jenseits von Gut und Böse (1886), Zur Genealogie der Moral (1887).
Wirkung
Als Schriftsteller übte Nietzsche großen Einfluß auf die deutsche Literatur, insbesondere Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Stefan Zweig, Thomas Mann, Hermann Hesse und Gottfried Benn sowie die französische Literatur aus, u. a. auf Michel Foucault und Jacques Derrida. In der Psychologie wirkte er auf Sigmund Freud, Ludwig Klages und Carl Gustav Jung. Über seine Gedanken wurde viel diskutiert und gearbeitet, u. a. von den Philosophen Karl Jaspers und Martin Heidegger, dem deutschjüdischen Philosophen Martin Buber, dem deutschamerikanischen Theologen Paul Tillich sowie den französischen Schriftstellern und Philosophen Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Nietzsches Proklamation „Gott ist tot“ wurde von Thomas J. J. Altizer und Paul van Buren, radikalen amerikanischen Theologen der Nachkriegszeit, aufgegriffen, als sie in den sechziger und siebziger Jahren dem Christentum zu neuer Bedeutung verhelfen wollten. Siehe auch Existenzialismus.
TAFELBILD
Ursachen
* Säkularisierungs- und Emanzipationsprozesse
* Naturwissenschaftliche Welterklärung
* Autonomie des Menschen
* Überwindung der Weltverdoppelung in Diesseits und Jenseits
Proklamation des Todes Gottes
* Geschichtliche Tat des Menschen
* Neues Zentrum der Geschichte
* Nietzsche, Prophet des Todes Gottes
Folgen:
* Negativ: Entwertung überkommener Werte und Sinndeutung - Nihilismus
* Positiv: Befreiung des Menschen und Aufruf zur Selbstbestimmung
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