Das Buch der US-amerikanischen Psychologin Jean M. Twenge aus dem Jahre 2017 trägt den Titel: „iGen“. Die deutsche Übersetzung 2018 ist betitelt: „Me, My Selfie and I: Was Jugendliche heute wirklich bewegt.“ Hier wird iGen mit „Generation Selfie“ übersetzt. Ich (K.D.) bevorzuge im Folgenden den Begriff iGen und die amerikanische Ausgabe.

Wer ist iGen und woher wissen wir das?

Der vollständige englische Titel sagt schon viel über Gegenstand und Botschaft dieses Buches: „Why today’s super-connected kids are growing up less rebellious, more tolerant, less happy and completely unprepared for adulthood – and what that means for the rest of us.“  Das i in iGen steht für Internet und Individualismus, das Gen für die Gruppe von jungen Menschen, welche zwischen 1995 und 2002 geboren wurden. Deren Problemlage macht dieses Zitat deutlich:

“We didn’t have a choice to know any life without iPads and iPhones.“ (S. 2)

Es ist die erste Generation, für die das Internet immer verfügbar ist: Es ist als Smartphone Tag und Nacht zur Hand, meistens in der Hand, immer griffbereit. Das iPhone wurde 2007 vorgestellt, das iPad drei Jahre später. Der endgültige Durchbruch der Smartphones ist im Jahr 2012 anzusiedeln. Damals überschritten sie die 50-Prozent-Schwelle ihrer Verbreitung bei Jugendlichen in den USA.

Die Autorin, Jean M. Twenge, konstatiert, dass

  • diese Generation ihre Zeit auf eine ganz andere Weise verbringt als je zuvor
  • ihre Mitglieder folglich eine ganz eigene Sozialisation erfahren
  • sie andere Verhaltensweisen und andere Haltungen in Fragen von Religion, Sexualität und Politik entwickeln
  • dies „all of a sudden“ – nämlich ab 2011/12 offensichtlich geworden sei
  • die Zahl derjenigen, die angeben, sich „einsam“ zu fühlen, wächst, ebenso wie die Angst, etwas zu verpassen und ausgelassen zu werden (FOMO = fear of missing out, S. 97)
  • eine signifikante Zunahme von Depressionen und Suiziden bei (vor allem weiblichen) Teenagern festzustellen ist (S. 110)
  • dies nicht allein mit Technologie, mi Smartphones und Tablets, zu erklären ist, sondern auch mit dem, wofür das i noch steht: dem „Individualismus“ und den damit einhergehenden psychischen An- und Überforderungen.

In einem Satz:

„Overall, iGen is a less confident, more uncertain, more anxious generation than Millennials were at the same age. That may at least partially be due to their adolescence spent on their smartphones.“ (http://www.jeantwenge.com/faqs/)


Autorin und Buchinhalt

Die Autorin ist Professorin für Psychologie an der Universität San Diego, Ca., sie verfolgt und untersucht seit 25 Jahren die vier wichtigsten US-Studien, die mit ca. 11 Millionen jungen US-Amerikanern seit den 1960ern durchgeführt wurden. Daraus leitet sie zehn Trends ab, welche die iGen’ers prägen:

In No Hurry (the extension of childhood into adolescence), Internet (how much time they are really spending on their phones—and what that has replaced), In person no more (the decline in in-person social interaction), Insecure (the sharp rise in mental health issues), Irreligious (the decline in religion), Insulated but not intrinsic (the interest in safety and the decline in civic involvement), Income insecurity (new attitudes toward work), Indefinite (new attitudes toward sex, relationships, and children), Inclusive (acceptance, equality, and free speech debates), and Independent (their political views).“ (S. 11)

In der deutschen Ausgabe (2021, S. 18/19) wird das so übersetzt:

  • Keine Eile (die Verlängerung der Kindheit in die Jugend);
  • Online-Zeit (wie viele Stunden tatsächlich im Internet verbracht werden – und was dadurch wegfällt);
  • Nicht mehr persönlich (der Niedergang der persönlichen sozialen Interaktion)
  • Unsicher (deutlich erhöhtes Aufkommen psychischer Krisen);
  • Gottlos (Niedergang der Religion);
  • Isoliert, aber nicht wirklich(Streben nach Sicherheit und Nachlassen des bürgerlichen Engagements);
  • Einkommens-Unsicherheit (veränderte Haltung gegenüber der Arbeit);
  • Unbestimmt (neue Einstellung zu Sex, Beziehungen und Kindern);
  • Inklusiv (Akzeptanz, Gleichberechtigung und freies öffentliches Debattieren) und
  • Ungebunden (ihre politischen Ansichten).

Jedem dieser zehn Trends widmet Jean M. Twenge ein Kapitel, dabei werden sowohl Statistiken ausgewertet (in ca. 300 Diagrammen) als auch ausgewählte jugendliche Interview-Partner porträtiert.

Zum Einstieg: die Befunde in Kapitel 1

Was haben nun die untersuchten Studien ergeben? Das erste Kapitel („In no hurry“) listet folgendes auf: Die iGen-Teens

  • gehen wieder öfter mit ihren Eltern aus und weniger mit Ihresgleichen
  • lehnen sich weniger gegen „their parents’ overprotection“ auf, „instead, they embrace it“ (47)
  • haben weniger Dates bzw. sind weniger an Dates interessiert
  • „are less likely to have sex „(22)
  • sind weniger an dem frühen Erwerb eines Führerscheins interessiert
  • haben weniger Nebenjobs und Nebenverdienste
  • haben weniger Interesse an freiwilligen und außer-unterrichtlichen Aktivitäten
  • verwenden weniger Zeit für die Erledigung von schulischen Hausaufgaben
  • trinken weniger Alkohol – holen das aber am College durch Koma-Saufen („binge-drinking“) nach (37),
  • sehnen sich weniger danach, erwachsen zu werden: “kids like being kids.“ (46)

Der Autorin – und dem Leser – stellt sich folglich die Frage:

„If teens are working less, spending less time on homework, going out less and drinking less, what are they doing?“ (47)

Der Beantwortung dieser Frage ist Kapitel 2 gewidmet („how much time they are really spending on their phones“), die weiteren Kapitel beschäftigen sich mit der seelischen Verfasstheit, den Hoffnungen, den Lebenseinstellungen und vor allem den Ängsten von iGen’ern. Nicht alles hat mit Smartphone und Tablet zu tun, aber sehr viel. Und nicht alles ist negativ zu bewerten oder alarmierend, aber doch so einiges. 

(Auf der Seite Speed Summary: iGen  findet man kurze Zusammenfassungen dieser zehn Kapitel.)

Understanding – and saving

Das letzte Kapitel lautet: Verstehen und retten! Es enthält viele bekannte lebenspraktische Ratschläge für Jugendliche und Eltern, wie z.B.

  • dem Kind nicht zu früh ein Smartphone zu kaufen (noch nicht in der Grundschule)
  • und wenn schon ein Gerät sein muss (wegen dem Elternkontakt und so), dann besser eines mit begrenztem Funktionsumfang, wie z.B. ein Klappmodell ohne Touch-Funktionen.
  • und wenn dann endlich ein richtiges Smartphone, dann mit vorinstallierten Apps zur Zeit- und Zugangsbegrenzung.
  • Beim Schlafen soll das Gerät mindestens drei Meter vom Bett entfernt sein
  • Vor dem gemeinsamen Essen sollen alle (Familien-)Mitglieder ihr Smartphone in die Mitte des Tisches legen – stummgeschaltet- und dort liegen lassen.
  • Als social media wird Snapchat empfohlen, weil es u.a. weniger Spuren hinterlässt (295).
  • Eltern sollen mit ihren Kids ernsthafte Gespräche über „Noods and Porn“ führen und
  • ihre Kinder zu mehr face-to-face-communication ermutigen, also: aus dem Haus gehen und Freunde treffen („Let’s get off the couch“, 300)

Soweit alles klar. Interessanter lesen sich die Hinweise auf „iGen’ers in the Classroom.“ Hier geht es darum, was Lehrkräfte in Schule und Hochschule von den iGen’ers zu erwarten haben:

  • Im Vergleich mit den „Millenials“ (geboren 1980 – 1994) zeigten die iGen’ers weniger Selbstvertrauen, seien weniger meinungsstark, etwas zögerlicher, sich im Klassenzimmer zu äußern und Fragen zu stellen, sie fürchteten, etwas Falsches zu sagen.
  • Sie seien dafür arbeitswilliger und sehr darauf bedacht, die Leistungserwartungen zu erfüllen.
  • Sie lieben Diskussionen, aber die sollten nicht zu viel von der Vorbereitungszeit auf die anstehenden Tests in Anspruch nehmen (307).
  • Methodenwechsel und insbesondere Medieneinsatz sind unabdingbar, um der kürzeren Aufmerksamkeitsspanne zu entsprechen („catering to the short attention span“).
  • iGen’ers haben weniger Lese-Erfahrung und -Übung („reading gap“), die Schulbücher sollen mit kürzeren Texten, Videos, Quizzen und interaktiven Übungen darauf reagieren.
  • Da mehr als je zuvor on-line gelernt wird, muss unbedingt die Fähigkeit zum Bewerten von Inhalten entwickelt werden.
  • Und schließlich sollte die Lehrkraft davon ausgehen, dass iGen’ers mehr extrinsisch als intrinsisch motiviert sind: „They are practical, serious and anxious, focusing more on the exam grade and less on the joy of learning.“ (309)

“Understanding iGen means understanding the future.“

Sind unsere Schülerinnen und Schüler auch iGen? Jean M. Twenge bezieht sich auf die USA der Gegenwart und Zukunft: “Where iGen goes, the country goes.“ (15) In einem Interview mit der Zeitschrift „Psychologie heute“ (Mai 2018) mutmaßt sie, „dass sich überall dort, wo das Smartphone eine schnelle Marktsättigung erreicht hat, die Dinge ähnlich entwickeln werden wie in den USA.“

In Deutschland gibt es seit genau 20 Jahren die JIM-Studie, welche sich mit dem Medienverhalten deutscher Teenager (12 – 19 Jahre) beschäftigt. Hier einige Auszüge aus der aktuellsten Studie (2018):

Austattung: „Mit 97 Prozent besitzen praktisch alle Jugendlichen ein Smartphone, das viele verschiedene Medientätigkeiten und eine multifunktionale Nutzung ermöglicht. Computer/Laptops sind etwas seltener vorhanden (71 %). Die Hälfte der Zwölf- bis 19-Jährigen hat einen eigenen Fernseher …“ (S.8)

Freizeitaktivitäten: „An erster Stelle der Freizeitaktivitäten (ohne Medien) stehen auch 2018 persönliche Treffen mit Freunden. 71 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen treffen sich regelmäßig mit Freunden, 69 Prozent machen mindestens mehrmals pro Woche Sport. Knapp zwei von fünf Jugendlichen unter- nehmen in dieser Regelmäßigkeit etwas mit der Familie. Jeder Fünfte hat mindestens mehrmals pro Woche Musikunterricht, Chor- oder Bandproben.“ (S. 11)

Bücher und Lesen: „In der Zeitreihe über die letzten zehn Jahre betrachtet wird deutlich, dass sich die Nutzung des analogen Mediums Buch auch im Social Media-Zeitalter nicht verändert hat. Der Anteil derjenigen Jugendlichen, die in ihrer Freizeit mindestens mehrmals pro Woche in der Freizeit (also nicht für die Schule) gedruckte Bücher lesen, beträgt seit 20 Jahren etwa 40 Prozent. Auch 2018 lesen zwei von fünf Jugendlichen regelmäßig Bücher in analoger Form.“ (S. 18) „E-Books können sich nach wie vor nicht im Medienalltag Jugendlicher durchsetzen.“ (19)

Bevorzugte Online-Angebote: „Die Liste wird mit deutlicher Führung vom Videoportal YouTube angeführt, das für knapp zwei Drittel der Jugendlichen zu einem ihrer drei liebsten Internetangebote zählt. Den zweiten Platz belegt der inzwischen multifunktionale Messenger WhatsApp, Platz drei geht an Instagram. Diesmal bereits auf dem vierten Rang folgt der Film- und Serienanbieter Netflix, der für knapp ein Fünftel der Jugendlichen der attraktivste Inhalteanbieter im Netz ist. Es folgen Snapchat und Google. Von jeweils sechs Prozent werden die Audio-Streaming-Plattform Spotify und Facebook genannt …“ (34)

Instagram gewinnt, Facebook verliert: „Die Nutzung der Social Media-Plattformen verfestigt sich kontinuierlich im Alltag der Jugendlichen. Die vorgegebene Liste potentieller Dienste wird mit deutlichem Abstand von WhatsApp angeführt: 95 Prozent der Zwölf- bis 19-Jährigen nutzen diesen Messenger mindestens mehrmals pro Woche (täglich: 82 %) – die WhatsApp-Nutzer schätzen, dass sie pro Tag 36 WhatsApp-Nachrichten erhalten. Instagram verzeichnet zwei Drittel regelmäßige Nutzer (täglich: 51 %), Snapchat 54 Prozent (täglich: 46 %) und Facebook landet weit abgeschlagen auf dem vierten Rang (15 %; täglich: 8 %).“ (38)

„Binge Watching“: „Das Sehen von mehreren Folgen einer Serie am Stück bestätigen 65 Prozent der Jugendlichen (Mädchen: 66 %, Jungen: 64 %). Auch mit zunehmendem Alter erhöht sich der Anteil derer, die ganze Staffeln einer Serie en bloc ansehen (12-13 Jahre: 58 %, 14-15 Jahre: 62 %, 16-17 Jahre: 68 %, 18-19 Jahre: 71 %).“ (S. 48)

Wie wär’s mit einem Selbstversuch: How much are you iGen?

Jean M. Twenge liefert auch einen Selbsteinschätzungsquiz, „to find out how much your experiences overlap with those of iGen. Regardless of when you were born.“ Er umfasst 15 Fragen, die mit Ja oder Nein zu beantworten sind. z.B. diese:

„In the past 24 hours, did you spend at least an hour total texting on a cell phone?“

Aber auch: “Do you consider yourself a religious person?“

In ZUM-Unterrichten habe ich den Quiz – englisch und deutsch – abgedruckt. Wenn Sie wollen: Nehmen Sie einen Notizzettel, beantworten Sie die Fragen mit Ja oder Nein, zählen Sie am Schluss zusammen (entsprechend den Anweisungen) und machen Sie sich so Ihre Gedanken dazu. Oder: Vergleichen Sie einfach nur die beiden Versionen: Gewisse Unterschiede zwischen unseren Jugendlichen und den iGen-Kids lassen sich daraus schon schlussfolgern.

Klaus Dautel, 2019/2021

Für weiteres Interesse:

Webseite der Autorin – Jean M. Twenge

Talk given at a TEDx event Die Autorin bei einem Auftritt  (Youtube.com)

Generation Smartphone: „US-Forscherin Jean Twenge über eine verunsicherte Generation von Jugendlichen, die ständig online sind“. Interview in Psychologie heute, Mai 2018 (online bezahlpflichtig).

 – Speed Summary: iGen – Kurze Zusammenfassungen der zehn Kapitel

 – Me, My Selfie and I. „Warum es so wichtig ist, die neue Generation zu verstehen.” – Deutsche Ausgabe & Leseprobe, Goldmann Taschenbuch 2021, 10 €

 – JIM-Studie 2018 – Kurzfassung der Ergebnisse & Download der aktuellen Studie

1 Kommentar zu “iGen oder Neues von der Generation Selfie

  1. Walter Böhme says:

    Hoffnung

    Statt des ausführlichen Kommentars, der über dem capcha verloren ging, hier nur der Hinweis: FridaysforFuture könnte aufgrund der Disrupton, die es auslösen kann, die 1968er-Bewegung wie einen Sturm im Wasserglas erscheinen lassen. Freilich nur, wenn sich die älteren Generationen vom Elan der Jugendlichen anstecken lassen. Wenn die „neue Epoche der Weltgeschichte„, die vom Klimawandel ausgeht, eine für die Menschheit verhängnisvolle wird, dann liegt es jedenfalls nicht am zu geringen Einsatz der iGen-Generation

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