Das Motiv, zwei Frauen kämpfen um ein Kind, hat in der Literatur bereits Tradition: wir finden es bei Brecht (Der Kaukasische Kreidekreis) und auch in der Bibel (...ein wahrhaft Salomonisches Urteil). Nach Brecht müsste Frau John das Kind erhalten, da sie für es am besten sorgen kann. Bei Salomon erhält die richtige Mutter das Kind, weil sie auf es verzichtet, sollte es zerteilt werden. Bei Hauptmann stirbt das eine von zwei Müttern umkämpfte Kind, und das andere landet schließlich im Waisenhaus.
IV. Personen und Charaktere
Frau John: Realitätsentfremdet, flüchtet sich in eine Scheinwelt, verdrängt Vieles in ihrem krankhaften Kinderwunsch. Sie verschreibt sich der Rolle der Mutter und verinnerlicht sie so stark, dass sie selbst daran glaubt. Dass sie ein Kind hat wird zu ihrer Lebenslüge. Auffällig: ihr gehören die ersten Worte des Dramas, und auch die letzten drehen sich um sie (...Frau John hat sich umjebracht!). Sie ist nicht wirklich um Paulines Wohl bemüht, sondern handelt in einer Scheinsozialität, nämlich zu ihrem eigenen Vorteil. Sie verliert nach ihrer Entlarvung das Vertrauen ihres Mannes und das gesellschaftliche Ansehen.
Herr John: Wendet sich zum Schluss plötzlich von dem Kind ab, als er erfährt, dass es nicht sein eigenes ist (...spricht von einem Balg).
Bruno kann seine eigene Situation formulieren, indem er darauf hinweisen tut, dass er mit einem Ast auf dem Buckel, und nicht in Zangzuzih geboren sei. Wird von seiner Schwester zur Einschüchterung Paulines eingesetzt, und ermordet diese dann später auch.
Pauline Piperkarcka: Kann sich in ihrer Zwangslage nicht die Frage stellen, wie und warum es eigentlich zu ihrer damaligen Situation gekommen ist. Sie kann sich nur fragen, warum es eigentlich gerade sie ist, die mit so einem Schicksal umzugehen hat (...wa ha´ ick denn an mir?). Handelt auf Hinweis von anderen, kann eigenständig nicht richtig denken und entscheiden. Sie ging aufs Standesamt, weil Frau Kielbacke partout nicht Ruhe gegeben hat.
Außerdem: Herr hat jesacht mussen jehn an Jerichtstelle anzeijen (Seite 83).
Direktor Hassenreuter: Rechthaberisch, arrogant, eigenwillig, Nationalist.
Kann seine gesellschaftliche Verantwortung nicht wahrnehmen. Er als Maskenverleiher spielt eigentlich fast immer eine Rolle, hat eine Maske, ein Kostüm an, und gibt sich kaum wie er eigentlich wirklich ist. Nur in Situationen, die ihm sehr zu schaffen machen (beispielsweise das Verhältnis zwischen seiner Tochter und Spitta), kommt sein wahrer Kern etwas zum Vorschein.
Hassenreuters und die Funktion des Chores sind durchaus miteinander zu Vergleichen.
Theater bestand in seiner ursprünglichen Form (- griechisch. Drama) ausschließlich aus Chor. Also gilt der Chor als die Keimzelle des Theaters, hat sich aber über die Jahrhunderte mehr und mehr verloren, ist aber durchaus auch noch in modernen Stücken zu finden (vgl. Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter). Der Chor steht im Gegensatz zur Handlung, als Spiegel, und dient zur Reflexion und daraus resultierender Verdeutlichung des Inhaltes.
Hier in Die Ratten erfüllt Hassenreuter die wertende und kommentierende Rolle des Chores. Handlungsteile in denen er auftaucht und die er gestaltet haben keinen eindeutigen Zusammenhang und sind deshalb auch nicht als durchgehender Handlungsfaden zu verstehen (Szenen mit Jettel, Alice, in der Johnschen Wohnung, Spitta, Schauspielunterricht, Vater Spitta, usw.). Er ist mit seinem Bereich eigentlich dazu konzipiert, um die Geschehnisse in der Johnhandlung zu bewerten, kommentieren, beleuchten, ironisieren, karikieren, in Kontrast darzustellen, durch gegensätzliche Denk,- oder Handlungsweise zu verdeutlichen, herauszuheben oder zu unterstreichen. Insgesamt hat er also eine beurteilende Funktion.
Walburga hat eine gute Wahrnehmung: Hu, sie sehen ja aus wie ein Geist, Frau John (Seite 17), sensibel gegenüber dem ungewöhnlichen Verhalten von Frau John, drückt Herzlichkeit aus, nimmt als erste wahr, dass das Knobbesche Kind gestorben ist.
Erich Spitta ist ein Weltverbesserer und Sozialist, aber eine gute und ehrliche Haut. Seine Meinung und Weltansicht divergiert mit der von Direktor Hassenreuter sehr. Durch ihn drückt Hauptmann seine sozialkritischen Ansichten und seine Überzeugung zum Naturalismus aus. Spitta ist immer ausgesprochen höflich, sachlich und argumentiert sicher und gut.
Pastor Spitta bildet einen weiteren Gegenpol zu Frau John, da er sein Kind verstößt, wohingegen Frau John sich krampfhaft an den Ihrigen klammert. Klagt ausserdem den Verfall in der Großstadt an ( vgl. Hure Babylon).
Quaquaro hat einen sprechenden Namen. Er ist ein sehr gesprächiger Mensch, und berichtet John im 4. Akt ausführlich über die Vorgänge in der Mietskaserne während dessen Abwesenheit, und spielt damit eine nicht ganz unwichtige Rolle in der Aufdeckung und Entlarvung von Frau Johns kriminellen Machenschaften. Ist, wie sich später herausstellt, Polizeispitzel.
Selma Knobbe ist ein Mädchen, welches eigentlich zu früh mit Verantwortung bedacht wurde, und auf sich alleine gestellt war. Das ist ein Teil der Sozialkritik, welche Hauptmann durch das Stück ausdrückt, die Verwahrlosung der Erziehung, und die Verantwortungslosigkeit mit welcher die Kinder (in diesem Fall von Frau Knobbe, ihr Baby stirbt auch noch während des Stückes an Unterernährung und Schwäche) behandelt werden.