Kapitel 34: Neurogenetik

34.5.3 Komplexe Verhaltensmerkmale, quantitative Vererbung und selektierte Beispiele für den Einfluß bekannter Gene

Ebenso wie die Entwicklung eines Organs durch genetische Wirkgefüge verursacht wird, ist von komplexen Verhaltensmerkmalen zu erwarten, daß ihnen Gruppen von Genen zugrundeliegen, die einzeln einen quantitativen Beitrag zum Phänotyp leisten. Andererseits können Defektallele einzelner Gene natürlich einen komplexen Phänotyp nachhaltig und auf spezifische Weise beeinflussen. Gerade dieser Aspekt wird in populären Diskussionen über die Möglichkeiten und Grenzen der Genetik oft übersehen oder falsch verstanden. So kann es zum Beispiel kein "Intelligenz-Gen" geben, welches allein für dieses Merkmal verantwortlich wäre. Diese Eigenschaft ist ebenso wie die Körpergröße das Resultat der Aktivität vieler Gene. Die Anzahl der an einem Phänotyp beteiligten Gene läßt sich aus der quantitativen Messung des Einflusses einzelner Allele annähernd ermitteln (s. Kap. 25).

Bei der genetischen Analyse von Verhalten ergibt sich zunächst einmal die Frage, ob es Hinweise auf einen genotypischen Varianzanteil eines bestimmten Merkmals gibt. Eine Möglichkeit hierzu ist die Durchführung von Selektionsexperimenten.

In einem klassischen Experiment wurde das Merkmal der "Ängstlichkeit" von Mäusen anhand ihrer Fluchtbereitschaft in einer Versuchsanordnung getestet, die ein offenes Gelände bei heller Beleuchtung simulierte. Für nachtaktive Nagetiere ist diese Situation besonders stressbehaftet. In jeder Generation wurden die Individuen selektiert, die entweder besonders ängstlich oder aber besonders mutig waren und jeweils untereinander gekreuzt. Nach Selektion über 30 Generationen unterschieden sich der "ängstliche“ wie auch der „mutige“ Inzuchtstamm signifikant von Wildtyp-Kontrollen. Außerdem zeigte das Experiment, daß selbst nach so vielen Generationen eine weiter divergierende Tendenz zwischen den Merkmalen beider Gruppen festzustellen war, ein untrügliches Zeichen dafür, daß zahlreiche Gene an dem komplexen Merkmal "Ängstlichkeit“ beteiligt sind. Das Experiment veranschaulicht eindrucksvoll, wie sich polygene Verhaltensmerkmale vererben und der Selektion unterworfen sind.

Eine weitere Möglichkeit zur Bestimmung eines genotypischen Varianzbeitrags für eine Merkmalsverteilung ergibt sich aus der Zwillingsforschung. Die Wahrscheinlichkeit, daß beide eineiigen (monozygoten) Zwillinge gleiche Persönlichkeitsmerkmale oder pathologische Persönlichkeitsdefekte aufweisen ist für viele Merkmale signifikant höher als die von zweieiigen (dizygotischen) Zwillingen, die nur die Hälfte ihrer Gene gemeinsam haben. Um den Einfluß unterschiedlicher Erziehung und Umgebung auf ein Zwillingspaar abzuschätzen, können auch gemeinsam oder getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge untersucht werden. So gab es z.B. Studien, welche die Frequenz von Psychosen bei Zwillingen von erkrankten Müttern untersuchten, wobei ein Zwilling von gesunden Eltern adoptiert wurde und der andere in der Obhut der gemütskranken Mutter geblieben war. Sowohl der Vergleich eineiiger Zwillinge mit zweieiigen wie die letztgenannte Methode erhärteten die Vermutung einer signifikanten genetischen Komponente z.B. bei der Entstehung der Schizophrenie.

Ein Ansatz bei der genetischen Analyse von Verhalten besteht darin, komplexere Vorgänge in kleinere definierbare Verhaltensweisen oder -aspekte zu zerlegen, deren Veränderungen und Variationen sich besser quantifizieren lassen. Solche Analysen hat es mehrfach für Balz- und Paarungsverhalten in verschiedenen Organismen gegeben. Ebenso wie Brutpflege und Nahrungsaufnahme laufen solche Instinktverhaltensweisen weitgehend stereotyp ab, d.h. die Reihenfolge von Verhaltenselementen ist festgelegt (s. 34.5.3.2).

Die Perspektive der quantitativen Vererbung wirft auch ein besonderes Licht auf die Frage, wie sich Gene aufspüren lassen, die an der Entstehung von Gemütskrankheiten beteiligt sind. Wenn Neurosen und andere emotionale Charaktereigenschaften der Ausdruck komplexer Allelkombinationen mehrerer Gene sind, ist ein Ansatz, der nur nach dichotomer Merkmalsausprägung sucht ("normal", bzw. "symptomatisch krank") zum Scheitern verurteilt. Vielmehr geht die Tendenz dahin, nach den genetischen Faktoren der Persönlichkeitsbildung zu suchen, die sich quantifizieren lassen. Wenn diese Gene einmal bekannt sind, sollten sich pathologische Gemütszustände besser diagnostizieren lassen.

In einer konsequenten Fortführung der oben geschilderten Studie der "Ängstlichkeit“ von Mäusen analysierten Flint und Mitarbeiter einige Hundert F2-Abkömmlinge einer Kreuzung und testeten die Individuen mit ausgeprägtem Emotionalitätsquotienten auf eine mögliche genetische Koppelung mit bekannten chromosomalen Markern und der gemessenen "Emotionalität". Die Ergebnisse zeigten, daß wenigstens drei Loci auf verschiedenen Chromosomen sich statistisch signifikant auf die "Ängstlichkeit“ auswirken. Wegen des möglichen Zusammenhangs zwischen Emotionalität und Angstneurosen einerseits und depressiven Krankheiten bis hin zu Psychosen andererseits wird die Übertragbarkeit solcher Studien auf den Menschen diskutiert, wobei die Ähnlichkeiten der Architektur menschlicher Chromosomen und der von Mäusen von Nutzen sein können. Die Tatsache, daß große Blocks von Chromatin bei Mäusen und Menschen die gleiche Genanordnung aufweisen, wird inzwischen für viele Studien ausgenutzt.

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