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Kapitel 34: Neurogenetik | ![]() |
34.4.2.3 Selektive Genexpression durch Allelinaktivierung Die topographische Anordnung von Rezeptoren in klar definierte Bezirke läßt auf eine Organisation schließen, die sich auf räumliche Information innerhalb des Riechepithels stützt, während die zufällige Verteilung von Rezeptormolekülen in Neuronen innerhalb dieser Bereiche darauf schließen läßt, daß räumliche Information oder die Identität der Zellen nur eine untergeordnete Rolle bei der Wahl des exprimierten Rezeptorgens spielen. Es wurde hypothetisiert, daß in jedem individuellen Neuron nur eines von zwei verfügbaren Rezeptorallelen exprimiert wird, während das andere völlig inaktiviert ist (Abb. 34-59). Der Nachweis wurde sehr elegant in Maus-Hybriden geführt, deren Gensequenzen ausreichend polymorph sind, um eine solche Unterscheidung molekular durchführen zu können. Einzelne Riechschleimhaut-Epithelzellen von Hybriden zwischen Mus musculus und M. spretus wurden daraufhin untersucht, ob sie das mütterliche oder das väterliche Allel eines bestimmten Rezeptorgens exprimieren. Dazu wurden Epithelzellen durch Protease-Einwirkung dissoziiert und so weit verdünnt, bis sich statistisch nur noch eine Zelle mit einem bestimmten Rezeptor im Untersuchungsgefäß befand ("limitierende Verdünnung"). Schließlich wurde die mRNA durch reverse Transkriptase und PCR mit genspezifischen Primern analysiert. Überraschenderweise ergaben sich sehr starke Hinweise darauf, daß nur eines von beiden Allelen in einer einzelnen Zelle exprimiert wird, nicht aber beide. Die Frage, welches der beiden Allele, unterliegt offenbar dem Zufall. Hand in Hand mit dieser selektiven Allelinaktivierung geht eine Verzögerung bei der DNA-Replikation solcher Loci, die ebenfalls nachgewiesen wurde. In mehrerer Hinsicht ähnelt die Allelinaktivierung der X-chromosomalen Inaktivierung bei Säugetieren (s. Kap. 18). Beide Vorgänge werden sehr früh während der Embryogenese eingeleitet (Implantation), und in beiden Fällen ist das Resultat hinsichtlich der Herkunft des gewählten Allels rein vom Zufall abhängig. Hinsichtlich der Funktion gleicht der Vorgang allerdings mehr der "allelischen Exklusion" der Immunzellen (s. 35.3.5): Hier kommt es darauf an, daß nur ein einziges Gen aus einer Reihe von cis-ständigen Kopien durch Rekombination neu arrangiert und schließlich exprimiert wird, während X-Inaktivierung lediglich dazu dient, die Menge an Transkript zu regulieren. Weiterhin wird vermutet, daß es für jede topographische Region der Riechschleimhaut bestimmte genspezifische Transkriptionsfaktoren gibt, deren Expression bereits in der frühen Embryonalentwicklung aufgrund räumlicher Information festgelegt wird. Die Gegenwart dieser Transkriptionsfaktoren limitiert das Repertoire von Genen, die innerhalb einer Domäne transkribiert werden können (Tab. 34-9). Schließlich werden cis-ständige Faktoren propagiert, welche die Anzahl der exprimierbaren Gene weiter auf ein einziges, beziehungsweise wenige Gene innerhalb der Gruppe ("array) reduzieren. Die Tatsache, daß bereits sehr früh in der Entwicklung alternative Allele inaktiviert werden, läßt darauf schließen, daß bei der Feinkontrolle der Expression ein cis-ständiger Faktor von Bedeutung ist, denn eine trans-Kontrolle hätte zwangsläufig zur Folge, daß beide Allele eines Gens gleichzeitig exprimiert würden. Der Mechanismus und die Natur dieses cis-ständigen Faktors ist im Augenblick noch nicht näher definiert; es könnte sich dabei sowohl um ein Rearrangieren oder Transponieren der DNA handeln oder um ein einziges Kontrollgen, das nur die Transkription eines einzigen Gens innerhalb einer Gruppe zuläßt. Bei dem ersten Denkansatz kommt das Kassettenmodell der Geschlechtsbestimmung bei Hefe in den Sinn, wo der exprimierte Locus von zwei "stillen" Genkopien flankiert ist (s. 11.3.2). Genkonversion, bzw. Transposition von einer der beiden stillen Kopien führt zu Entstehung einer einzigen stabilen Kopie, die zeitlebens exprimiert wird. Andere Beispiele für die cis-Kontrolle von Genexpression ist der ß-globin-Locus, der von einer Kontrollregion 20 kb oberhalb (upstream) der embryonalen, fötalen und der adulten ß-globin-Gene für deren zeitlich und räumlich spezifische Expression sorgt. In diesem Falle sind weitere akzessorische Faktoren notwendig, und im Gegensatz zur Expression der Riechrezeptoren erfolgt die Transkription in einer gewebe- und entwicklungsspezifischen Weise. Erst weiterführende Analysen von Promotoren und Kontrollregionen der Riechepithel-Rezeptorgene werden zu einem detaillierten Verständnis der Genkontrolle führen. Grundsätzlich existiert das Problem der zellspezifischen Expression einzelner Moleküle in allen Sinnesorganen mit mehreren Reizkanälen. Obwohl die Existenz von zellspezifischen Transkriptionsfaktoren propagiert wird, schiebt sich damit das Entscheidungsproblem nur auf eine andere Ebene. In der Retina weiß man von vielen zellspezifischen Interaktionen, die eine Kaskade von intrazellulären Reaktionen auslösen, welche schließlich die Identität der Zelle bestimmen und ihr Information über ihre räumliche Lage geben. Dieser Mechanismus existiert möglicherweise in den Domänen des Riechepithels, aber wie gezeigt, ist es unwahrscheinlich, daß innerhalb dieser Regionen auch hunderte verschiedener Transkriptionsfaktoren existieren, die den Rezeptorneuronen eine molekulare Adresse und damit Identität verleihen. Bestenfalls könnte die Vielfalt ihrer Kombinationen als Erklärung dienen.
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