I. Allgemeines

1. Dramatik:

Im Gegensatz zum Roman ist im Theater die Mimik und Gestik immer anschaulich, der Ort, die Umgebung immer sichtbar, die äußeren Umstände durch Bühnenbild und Darstellung mehr oder weniger offensichtlich. In der Dramatik ist die Schilderung dieser Eindrücke kein Bestandteil des Textes (mit Ausnahme der Regieanweisungen), sondern ist selbstverständlich, da man sie sieht.
Im Roman, ja in der Epik im Allgemeinen ist dagegen viel mehr Zustandsbeschreibung, es werden Stimmungs,- Landschafts,- und sonstige Bilder beschrieben. Auch die Innensicht, welche die Gedanken und Gefühle von Personen ausdrückt, muss im Theater anders dargestellt werden. Sollen sie im Theater dem Zuschauer vermittelt werden, so wird dazu im klassischen Drama der Monolog als Stilmittel verwendet.

2. Naturalismus:

Der Naturalismus steht im Gegensatz zur bürgerlichen Literatur, wie z. B. der Klassik oder der Romantik. Er enthält Tragik, Satire, Karikatur und wird meist in sozialkritischen Werken eingesetzt.
Die Handlung selbst ist generell nicht so wichtig wie Charakter und Milieudarstellung. Schließlich will man ja auch möglichst detailliert das Leben an sich darstellen, und keinen künstlichen Spannungs,- und Entwicklungsbogen herstellen. Daher scheinen naturalistische Stücke vielleicht oftmals etwas schlicht und zusammenhanglos, in Wirklichkeit wollen sie jedoch das einfache Leben schildern wie es tatsächlich ist, und halten sich daher an realitätsbezogener Handlung. Dafür ist es jedoch wichtig, die Alltagsprobleme und Schwierigkeiten möglichst schonungslos und krass offenzulegen. So auch in “Die Ratten“. Manches was auf den ersten Blick etwas unmotiviert und willkürlich erscheinen mag, ist speziell so konzipiert, und stellt ein Stilmittel dar. So z.B. auch der Schnitt, welcher den Zuschauer am Anfang des Stückes in die Diskussion zwischen Frau John und Pauline einblendet. Man wird plötzlich mitten in die Szene “hineingeworfen“, das Stück beginnt mitten im Gespräch, ja sogar mitten im Satz (“..na ja doch! Freilick!“).
An sich könnte die John-Linie (tragischer Anteil) als Handlung durchaus gut auch ohne die Hassenreuter-Linie (komischer Anteil) auskommen, andersherum wäre das jedenfalls kaum denkbar. Hauptmann braucht jedoch Hassenreuter um durch dessen Kommentierung den Charakter von Frau John zu verdeutlichen. Er ist Naturalist und kann deswegen die Beschreibung nicht selbst auf der Kommentarebene des Autors (wie beispielsweise in Romanen) führen. Andere Autoren, wie beispielsweise Max Frisch, können andere Elemente dafür wählen (Chor in “Biedermann und die Brandstifter“).
In “Die Ratten“ selbst wird in einer Diskussion über Naturalismus gestritten. In einem Streit zwischen Spitta und Hassenreuter wird er als Thema angesprochen (Beginn 3. Akt) . Dabei gibt Hauptmann seiner persönlichen Meinung durch Spittas Argumente Ausdruck. Das Werk selbst ist ja schließlich der beste Beweis, dass auch eine Putzfrau die Rolle einer tragischen Heldin einnehmen kann. Tragik ist nicht an Stände gebunden!

3. Tragik, Komik und Tragikomödie:

Laut Hauptmann sind in seinem Stück “Tragödie und Komödie unlöslich verschlungen“, weil die Handlungen einander wechselseitig kommentieren. In dem Werk gibt es viele tragische Verhältnisse. Beispielsweise Frau Johns unerfüllten Kinderwunsch oder der niedrige soziale Stand vieler Personen wie Bruno, Pauline, welche auf der sozialen Leiter ganz unten stehen, Sidonie Knobbe mit ihren Kindern, Quaquaro usw.
Es fehlt einfach an der Bewertungsfähigkeit der eigenen Situation, die zwar manchmal noch geleistet werden kann (Bruno: “Ick ha´ nen Ast uffm Buckel und bin nich in Sangzouzi jeboren..“, Pauline:“...wa ha´ ick denn an mir?“), aus der dann eigenständig aber keine Lebensziele entwickelt werden können. Es sind keine ausgeprägten Lebensentwürfe zu erkennen, die Personen sind sehr gebunden und können nicht frei entscheiden und handeln, auch das ist tragisch.
Die Werte und Tugenden der Oberschicht können von der John-Gruppe nicht wirklich gelebt und angewandt werden. Beispielsweise die Verantwortung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft wird dazu “benutzt“, um durch erzwungene Verantwortung etwas zu erreichen (Kind zum Erzwingen der Heirat zu verwenden). Das Vatergefühl von Herr John wird nicht wirklich “gelebt“, denn sobald das Kind offensichtlich nicht mehr sein eigenes ist, lässt er es kühl fallen.
Die Entwicklungsunfähigkeit der handelnden Person ist ein weiterer tragischer Aspekt des Werkes. Der Schmerz, das Leid, die Enttäuschung führt letztendlich nicht zu einem Lernprozess und zu einer Entwicklung, die Menschen können weder sich noch ihre Situation verändern, verbessern, noch den sozialen Umständen entfliehen. Das neue Kind wird schließlich wieder in die gleichen Umstände und in die gleichen Verhältnisse hinein geboren. Das Stück hat eigentlich keine wirkliche Entwicklung im positiven Sinne, es beschreibt eher einen tragischen Vorgang, einen tragischen Prozess.
Die Handlung der Geschichte von Frau John nimmt mit jedem Akt an Tragik zu:
Die Ausgangssituation zeigt eine Frau John, die Pauline das Kind wegnehmen will. Die Fortführung des Handlungsfadens beschreibt folgende Entwicklung: Dann gibt es noch tragische Aspekte, welche die Personen selbst durch ihr Handeln hervorrufen. Beispielsweise das Versagen Hassenreuters, der sich eigentlich als souveräne Person für das Wohl die gute Entwicklung und die Lösung der Probleme und schwierigen Verhältnisse in seiner Umgebung einsetzen könnte. Die Tragik jedoch, welche sich direkt vor seinen Augen abspielt, erkennt er aber bis zum Schluss nicht. Er fällt ständig Fehlurteile. So kommentiert er, verkennt Situationen in welchen sein Bildungsstand eigentlich gefragt wäre, und ist letztendlich froh, mit den ganzen Problemen die sich in der Mietskaserne abspielen nichts weiter zu tun zu haben. Die Personen, die von ihrem Bildungsstand her eigentlich eine gewisse Verantwortung haben, nehmen auf tragische Weise die Tragik, welche sich direkt vor ihren Augen abspielt, nicht wahr. So wirken manche Stellen, in denen beispielsweise Hassenreuter eine Situation völlig falsch interpretiert und verdreht kommentiert, für den Zuschauer fast schon wieder komisch.
Hauptmann übt auf diese Weise eine scharfe Gesellschaftskritik an dem Berlin seiner Zeit. Die Gesellschaft scheint in seinen Augen völlig blind vor dem Elend und der Tragik zu sein, welche sich in der Großstadt Tag für Tag ausdrückt.
Durch die Hassenreuter-Linie werden viele komisch wirkende Aspekte in dem Stück erzeugt. Kontrast als Komik, Komik durch Schwarzweiss-Malerei. Beispielsweise das Rezitieren im dritten Akt auf dem staubigen, düsteren Dachboden: “Dich begrüss ich in Ehrfurcht, prangende Halle...“. Die Diskussion über Theater, Klassik und Naturalismus an sich ist auch komisch. Als weiteres Beispiel dieses Stilmittels kann man die “Anbetung der Drei Heiligen Könige“ (Käferstein, Kegel und Spitta) vor dem Johnschen Kind anführen. Statt Gold und Geschenken bringen sie eine leere, blecherne Spardose. Die Bezeichnung des Johnkindes als “deutschnationales Stück Menschenfleisch“ durch Hassenreuter verdreht die Tatsachen ebenfalls sehr, denn das Kind hat ja eigentlich eine polnische Mutter (Pauline).
Hassenreuters Meinung über Tragik selbst, sie könne nur die gehobene Gesellschaftsschicht wie in den klassischen Dramen befallen (“hohe Gesellschaftsschicht, hohe Fallhöhe“), ist schließlich auch falsch und verdreht, wie das Stück durch seine “tragische Muße Frau John“ beweist.

4. Sozialkritik:

Das Lebensziel dieser Gesellschaftsschicht besteht lediglich darin, sich selbst und den Status quo zu erhalten. Für Frau John bedeutet dies, dass sie durch ein Kind ihre Beziehung zu ihrem Mann erhält und nur im Kind Erfüllung findet. Herr John, der immer nach Amerika auswandern und vor den Lebensverhältnissen flüchten wollte, ist zufriedengestellt, als er meint, Vater geworden zu sein.
Frau John, Pauline, Bruno, etc. befinden sich in einer Zwangslage, die durch ihre Abhängigkeit von der Außenwelt entstand. Vor allem durch die Armut und die fehlende Bildung sind ihre Möglichkeiten der Lebensgestaltung eingeschränkt. So ist Bruno, bei dem der Bildungsmangel am deutlichsten hervortritt, vollkommen abhängig von seiner Schwester. Er hat keine andere Intention, als kriminell zu sein, obwohl sich ihm legale Betätigung in Form einer Maurerstelle bei Herrn John anbot.
Auch durch Spitta übt Hauptmann viel Sozialkritik an den damaligen Verhältnissen und der Einstellung zur Religion: “O diese Christen, oh diese Diener des guten Herrn...“ (Seite 104).
Selma Knobbe ist ein Mädchen, welches eigentlich zu früh mit Verantwortung bedacht wurde, und auf sich alleine gestellt war. Auch das ist ein Teil der Sozialkritik, welche Hauptmann durch das Stück ausdrückt, die Verwahrlosung der Erziehung, und die Verantwortungslosigkeit mit welcher die Kinder (in diesem Fall von Frau Knobbe, ihr Baby stirbt auch noch während des Stückes an Unterernährung und Schwäche) behandelt werden.


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