Kapitel 34: Neurogenetik

34.3.4.8 Trophische Interaktionen mit Zellen der Zielregion regulieren die Zellzahl

Ein gut untersuchter Lockstoff (Abb. 34-54) für einige sensorische Nervenzellen und Neurone des Sympathicus ist der Nervenwachstumsfaktor (NGF). NGF kommt im allgemeinen in Nervengewebe in geringer Menge vor, seine biochemische Charakterisierung wurde jedoch dadurch erleichtert, daß der Faktor (aus bislang unbekannten Gründen) in der Speicheldrüse der männlichen Maus in sehr großer Menge produziert wird.

NGF läßt sich mit immunologischen Methoden in vivo auf Neuronen nachweisen. In Zellkultur garantiert der NGF nicht nur das †berleben NGF-sensibler Neurone (trophische Funktion), sondern er stabilisiert auch individuelle Wachstumskegel und Neuriten (Abb. 34-55). In vitro bewegt sich das Axon einer sensiblen Zelle in einem NGF-Gradienten in Richtung höherer Konzentrationen (trophische Funktion).

Die sympathischen Neurone besitzen den NGF-Rezeptor TrkA, der NGF mit hoher Affinität binden kann und einige der biologischen Wirkungen von NGF vermittelt.

Andere Zellpopulationen können von anderen trophischen Faktoren als NGF abhängen, z.B. BDNF (brain derived neurotrophic factor) oder NT-3 (Neurotrophin 3). BDNF und NT-3 sind mit dem NGF strukturell verwandt, aber im Organismus unterschiedlich verteilt. Sie erreichen ihre höchsten Konzentrationen nicht nur in verschiedenen Geweben, sondern auch zu unterschiedlichen Entwicklungszeiten und sind für das Überleben unterschiedlicher Zellpopulationen notwendig.

Bei der Entwicklung des Nervensystems müssen immer wieder große Zellpopulationen miteinander definierte Kontakte knüpfen, z.B. jede Zelle in Population A muß auf einer Zelle der Population B Synapsen ausbilden. Wie werden die Populationsgrößen aufeinander abgestimmt?

Eine weitverbreitete epigenetische Spielregel bei Wirbeltieren ist die †berproduktion von Neuronen mit anschließender Selektion derjenigen, die bei der Synapsenbildung erfolgreich waren. So ist z.B. nachgewiesen, daß die Sympathicus-Neurone, die nicht in der Lage sind, mit NGF produzierenden Zielzellen in Kontakt zu kommen, absterben (induzierter Zelltod, Abb. 34-55).

Jüngere Ergebnisse von Dechant und Barde (1997) sind jedoch ein Lehrbeispiel, zeigen sie doch, daß auch NGF ein Signal ist, das unterschiedlich interpretiert werden kann. NGF kann auch an den p75NTR-Rezeptor binden, der seinerseits das Zelltodprogramm aktiviert (Abb. 34-56). Eine wichtige Rolle im Signaltransduktionsprozeß spielt hierbei die Aktivierung des Transkriptionsfaktors NF-kB.

Ähnlich wie Netrine, die Axone rezeptorabhängig anziehen oder abstoßen können, oder auch Acetylcholin, das je nach Rezeptortyp Hyper- oder Depolarisation der postsynaptischen Membran hervorrufen kann, kann NGF also völlig verschiedene zelluläre Reaktionen auslösen. Spezifität wird immer nur durch die Interaktion des Liganden/Rezeptorkomplexes gewährleistet.

Es ist sinnvoll, am Beispiel des Phänomens induzierter Zelltod ein paar allgemeine Bemerkungen über die genetische Bedeutung von epigenetischen Regulationsprozessen anzuschließen. Durch induzierten Zelltod kann die Zahl miteinander wechselwirkender Neurone aufeinander abgestimmt werden. Selbst wenn während der Entwicklung ein Ungleichgewicht in der Zahl der Zellpopulationen vorliegt oder wenn durch eine Mutation das Ungleichgewicht genetisch (fehl)programmiert würde, kann die Zahl der Neurone noch epigenetisch aufeinander abgestimmt werden.

Der induzierte Zelltod bewirkt also, daß Mutationen relativ sanft abgepuffert werden können. Er verhindert, daß ein drastisches Ungleichgewicht zwischen wechselwirkenden Zellpopulationen bestehen bleibt, was zum völligen Zusammenbruch der Gehirnfunktion in der Mutante führen könnte. Auch andere epigenetische Regulationsmechanismen (wie die Mechanismen axonalen Wegfindens) mildern mutationserzeugte Defekte ab, die sie wie Störungen jeder anderen Art zu kompensieren versuchen. Ohne Regulationsmechanismen wären weit mehr Mutationen letal. Regulationsmechanismen vergrößern somit den Pool der für die Selektion und Evolution zur Verfügung stehenden vitalen Mutanten.

Zusammenfassung: Axone wachsen an ihren Spitzen mit Wachstumskegeln. Sie zeigen differentielle Adhäsion (oder Aversion) zu Oberflächen (Zellmembranen und extrazellulärer Matrix) und können so durch Kontaktführung (contact guidance) in bestimmte Richtungen gelenkt werden. Grundlage hierfür sind Adhäsionsmoleküle, die während der Entwicklung und bei Regenerationsprozessen zelltypspezifisch dynamisch reguliert exprimiert werden. Wenn mit gentechnischen Methoden diese Spezifität der Expression aufgehoben oder verändert wird, kann axonales Wegfinden verändert werden. Außerdem sind Wachtumskegel zu positiver und negativer Chemotaxis befähigt. Netrine z.B. sind lösliche Faktoren, deren Konzentrationsgradient Axone leiten kann. Neurotrophe Faktoren wie NGF werden als Lockstoffe von neuronalen Zielregionen produziert. Darüber hinaus regulieren sie als benötigte Überlebensfaktoren die Neuronenzahl. Die Mechanismen axonaler Weg- und Zielfindung und die Regulation der Zellzahl sind auf die Kompensation von Störungen ausgelegt. Damit vergrößern sie die Anzahl überlebensfähiger Mutanten und somit die Zahl der tolerierten Allele im Genpool.

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