Sie kennen das: Alle 3 bis 4 Jahre kommt ein neues Schlagwort in die Mode, wie Bildung zu sein hat. Wohlmeinende Evangelisten ziehen aus und propagieren einen (r)evolutionären Wandel in den Schulen. Die meisten dieser Ideen sind gut, wenn auch nicht neu und zielen häufig auf die selben Probleme, die schon von der letzten Reformwelle nicht gelöst, sondern nur an eine andere Stelle gespült wurden. Es ist einfach, sich über solche Moden lustig zu machen oder mit Polemik zu reagieren. Aber viele der Akteure, die mit großem persönlicher Einsatz versuchen, den Schulbesuch zu einer besseren, für den Schüler wertvolleren Erfahrung zu machen, verdienen auch unseren Respekt. Die Gesellschaft ändert sich in sozialer und technischer Hinsicht, und das noch vom Industriezeitalter geprägte Schulsystem bedarf der kontinuierlichen Anpassung. Eine „gesunde Unruhe“, die vom diesem Reformeifer ausgeht – so störend sie im Schulalltag auch sein mag – ist wichtig, um das System einigermaßen zeitgemäß zu halten.

Entsprechend sollen hier nicht die neuen Technologien verteufelt werden, die gerade auf Tablets, Smartphones und ähnlichen Geräten in den Klassenzimmern Einzug halten. Sie haben ihre Berechtigung, und ihr Nutzen wird mit der Zeit sicher noch wachsen.  Aber es sei erlaubt, eine kleine Warnung zu äußern. Bei all der Begeisterung für bunt leuchtende Bildschirme sollten wir nicht das Haptische vergessen – das Lernen mit den eigenen Händen, einem eigenwilligen Kopf und mit der unmittelbaren Rückmeldung der Realität, ob sich die Dinge wirklich so verhalten, wie man es sich vorgestellt hat. Dies gilt insbesondere im naturwissenschaftlichen Unterricht. Selbst eine visuell attraktive Simulation mit noch so vielen Reglern und Schiebern erlaubt dem Schüler eben nur jene Ideen zu verfolgen, die vom Programmierer vorgesehen sind. Kritischer noch: es kann nichts schief gehen. Aber ein ‚Experiment’, das nicht fehlschlagen kann, ist eine Demonstration, kein Experiment. Und lernt man nicht gerade aus unerwarteten Resultaten am meisten – weil sie neue Fragen aufwerfen?

Mein Problem mit virtuellen Lehrmitteln ist fundamentaler Natur: Sie vermitteln den falschen Eindruck, der Ausgang eines jedes Experiments sei mit geeigneter Software vorherseh- und berechenbar. Schlussendlich bedeutet dies, dass es nichts mehr Neues zu entdecken gibt. Naturwissenschaften werden so als Sammlung von bekannten Ergebnissen präsentiert, die andere vor vielen Jahr(hundert)en zusammengetragen haben. Genauso gut könnte man Kunst auf das reduzieren, was in Museen zu finden ist. Dabei ist Wissenschaft eine Aktivität, ein Handwerk, oder etwas poetischer ausgedrückt: zur Tat gewordene Neugier. Ich bin dankbar, dass viele meiner Lehrer es verstanden, den kreativen Prozess und seine Methoden zu vermitteln, welche die eigentliche Wissenschaft ausmachen, und nicht nur seine Ergebnisse. Eines der wichtigsten Mittel, die sie dazu nutzten, waren Schülerexperimente. Nicht Videos, Apps oder Simulationen, sondern die direkte Auseinandersetzung mit der Realität, ein lebhafter Diskurs, in dem Fragen in Form von kleinen Experimenten an die Natur gerichtet wurden und die teils überraschenden Antworten uns neugierig gemacht haben, mehr zu erfahren. Diese kurzen Aktivitäten erlaubten es uns, wissenschaftliche Phänomene im Wortsinne zu ‚begreifen’ – wertvolle Erfahrungen, die bei virtuellen Lehrmitteln verloren gehen.

Später als Ingenieur und Wissenschaftler hat mir oft die Erinnerung an ein solches Experiment weitergeholfen, wo mein Formelgedächtnis versagte. Sie halfen vor allem, ein Gefühl oder eine Intuition dafür zu entwickeln, wie sich bestimmte Systeme verhalten – eines der nützlichsten Dinge, die ich aus der Schulzeit mitgenommen habe. Als Experimentalphysiker arbeite ich häufig mit numerischen Simulationen, um komplexe experimentelle Ergebnisse besser zu verstehen. Dabei erfahre ich täglich aufs Neue, wie limitiert solchen Berechnungen sind und mit welcher Vorsicht man sie interpretieren sollte. Schüler, und wohl auch viele Lehrer, machen sich leider nicht klar, dass sie es beim ‚virtuellen Experimentieren’ nicht mit der Physik, Chemie oder Biologie zu tun haben, sondern mit der Visualisierung von idealisierten Modellen, deren näherungsweise Gültigkeit in eng begrenzten Parameterbereichen bewusst Umgebungseinflüsse ignorieren. Ich habe schon Studenten sagen hören, ein realer Experimentaufbau sei „kaputt“, weil dessen Ergebnis nicht exakt mit dem vereinfachten Modell übereinstimmt, das sie zuvor in einer Simulation gesehen haben.

Gute Experimente müssen weder lang noch kompliziert sein, manchmal reicht es bereits, eine Alltagssituation geschickt zu hinterfragen und sie in einer Diskussion mit den dahinterstehenden wissenschaftlichen Konzepten in Verbindung zu bringen. Manche bevorzugen eindrucksvolle Experimente, die in einer großen Show mit Stichflamme und Krach den Lehrer als Magier dastehen lassen, um, wie häufig argumentiert wird, „die Schüler für Wissenschaft zu begeistern“. Auch das hat seinen Platz, wenn auch eher im Fernsehen und Internet als im Unterricht. An den lauten Knall können sich danach alle erinnern – was ihn verursacht hat, ist aber meist schon mit dem Rauch verflogen, sofern es die Zuschauer überhaupt erreicht hatte. Wenn die Schüler hingegen bei der Planung, Durchführung und Auswertung eines Experimentes selbst ‚Hand angelegt haben’, bleibt mehr als die Erinnerung an den Ausgang des Experiments und was er zu bedeuten hat: Es bleibt ein gutes Gefühl, etwas durch eigenes wissenschaftliches Vorgehen erreicht, vielleicht sogar entdeckt zu haben. Auch bei einer Simulation mag sich ein Moment der Freude einstellen, wenn ‚es funktioniert’; aber die damit verbundene Erfahrung ist eine ganz andere, oberflächlichere.

Es ist dieses Glücksgefühl nach erfolgreichem realen Experimentieren, das unserem Projekt Ciênsação / Ciensación / Sciensation (Neologismus aus „Wissenschaft + Fühlen/Erfahren“ in Portugiesisch / Spanisch / Englisch) seinen Namen gab. Die Aufgabe besteht darin, Lehrer in Lateinamerika zu motivieren, kurze Schülerexperimente in ihren Unterricht einzubinden – nach europäischem Vorbild, jedoch an die örtlichen Begebenheiten angepasst. Doch kürzlich hörte ich, dass eben dieses Vorbild an einigen Orten in Europa zu verblassen droht. Nicht nur der allgemeine Zeitdruck durch überfrachtetet Curricula, sondern auch die Tendenz, reale Experimente durch Computersimulationen ersetzen zu wollen, raubt Schülern Gelegenheiten, eigenhändig zu experimentieren.

Digitale Medien können das Lernen an vielen Stellen unterstützen, insbesondere weil sie jederzeit für alle Schüler zugleich ‚da sind’. Zunehmend sind sie auch in der Lage, sich individuell der Geschwindigkeit, den Fähigkeiten und den Lerncharakteristiken eines jeden Schülers anzupassen. Solch individualisiertes Lernen kommt natürlich mit seinen ganz eigenen Problemen, z.B. im Bereich des Datenschutzes, ist an sich aber erst mal ein begrüßenswerter technologischer Fortschritt.

Man muss sich aber auch der Grenzen dieser Technologie bewusst bleiben. Ein virtuelles Lehrmittel verhält sich zur Natur in etwa so wie ein Reiseführer zu dem realen Ort, den er beschreibt. Niemand käme auf die Idee, dass eine Reise durch das Lesen eines Reiseführers ersetzt werden könnte. Auch wenn die Informationen über den Ort mit Sorgfalt zusammengetragen wurden, so ist die Auswahl naturgemäß stark reduziert und subjektiv. Die Erfahrung, selbst dort gewesen zu sein, im Sonnenschein auf dem Markt einen Kaffee getrunken zu haben (oder bei strömendem Regen einen Parkplatz gesucht zu haben), sprich die persönliche ‚Beziehung’ zum Ort, wie sie sich oft für ein Leben einprägt, kann kein Reiseführer vermitteln. Genauso wenig kann ein virtuelles Lehrmittel ein Gefühl für das Verhalten von physikalischen, chemischen oder biologischen Systemen vermitteln. Wie bei einem Reiseführer wird man vielleicht eine Idee oder Vorstellung gewinnen, nicht aber jene Intuition, die einen befähigt, ein Verhalten in anderen Systemen wiederzuerkennen und neue Zusammenhänge zu erkennen.

Daher meine Bitte an Sie als Lehrer: Investieren Sie weiterhin ein wenig Zeit in reale Experimente, es lohnt sich. Fragen Sie doch mal Ihre ehemaligen Schüler, woran sie sich aus Ihrem Unterricht erinnern – häufig werden es (spektakulär fehlgeschlagene) Experimente sein, von denen noch lebhafte Bilder im Gedächtnis geblieben sind. Und vor allem: Verlieren Sie nie selbst die Freude am spielerischen Experimentieren!

P.S.: Einige Anregungen für Schülerexperimente finden Sie im Netz unter folgenden Adressen:

www.sciensation.org (Englisch)
www.ciensacion.org (Spanisch)
www.ciensacao.org (Portugiesisch)
www.exploratorium.edu/snacks (Englisch)
www.experimentis.de (Deutsch)
www.netexperimente.de (Deutsch)
www.seilnacht.com/versuche (Deutsch)

und vielen weiteren…

P.P.S: Das Projekt Ciênsação lebt davon, dass erfahrene Lehrer Schülerexperimente mit ihren Kollegen teilen. Da Sie bis hierher gelesen haben, sind Sie offensichtlich jemand, der sich für Experimente begeistern kann. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie das eine oder andere Ihrer Experimente auf Ciênsação zur Veröffentlichung einreichen (gerne auch auf Deutsch) – Ihre Kollegen und insbesondere Schüler weltweit danken es Ihnen!

1 Kommentar zu “Ein Gefühl für Wissenschaft entwickeln – Plädoyer für REALE Schülerexperimente

  1. Karl Voerckel says:

    Experimente nicht nur in Naturwissenschaften

    Es wäre schön, wenn Experimente nicht nur im naturwissenschaftlichen Unterricht häufig vorkämen.

    Z.B. kann man Rawls Gerechtigkeitstheorie ausprobieren, indem man den Lernenden Rollen zuweist (Vertreter der Arbeiterschaft, Beamten, usw.) und sie dann bittet, in kurzer Zeit eine Verfassung für ein Land miteinander zu verhandeln.

    Was sonst sehr abstrakt bleiben kann, – der Unterschied zwischen Pareto- und Differenzprinzip – kann anhand der Erfahrungen, die in diesem Experiment gemacht werden, anschaulicher demonstriert werden.

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