II. Umstände und Zeit, in der “Die Ratten“ entstanden

1. Berlin als Großstadt Anfang des 20. Jahrhunderts:

Das Berlin am Anfang des 20. Jahrhunderts übte eine große Anziehungskraft auf die Menschen aus. Viele verließen ihre Heimat auf dem Lande und zogen und waren ganz in den faszinierenden, aber nicht ganz ungefährlichen Banne der Großstadt gezogen. Es gehörte zu den Städten mit besonders starkem Zuzug von aussen, um 1900 war weniger als die Hälfte der dort wohnenden Bevölkerung auch dort geboren. Um 1910 hatte es bereits mehr als 2 Millionen Einwohner!

2. Entstehungsgeschichte und Autobiographisches von Hauptmann:

Hauptmann sieht das Leben als “Urdrama“, in einer Erfassung des Menschen als triebhaftes und zum Leiden verurteiltes Wesen. Auf dieser gedanklichen Grundlage konzipiert er auch die Personen seines Dramas.
Bei der Konzeption des Hassenreuter hat Hauptmann wohl stark seine Erfahrungen als Schauspieler mit dem strassburger Regisseur Häßler einfließen lassen (was jedenfalls seinen Notizen zu entnehmen ist). Insgesamt hat Hauptmann viele verschiedene Anregungen zu dem Stück gehabt, und hat es auch insgesamt neunmal überarbeitet, bevor es schließlich uraufgeführt wurde. Durch den Tod seines neugeborenen fünften Kindes fügt der Autor eigene Erlebnisse wie z.B. den Traum seiner Frau ein. Der Schluss des Stückes wurde noch kurz vor der Premiere geändert, Frau Johns Schicksal endet mit dem Selbstmord. Dem ursprünglich vier Akte langem Werk wurde ein fünfter angehängt.

III. Inhalt und Themen, mit denen sich “Die Ratten“ beschäftigen

1. Der Titel:

Der Titel “Die Ratten“ wurde von Hauptmann als Bild und Metapher für die Menschen gewählt, die in seinem Stück vorkommen.
Ratten sind egoistische Tiere, die bei den meisten Menschen ein Gefühl von Abscheu und Ekel auslösen, durchaus aber auch intelligent sind. Die Personen des Stückes verkehren auf einem staubigen, verwahrlosten und dunklen Dachboden, wo man am ehesten solche Tiere erwarten würde. Ausserdem kann man bei fast allen Personen eine egoistische und selbstbezogene Handlungsweise verfolgen. Auch sonst haben manche Rollen eine äusserliche Ähnlichkeit mit Ratten. Bruno wird zum Beispiel mit “kleinen schwarzen und stechenden Pupillen“ geschildert.
Es gibt auch einige Textstellen, wo von Ratten selbst gesprochen wird. Hassenreuter bezeichnet die Räume so als “Motten,- Ratten,- und Flohparadies“ gegenüber Jettel. (Seite 20). Herr John redet über den “Oberboden bei de Ratten und Mäuse, wo vielleicht das Kind geboren worden sein soll...“ (Seite 36). Zentrale Stelle, dritter Akt, Seite 70. Hassenreuter: “Sie sind eine Ratte, Spitta!.....Rattenplage...“. Laut Hassenreuter sind die Ratten in Symbol für den Verfall auf allen Gebieten.
Den Untertitel: “Berliner Tragikomödie“ rechtfertigt der Berliner Dialekt, die Mietskaserne als Mikrokosmos der Großstadt, Bruno als Repräsentant der großstädtischen Kriminalität, die Ratten in unterirdischen Röhren und Löchern, typischen Straßengeräusche die durch das Fenster dringen, usw.

2. Mutterschaft als Machtmittel der Frau:

Der Wunsch nach einem Kind ist in “Die Ratten“ oftmals nur ein Mittel zum Zweck, und als Machtmittel der Frauen zu sehen. Sie wollen dadurch eine gewisse Abhängigkeit und Verantwortung bei Ihren Männern erzeugen, welche ihren Standpunkt in der Gesellschaft verbessert. Kinder werden gebraucht, sie erfüllen eine Aufgabe.
So ist der instinkthafte Muttertrieb von Frau John, wie später auch der von Pauline und Frau Knobbe oft auch ein kühl berechnetes Mittel, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Frau John will dadurch ihren Mann langfristig an sich binden, da sie offensichtlich befürchtet, ihn zu verlieren. Also steht für sie die Erhaltung ihrer Ehe an erster Stelle und hauptsächlich deshalb will sie eine Familie gründen. Für Pauline dagegen ist das Baby die einzige Chance eine Existenz aufzubauen, indem sie den Vater zur Verantwortung zieht und damit erpressen will. Sie hat kein Dach über dem Kopf, ist von ihrer Familie verstoßen, hat keine Arbeit, keine Ausbildung, und ist darüber hinaus noch körperlich geschwächt durch die Schwangerschaft. Indem sie den Vater zur Rechenschaft ziehen will strebt sie es an, sich die einzige ihr bietende Möglichkeit wahrzunehmen. Ihr würde sich ein geregeltes und abgesichertes Leben bieten. Für Frau Knobbe sind ihre Kinder ebenfalls existenziell. Sie stellen ihr einziges Kapital dar, und die Unterstützung in finanzieller Form halten sie über Wasser.
Das Streben nach geistigen Zielen (wie dem Erlangen von Wissen, Erfahrung und Verständnis für den Lauf der Dinge) fehlt dieser Personengruppe und somit auch die Entwicklung hin zur Verantwortung in der Gesellschaft. Statt Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, erzwingen Frau John und Pauline durch ein Kind Verantwortung bei den Vätern“, um diese an sich zu binden.
Generell ist die Mutterschaft also bei allen durch das Drama beschriebenen Müttern in erster Linie ein Mittel zum Zweck, und nicht um des eigentlichen Kindes willen.

Das Motiv, zwei Frauen kämpfen um ein Kind, hat in der Literatur bereits Tradition: wir finden es bei Brecht (“Der Kaukasische Kreidekreis“) und auch in der Bibel (“...ein wahrhaft Salomonisches Urteil“). Nach Brecht müsste Frau John das Kind erhalten, da sie für es am besten sorgen kann. Bei Salomon erhält die richtige Mutter das Kind, weil sie auf es verzichtet, sollte es zerteilt werden. Bei Hauptmann stirbt das eine von zwei Müttern umkämpfte Kind, und das andere landet schließlich im Waisenhaus.

IV. Personen und Charaktere

Frau John: Realitätsentfremdet, flüchtet sich in eine Scheinwelt, verdrängt Vieles in ihrem krankhaften Kinderwunsch. Sie verschreibt sich der Rolle der Mutter und verinnerlicht sie so stark, dass sie selbst daran glaubt. Dass sie ein Kind hat wird zu ihrer Lebenslüge. Auffällig: ihr gehören die ersten Worte des Dramas, und auch die letzten drehen sich um sie (“...Frau John hat sich umjebracht!“). Sie ist nicht wirklich um Paulines Wohl bemüht, sondern handelt in einer “Scheinsozialität“, nämlich zu ihrem eigenen Vorteil. Sie verliert nach ihrer Entlarvung das Vertrauen ihres Mannes und das gesellschaftliche Ansehen.

Herr John: Wendet sich zum Schluss plötzlich von dem Kind ab, als er erfährt, dass es nicht sein eigenes ist (...spricht von einem “Balg“).

Bruno kann seine eigene Situation formulieren, indem er darauf hinweisen tut, dass er mit einem Ast auf dem Buckel, und nicht in “Zangzuzih“ geboren sei. Wird von seiner Schwester zur Einschüchterung Paulines eingesetzt, und ermordet diese dann später auch.

Pauline Piperkarcka: Kann sich in ihrer Zwangslage nicht die Frage stellen, wie und warum es eigentlich zu ihrer damaligen Situation gekommen ist. Sie kann sich nur fragen, warum es eigentlich gerade sie ist, die mit so einem Schicksal umzugehen hat (“...wa ha´ ick denn an mir?“). Handelt auf Hinweis von anderen, kann eigenständig nicht richtig denken und entscheiden. Sie ging aufs Standesamt, weil “Frau Kielbacke partout nicht Ruhe gegeben hat“.
Außerdem: “Herr hat jesacht mussen jehn an Jerichtstelle anzeijen“ (Seite 83).

Direktor Hassenreuter: Rechthaberisch, arrogant, eigenwillig, Nationalist.
Kann seine gesellschaftliche Verantwortung nicht wahrnehmen. Er als Maskenverleiher “spielt eigentlich fast immer eine Rolle“, hat eine Maske, ein Kostüm an, und gibt sich kaum wie er eigentlich wirklich ist. Nur in Situationen, die ihm sehr zu schaffen machen (beispielsweise das Verhältnis zwischen seiner Tochter und Spitta), kommt sein wahrer Kern etwas zum Vorschein.
Hassenreuters und die Funktion des Chores sind durchaus miteinander zu Vergleichen.
Theater bestand in seiner ursprünglichen Form (- griechisch. Drama) ausschließlich aus Chor. Also gilt der Chor als die Keimzelle des Theaters, hat sich aber über die Jahrhunderte mehr und mehr verloren, ist aber durchaus auch noch in modernen Stücken zu finden (vgl. Max Frisch: “Biedermann und die Brandstifter“). Der Chor steht im Gegensatz zur Handlung, als “Spiegel“, und dient zur Reflexion und daraus resultierender Verdeutlichung des Inhaltes.
Hier in “Die Ratten“ erfüllt Hassenreuter die wertende und kommentierende Rolle des Chores. Handlungsteile in denen er auftaucht und die er gestaltet haben keinen eindeutigen Zusammenhang und sind deshalb auch nicht als durchgehender Handlungsfaden zu verstehen (Szenen mit Jettel, Alice, in der Johnschen Wohnung, Spitta, Schauspielunterricht, Vater Spitta, usw.). Er ist mit seinem Bereich eigentlich dazu konzipiert, um die Geschehnisse in der Johnhandlung zu bewerten, kommentieren, beleuchten, ironisieren, karikieren, in Kontrast darzustellen, durch gegensätzliche Denk,- oder Handlungsweise zu verdeutlichen, herauszuheben oder zu unterstreichen. Insgesamt hat er also eine beurteilende Funktion.

Walburga hat eine gute Wahrnehmung: “Hu, sie sehen ja aus wie ein Geist, Frau John“ (Seite 17), sensibel gegenüber dem ungewöhnlichen Verhalten von Frau John, drückt Herzlichkeit aus, nimmt als erste wahr, dass das Knobbesche Kind gestorben ist.

Erich Spitta ist ein Weltverbesserer und Sozialist, aber eine gute und ehrliche Haut. Seine Meinung und Weltansicht divergiert mit der von Direktor Hassenreuter sehr. Durch ihn drückt Hauptmann seine sozialkritischen Ansichten und seine Überzeugung zum Naturalismus aus. Spitta ist immer ausgesprochen höflich, sachlich und argumentiert sicher und gut.

Pastor Spitta bildet einen weiteren Gegenpol zu Frau John, da er sein Kind verstößt, wohingegen Frau John sich krampfhaft an den Ihrigen klammert. Klagt ausserdem den Verfall in der Großstadt an ( vgl. Hure Babylon).

Quaquaro hat einen sprechenden Namen. Er ist ein sehr gesprächiger Mensch, und berichtet John im 4. Akt ausführlich über die Vorgänge in der Mietskaserne während dessen Abwesenheit, und spielt damit eine nicht ganz unwichtige Rolle in der Aufdeckung und Entlarvung von Frau Johns kriminellen Machenschaften. Ist, wie sich später herausstellt, Polizeispitzel.

Selma Knobbe ist ein Mädchen, welches eigentlich zu früh mit Verantwortung bedacht wurde, und auf sich alleine gestellt war. Das ist ein Teil der Sozialkritik, welche Hauptmann durch das Stück ausdrückt, die Verwahrlosung der Erziehung, und die Verantwortungslosigkeit mit welcher die Kinder (in diesem Fall von Frau Knobbe, ihr Baby stirbt auch noch während des Stückes an Unterernährung und Schwäche) behandelt werden.


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