Björn Nölte:

Kollaboratives Lernen. Sehen – Fördern – Bewerten

„Die Digitalisierung an den Schulen nimmt an Fahrt auf. Es herrscht eine Aufbruchsstimmung wie kaum je zuvor. Zunehmend mehr Lehrkräfte greifen aktuelle Konzepte wie Blended Learning engagiert auf und treiben so die Entwicklung eines neuen Lernens voran. An diese Lehrerinnen und Lehrer wendet sich unsere neue Buchreihe: Upgrade …“ (www.friedrich-verlag.de)

„Kollaboratives Lernen” von Björn Nölte eröffnet diese vom Friedrich-Verlag angekündigte Reihe. Deshalb ist es lohnenswert, mehr als einen Blick hineinzuwerfen.

Kooperativ oder kollaborativ?

Der Autor widmet der Unterscheidung zwischen kooperativem und kollaborativem Lernen viel Aufmerksamkeit, fast klingt es als wolle damit ein Paradigmenwechsel markiert werden. Ich gestehe, dass ich mich anfangs mit dieser Unterscheidung schwer getan habe, war und bin ich doch ein Freund und Anwender des „Kooperativen Lernens“ nach Norm und Kathy Green ( siehe: Wikipedia-Artikel).
Rasch wird dann klar, dass es bei dieser Unterscheidung im Wesentlichen um die Differenz zwischen analogen und digitalen Lernverfahren und Lerninstrumenten geht: Kollaboratives Lernen beruht zum einen auf den technischen Möglichkeiten digitaler Lern-Tools und -verfahren und fordert bzw. fördert zum anderen Fähigkeiten in selbstständigem und gemeinsamem Arbeiten.
Somit liegt der pädagogische Schwerpunkt beim kollaborativen Arbeiten auf dem „gemeinsamen Arbeiten“, während kooperatives Lernen als vorwiegend „arbeitsteilige“ Vorgehensweise dargestellt wird: „Arbeitsteilig“ geht immer, „gemeinsam“ aber geht am besten auf Internet-Lernplattformen und mit Tools wie Etherpads, Canva, Google Jamboard, Kanban Board, Padlets, Taskcards, Scrum …
Das gleich zu Beginn ausgeführte Beispiel der Erstellung eines „Plakates“ im kooperativen (analogen) und kollaborativen (digitalen) Modus (S. 16) macht dies durchaus deutlich. Im ersten Fall werden arbeitsteilig erstellte Ergebnisse zusammengefügt, im zweiten Fall ist ein gemeinsam geplantes und digital erstelltes Dokument entstanden, das alle Vorteile von Digitalisaten hat: semi-professionelle Optik, dauerhafte Zugänglichkeit, Überarbeitbarkeit und Abrufbarkeit.

Getrennt oder gemeinsam

Das gemeinsame Er-Arbeiten eines Ergebnisses oder Produktes mit digital zur Verfügung stehenden Mitteln bildet die wesentliche pädagogische (nicht nur methodisch-didaktische) Herausforderung für alle Beteiligten, insbesondere für die Lehrkraft und die Wahrnehmung ihrer Rolle. Die nachfolgenden Kapitel fokussieren sich dementsprechend auf folgende Aspekte:

Kollaboration in der Praxis umsetzen (Kap. 4): Dies ist das umfangreichste Kapitel des Buches, es zeigt ein vielfältiges Spektrum an Lernmöglichkeiten: Gestaltung eines Kollaborativen Klassenzimmers, Gruppenarbeitssettings, Tools zur Erstellung kollaborativer Dokumente, digitale Umsetzung von Projektideen.

Diagnostizieren kollaborativen Lernens (Kap. 5): Hier ist vor allem die Lehrkraft gefordert zu ermitteln, in welchem Umfang welche Kompetenzen gefördert werden konnten. Die zu berücksichtigenden Aspekte („Items“) werden vorgestellt, ebenso Analyse-Tools, die zur Diagnose verwendet werden können.

Bewertung kollaborativer Leistung (Kap. 6): Hier geht es um die Einbeziehung von Kollaboration in den Vorgang der Leistungsbewertung. Da ist Umdenken angesagt und der Autor weist in diesem Zusammenhang auf Erfahrungen und Verfahren hin, die sich unter Pandemie-Bedingungen quasi zwangsweise herausbildeten. Der Anspruch lautet: Weniger Fremdbewertung und mehr Eigenbewertung, mehr Bewusstsein für die eigene Leistung! (S.99)

Modelle für die Schule von morgen (Kap. 7): In diesem Kapitel werden existierende Umsetzungsmodelle vorgestellt, die dem Hochschulbereich zuzuordnen sind und von einer gewissen Exklusivität zeugen, wie sich schon in der Namensgebung zeigt: Die ‚Ecole 42‘ in Paris und Wolfsburg, sowie die ‚School of Design Thinking‘ in Potsdam.

Gestaltung von Beziehungen (Kap. 8): In diesem Kapitel wird das „heikle Feld“ (S. 123) der Lehrer:innen-Schüler:innen-Beziehung betreten. Anhand von drei „unterschiedlich gerichteten Ansätzen“ werden Lösungmöglichkeiten dargestellt in Hinblick auf Beziehungsqualität, Statusfragen und Peer-Feedback.

Die abschließenden Kapitel (9 und 10) erweitern das Blickfeld noch um wichtige Aspekte der Kollaboration in Kollegium und Schulgemeinschaft sowie in der Lehramtsausbildung.

Fazit 1

  • Kollaboratives Lernen, Internet und digitale Arbeitsinstrumente gehören untrennbar zusammen.
  • Kollaboratives Lernen findet in möglichst offenen Lernszenarien statt, die Räume für „personalisiertes Lernen“ freigeben.
  • Kollaboratives Lernen fördert und setzt voraus „Filterkompetenz“, die es dem Lernenden ermöglicht, mit einem Übermaß an Informationen umzugehen.
  • Kollaboratives Lernen fordert folglich von der Lehrkraft die „Hoheit der unterrichtlichen Steuerung“ (S. 37) abzugeben.
  • Die Lehrkraft sollte möglichst Internet-affin sein, damit ihr bei der Vielfalt und Angesagtheit vorgeschlagener Tools nicht der Überblick verloren geht.
  • Die angemessene Bewertung kollaborativer Arbeitsprozesse und Ergebnisse erfordert dringend eine „zeitgemäße Prüfungskultur“.
  • Die Kenntnis kollaborativer Lernverfahren in Kollegien und Lehrer:innen-Seminaren ist ein zeitgemäßer Beitrag zur „Kultur der Digitalität“.

Fazit 2

‚Upgrade: Kollaboratives Lernen‘ bietet eine facettenreiche Einführung in kollaboratives Lernen, in Lernszenarien und Arbeitsformen, die vor allem durch digitales Instrumentarium möglich werden und in diesem Kontext ihre besondere Plausibilität entfalten können. Dabei geht es nicht nur um didaktische Begründungen und methodische Verfahren, es geht auch um zeitgemäße und pädagogisch wünschenswerte Rollen: Den Team-fähigen Schüler und die ‚bescheidene‘ Lehrkraft (S. 33). Das Buch weist schließlich durch viele Links und QR-Codes über sich hinaus und ist dadurch selbst ein Beispiel für jenes Informationsübermaß, welches der interessierte Leser dank seiner „Filterkompetenz“ bewältigen kann.

Fazit 3

Ein Anliegen: Im kooperativen Lernmodell gibt es das „Think first“-Prinzip. Bevor ins Team gegangen wird, soll der Lernende sich um ein eigenes Verständnis des zu Leistenden bemühen. Dabei ist es egal, ob es sich um eine im Rahmen der Arbeitsteilung vorgegebene Aufgabenstellung handelt (‚kooperativ‘) oder um ein vorläufiges Erfassen des Gesamtprojektes (‚kollaborativ‘). Die Beschäftigung mit sich selbst bzw. Selbst-Beschäftigung ist eine wichtige Voraussetzung für gelingende Team-Arbeit: Ich habe mir vorbereitende Gedanken gemacht und mir – mit den zur Verfügung stehenden Mitteln – ein erste Vorstellung von dem erarbeitet, was das Ziel und der Weg meiner Aufgabe (kooperativ) oder dieses Projektes (kollaborativ) sein kann. Und: Ich bin in der Lage, selbstständig konzentriert zu arbeiten und mich dadurch produktiv ins Team einzubringen.

Diesem – nennen wir es mal: kontemplativen – Aspekt des Lernens könnte mehr Raum gegeben werden. Es gibt ja weiterhin die bekannten Dynamiken in der Team-Arbeit: die Schnellen bestimmen den Kurs, die Bedächtigen werden überrollt, die Ahnungslosen schwimmen mit. Das ist der Grund, warum es im kooperativen Lernmodell verpflichtende Einzelarbeit und klar umrissene Vorgaben gibt. Jedem Einzelnen soll eine Chance gegeben, mit sich, seiner Rolle und Vorstellungen klarzukommen – und sich so für die Arbeit im Team zu rüsten.

Das scheint mir eine pädagogische Lücke zu sein, die in der Konzeption kollaborativen Lernens noch genauer auszugestalten wäre.

Klaus Dautel, Januar 2023

Björn Nölte: Kollaboratives Lernen
Friedrich Verlag 2022, 158 Seiten