Ich möchte Ihnen die Frage gerne in Bezug auf Brasilien beantworten. Inwieweit sich meine Beobachtung auf Deutschland übertragen lassen, können Sie sicher besser beurteilen als ich.

Doch zunächst zum Hintergrund: Ciênsação (www.sciensation.org) ist eine OER Datenbank für Schülerexperimente, die sich insbesondere an lateinamerikanische Lehrer richtet. Im Februar dieses Jahres sorgte Ciênsação, über das an dieser Stelle bereits im Oktober letzten Jahres berichtet wurde, durch einen in 3 Sprachen veröffentlichten Artikel im wissenschaftlichen Journal “IOP Physics Education” für Aufsehen unter Lehrern in Brasilien und benachbarten Ländern. Etwa zur gleichen Zeit öffnete ein Webshop (tools.sciensation.org), welcher Lehrern und Schulen Lehrmittel anbietet, die für die Durchführung einiger der Experimente benötigt werden (siehe die Abbildungen hier in diesem Beitrag). Da liegt natürlich die Schlussfolgerung nahe, hier solle ein OER-Angebot genutzt werden, um Kasse zu machen.

Nun ist in der Tat geplant, dass das Projekt Ciênsação langfristig durch den Verkauf von Experimentiermaterialien selbstragend wird. Allerdings taugt der Ansatz auf Grund des logistischen Aufwands nicht wirklich dazu ‚Kasse zu machen’: Die Veröffentlichung eines einzigen Experimentes kostet uns einschließlich Fotos (insb. Materialien), professionellen Übersetzungen und Webseitenprogrammierung rund 30 bis 50 Euro (die etwa 2 Tage Arbeitsaufwand für Schreiben, Testen und Editieren nicht mit eingerechnet). Da müssen Sie schon sehr viele Magnete, Farbfilter und Sicherheits-Spiegel herstellen, lagern, verpacken, versenden und abrechnen, ehe Sie ein einziges Experiment bezahlt haben. Dabei sind die Kosten für den Server noch nicht mal in der Rechnung enthalten. Reich wird man bei unserer Vorgehensweise also nicht. Vielmehr betreibt die von Ciênsação beauftragte GFNU (www.gfnu.org) die Seite und den Shop von Deutschland aus als eine Art Aushängeschild und finanziert das Projekt mit ihren Einnahmen aus Consulting Dienstleistungen im Bereich der Wissenschaftskommunikation.

Die Motive, einen Onlineshop mit Lehrmitteln für die Experimente zu öffnen, sind entsprechend auch andere: Was nützt es, viel Arbeit in das Veröffentlichen von Experimenten zu stecken, wenn die Lehrer sie mangels geeigneter Materialien* nicht mit ihren Schülern durchführen können? Vor 3 Jahren hatte mich ein Kollege in Brasilien angesprochen, ob ich wüsste, woher er etwa 20 Stabmagnete für seine Lehrerfortbildung bekommen könne. Da ich ihn erst kurz zuvor davon überzeugen konnte, hands-on Experimente in seinen Kurs einzubinden, machte ich mich erfreut auf die Suche. Weniger erfreut war ich hingegen, als sich zeigte, dass sich genau 2 Möglichkeiten boten: Entweder von lokalen Anbietern einfache Stabmagnete (7x2cm) für etwa 57 bis 70 Euro pro Stück zu kaufen oder für rund 800 EUR die Mindestbestellmenge von 1000 vergleichbaren Magneten in China zu erwerben. Zudem konnte ich nur Schulmagnete aus Alnico finden, die schon zu Beginn recht schwach sind und mit der Zeit demagnetisieren, so dass sie schon bald keinen Spaß mehr machen. Selbst mir als Laie im Bereich magnetischer Materialien war klar, dass sich mit wenig Aufwand bessere Schulmagnete für weniger Geld anbieten lassen müssten.

Seit jener Begebenheit habe ich einiges an Lehrmaterialien eingekauft, um Schul- und Universitätslabore in Brasilien einzurichten. Dabei konnte ich nicht nur die sehr bürokratischen Prozesse, sondern auch die Menschen dahinter und die inoffiziell genutzten Abkürzungen durch den Papierdschungel kennen lernen. Nachdem ich mit einigen Inhabern von Lehrmittelanbietern gesprochen habe, kann ich mittlerweile zumindest verstehen, warum sie die Preise so hoch ansetzen können – und zum Teil auch müssen.

Ein grundlegendes Problem in Brasilien ist es, dass die Lehrmittel nicht jenen Lehrern verkauft werden, die sie später einsetzen sollen, sondern zentralen, meist politisch besetzten Verwaltungsstellen, die den didaktischen Nutzen der Produkte kaum beurteilen können. Politische Instanzen in Brasilien sehen keinen Wert darin, etwas Bestehendes zu pflegen. Allgemein bevorzugen sie es, sich durch werbewirksame Aktionen zu profilieren. Reparaturbedürftige Lehrmittel instand zu setzen bringt eben keine politische Dividende, Fotos von Einweihungsfeiern glänzender neuer Einrichtungen hingegen schon. Entsprechend werden zur Verfügung stehende Mittel lieber in große, weithin sichtbare Projekte investiert, für die jedoch langfristig weder Geld für Wartung noch Verbrauchsmaterial vorgesehen ist. Viele der an sich guten Ideen und wertvolle Infrastruktur enden deshalb schnell als nutzlose „weiße Elefanten“, wie dies im brasilianischen Volksmund gemeinhin genannt wird.

Lehrmittelanbietern ist klar, dass in diesem Umfeld mit dem Vertrieb von einzelnen Produkten kein Geld zu machen ist. Vielmehr konzentrieren sie sich auf große Projekte, in denen z.B. eine neue Vorzeigeeinrichtung ausgerüstet werden soll oder ein spezielles Produkt (z.B. Tablet) für alle Schulen in einem Bezirk angeschafft wird. Da Lehrer praktisch keinen Einfluss auf die Kaufentscheidung haben, ist die didaktische Qualität und Handhabung des Produktes nachrangig. Ein Produkt muss im Projektantrag überzeugen, nicht in der Praxis. Wichtig ist es dabei jedoch, diesen Projektantrag zusammen mit der verantwortlichen Einrichtung zu schreiben, da es sonst für ein Geschäft schon zu spät ist:

Den für den Einkauf verantwortlichen Organisationen ist vorgeschrieben, aus mindestens 3 Angeboten das günstigste auszuwählen. Mangels Verständnis der technischen Anforderungen und erstaunlich kreativen ‚Ideen’ der im Einkauf arbeitenden ‚Fachkräfte’, kommt es so regelmäßig zu erheiternden Anekdoten, bei denen sich das billigste Produkt als nicht kompatibel oder aus anderen Gründen völlig ungeeignet herausstellt. Um solchen Überraschungen vorzubeugen, ist es nötig, das gewünschte Gut so detailliert zu beschreiben, dass nur noch ein spezifisches Produkt eines bestimmten Anbieters der Ausschreibung entspricht. Da niemand das Produkt so gut kennt wie der Anbieter selbst, ist dessen Hilfe bei der Formulierung eine willkommene Unterstützung. Es beschleunigt und vereinfacht zudem den Einkaufsprozess, wenn der Anbieter die Vergleichsangebote der Konkurrenz gleich mitliefert.

Um an der Ausschreibung schließlich teilnehmen zu können, muss eine Firma nachweisen können, dass sie ihre Steuern und Abgaben bezahlt hat und diversen Regulierungen entspricht. Für viele Unternehmen in Brasilien ist es zu aufwendig und wirtschaftlich nicht sinnvoll, Steuern korrekt zu bezahlen und allen Anforderungen gerecht zu werden. Gerade große Unternehmen lassen es lieber auf Gerichtsprozesse ankommen, die sich über viele Jahre hinziehen oder mit einem vorteilhaften Vergleich enden. Daher kann ein als Lehrmittel gedachtes Produkt meist nicht im Sonderangebot eines großen Discounters erworben werden, sondern nur von Firmen, die sich auf öffentliche Ausschreibungen spezialisiert haben – was wiederum den Preis treibt.

Die Anbieter von Lehrmitteln haben sich auf diese Bedingungen eingestellt. Ihre Arbeit beginnt schon, Monate bevor ein Projekt offiziell beantragt wird, bei freundschaftlichen Arbeitstreffen und -essen, beinhaltet Hilfe bei der Formulierung des Antrags, einen enormen bürokratischen Aufwand für die Beteiligung an der Ausschreibung, den einen oder anderen persönlichen Gefallen, die eigentliche Lieferung und gegebenenfalls Aufbau der Lehrmittel, und endet oft erst viele Monate später, wenn die öffentlichen Einrichtungen schließlich die Mittel und den Willen haben, ihre Rechnung zu begleichen. All dies geht mit beträchtlichen Vorfinanzierungskosten und Risiken einher, die sich in den Kosten der Lehrmittel widerspiegeln. Und führt indirekt zum Fehlen von geeigneten Materialien an den Schulen. Ein Firmeninhaber, der das oben beschriebene Spiel im Bildungssektor bereits in zweiter Generation mitmacht, berichtete einmal in einem Nebensatz wie selbstverständlich, dass seine Frau als Lehrerin an einer öffentlichen Schule eben häufiger Unterrichtsmaterialien aus eigener Tasche bezahlt.

Und genau hier kommt das Angebot von Ciênsação ins besagte Spiel. Lehrer und Schulen, die nicht darauf warten möchten, dass ihnen Ausrüstung über ein Großprojekt zugeteilt wird, haben oft keine Möglichkeit,  geeignetes Material* zu bekommen. Unser kleiner Online Shop ermöglicht es deshalb, einfaches, aber sicheres Equipment für Schülerexperimente in Klassensets zu erwerben – zu Kosten, die auch ein Lehrer in Lateinamerika aufbringen kann bzw. bei Schulen unter ‚Büromaterial’ verbucht werden. Dieses Angebot kostet uns zwar Zeit, die wir lieber mit den Ausprobieren neuer Experimente verbringen würden, ist letztlich aber notwendig, damit die Experimente im Schulunterricht auch eingesetzt werden.

Vergleiche ich nun meine Erfahrungen als ‚Lehrmittelanbieter’ (sofern man dies bei 9 Produkten so nennen mag) mit denen als Käufer beim Aufbau von Laboratorien in Bildungseinrichtungen, finde ich die Ursache für die absurd hohen Kosten für Lehrmittel hauptsächlich im Vertriebsweg. Über die Jahre hat sich ein System etabliert, das weder für Anbieter noch für ehrliche Schulbeamte und schon gar nicht für Lehrer von Vorteil ist, gegen dessen Dynamik sich aber keiner der Beteiligten im Alleingang stemmen möchte. Für unseren winzigen Online-Shop mag dies möglich sein, in größerem Maßstab aber ist das Risiko zu groß. Bei alledem sprechen wir hier lediglich von Lehrmitteln für den naturwissenschaftlichen Unterricht – um wie viel schwieriger muss die Situation erst bei Schulbüchern sein, deren Herstellung weitaus größere Kosten verursacht, und politisch extrem sensibel ist!

Dies ist nicht mehr als eine subjektive Analyse. Eine perfekte Lösung habe auch ich nicht. Wohl aber den Wunsch, dass eines Tages der Lehrer als eigentlicher Kunde wahrgenommen und respektiert wird und die Kräfte des Marktes sich an den Bedürfnissen des Schulunterrichts ausrichten, statt an den Mechanismen der Bürokratie.

Wie gesagt: Inwieweit sich meine Beobachtung auf Deutschland übertragen lassen, können Sie sicher besser beurteilen als ich.

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*Die meisten Schülerexperimente kann man mit Materialien aus der Küche oder dem Supermarkt durchführen, aber nicht alles ist für Kinderhände geeignet. Wann immer Alltagsgegenstände genutzt werden können, sollte man dies auch tun. Dies hilft Schülern, „Wissenschaft“ als Teil ihres vertrauten Umfelds wiederzuerkennen, statt sie als etwas Abstraktes wahrzunehmen, das spezialisierten Eliten mit hochgerüsteten Labors vorbehalten ist. In einigen Fällen ist dies aber aus sicherheitstechnischen Gründen (denken Sie etwa an Glasspiegel in der Grundschule) bzw. praktischen oder didaktischen Erwägungen nicht ratsam.

 

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