Thomas Mann: DOKTOR FAUSTUS (1947)

Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde

    Ein Zitat:

    "Ich möchte gern wieder etwas schreiben und verfolge einen sehr alten Plan, der aber unterdessen gewachsen ist: eine Künstler- (Musiker-) und moderne Teufelsverschreibungsgeschichte aus der Schicksalsgegend Maupassant, Nietzsche, Hugo Wolf etc., kurzum das Thema der schlimmen Inspiration und Genialisierung, die mit ?? dem vom Teufel geholt werden, d.h. mit der Paralyse endet. Es ist aber die Idee des Rausches überhaupt und der Anti-Vernunft damit verquickt, dadurch auch das Politische, Faschistische, und damit das traurige Schicksal Deutschlands. Das Ganze ist sehr altdeutsch-lutherisch getönt (der Held war ursprünglich Theologe), spielt aber in dem Deutschland von gestern und heute. Es wird mein "Parsifal"."
    (Thomas Mann an den Sohn Klaus am 27. April 1943)

    Der Anfang:

    "Mit aller Bestimmtheit will ich versichern, daß es keineswegs aus dem Wunsche geschieht, meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich diesen Mitteilungen über das Leben des verewigten Adrian Leverkühn, dieser ersten und gewiß sehr vorläufigen Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten Mannes und genialen Musikers, einige Worte über mich selbst und meine Bewandtnisse vorausschicke. Einzig die Annahme bestimmt mich dazu, daß der Leser - ich sage besser: der zukünftige Leser; denn für den Augenblick besteht ja noch nicht die geringste Aussicht, daß meine Schrift das Licht der Öffentlichkeit erblicken könnte, - es sei denn, daß sie durch ein Wunder unsere umdrohte Festung Europa zu verlassen und denen draußen einen Hauch von den Geheimnissen unserer Einsamkeit zu bringen vermöchte; - ich bitte wieder ansetzen zu dürfen: nur weil ich damit rechne, daß man wünschen wird, über das Wer und Was des Schreibenden unterrichtet zu sein, schicke ich diesen Eröffnungen einige wenige Notizen über mein eigenes Individuum voraus, - nicht ohne die Gewärtigung freilich, gerade dadurch dem Leser Zweifel zu erwecken, ob er sich auch in den richtigen Händen befindet, will sagen: ob ich meiner ganzen Existenz nach der richtige Mann für eine Aufgabe bin, zu der vielleicht mehr das Herz als irgend- welche berechtigende Wesensverwandtschaft mich zieht."


Ein Lese-Protokoll
(zitiert wird nach Th. Mann, Gesammelte Werke, Frankfurter Ausgabe, S.Fischer Verlag 1980):

I. Am 23. Mai 1943 beginnt Serenus Zeitblom mit der Niederschrift der Biographie seines Jugendfreundes und Musikers Adrian Leverkühn, der zwei Jahre zuvor gestorben ist. Der unsichere, geschraubte Stil des Biographen verweist auf wichtige Motive:
Der Biograph weiß nicht, ob er der Aufgabe gewachsen ist;
er weiß nicht für wen er schreibt, denn in den gerade herrschenden, finsteren Zeiten ist an Veröffentlichung nicht zu denken;
und schließlich, an dem Genie seines Helden sind gewisse moralische Zweifel angebracht.

II. Der Biograph über sich selbst

III. Der Vater des Helden, Jonathan Leverkühn, wird vorgestellt

IV. ... die Mutter, das Anwesen, Erinnerungen aus der Jugend und erste musikalische Erfahrungen (Kanon-Singen)

V. Reflexionen über Deutschlands Zukunft: Sieg oder Niederlage? Adrians Berufung zu >etwas Höherem<: aber was? Ostern 1895 geht er in die Stadt Kaisersaschern/Salle, um das Gymnasium zu besuchen.

VI. Die Stadt, ihre Geschichte, die Atmosphäre und ihre Sonderlinge.

VII. Das Haus des Oheims Nikolaus , die Musikinstrumentensammlung. Adrian als Schüler, seine Vorliebe für Mathematik, seine Gedanken zur Harmonielehre.

VIII. Wendell Kretschmar, der stotternde, geniale Klavierlehrer und vier seiner Vorträge über Musik (speziell Beethoven).

IX. Adrians musikalische Lehrjahre und Experimente

X. Adrian entschließt sich im letzen Schuljahr Theologie zu studieren.

XI. Überlegungen des Biographen zum problematischen Verhältnis von Theologie und Wissenschaft, also zur Wissenschaftlichkeit dieses Faches.

* * *

XII. Studienjahre in Halle - Einladung bei Professor Kumpf und dessen >Strauß< mit dem Teufel.

XIII. Der Lehrer Schleppfuß und "das logische Dilemma Gottes": Freiheit zur Sünde (137) Das Böse in der Welt als notwendiger Beitrag zur Vollkommenheit Gottes (140) - Die Versuchung und das Weib.

XIV. Gespräche im Kreis der Jugendbewegung: Über das Selbstbewusstsein der deutschen Jugend (160), über Volkstum vs. Sozialismus (166)

XV. Nach vier Semestern in Halle trennen sich die Wege: Nach langer Korrespondenz mit Wendell Kretschmar bricht A. das Theologie-Studium ab, um Musiker zu werden. Serenus absolviert seinen Militärdienst.

XVI. Brief A. aus Leipzig im Jahre 1905, worin er berichtet, wie er bei seiner Ankunft versehentlicht in einem Bordell landet, das er aber, nachdem die >braune< Esmeralda ihn sanft berührt, fluchtartig verlässt.

XVII. Philologisch-akribische Analyse des Briefes durch Serenus und Meditation über ein bislang Abwesendes: Das Triebhafte, Sinnliche, Geschlechtliche, das WEIB...

XVIII. Adrians weitere musikalische Entwicklung

XIX. Bericht über Adrians zweite Begegnung mit der >Hetaera Esmeralda<, von seiner Infizierung und einer nachfolgenden Kur, die durch undurchsichtige Umstände nicht beendet wurde, 1906.

XX. Adrians Leipziger Jahre, seine musikalischen Projekte, die Verbindung von Musik und Wort (Oper, Lied); sein Leipziger Gefährte, der anglophile Schildknapp.

XXI. Ein "Exkurs ins Gegenwärtige": Der Krieg und die bevorstehende Niederlage. - Adrians weitere Schöpfungen

XXII. Wiedersehen anlässlich der Hochzeit von Adrians Schwester (1910) - Gespräch über ein neues Ordnungsprinzip in der Musik, die Zwölf-Ton-Reihe (259)

* * * *

XXIII. München - im Haus der Senatorin: Der neue Bekanntenkreis Adrians, u.a. der Geiger Rudolf Schwerdtfeger, die Dichterin Jeanette Scheuerl, der anglophile Schildknapp, mit dem er auf einem Ausflug zum ersten Male das Anwesen Pfeiffering besucht, welches sein langjähriges Domizil werden sollte.

XXIV. Adrian verbringt zusammen mit Schildknapp zwei Jahre in Italien, ganz der Arbeit (z.B. der Vertonung der Shakespeare-Komödie >Love`s labour`s lost<) gewidmet. Serenus besucht ihn mit seiner jungen Frau Helene.

XXV. Aus Adrians geheimen Aufzeichnungen ein hinterlassener Brief: Die Unterredung mit dem Unaussprechlichen. Dieser verwandelt sich zusehends in einen bebrillten >Theoretiker und Kritiker<, der sich gelehrt über die Schwierigkeiten heutigen Komponierens und deren Überwindung durch Adrian Leverkühn auslässt (327). Was ist das Versprechen und was ist der Preis, die Hölle? Geisteskräfte bis zur "hellichten Verzückung" und "Gesamterkältung deines Lebens" = das extravagante Dasein!

XXVI. Exkurs über den Krieg im April 1944: "Invasionsspannung"! 1912 siedelt A. in das abgelegene Pfeiffering um, wo ihn die alten Freunde gern besuchen und von wo es nicht weit nach München ist. Auch Serenus zieht 1913 mit Weib und Kind nach Freising, wo er am Gymnasium eine Anstellung findet.

XXVII. Weitere, mehr oder weniger erfolgreiche Schöpfungen und Projekte Adrians. Gedankliche Ausflüge in Meerestiefen und Kosmische Fernen.

XXVIII-XXIX. "Einige gesellschaftliche Erfahrungen" aus den Jahren 1913-1914.

XXX. Beginn des Ersten Weltkrieges - Betrachtungen über die allgemeine Stimmung - Abschiedsbesuch bei Adrian.

XXXI. Adrians Arbeit an mittelalterlichen Stoffen (>Gesta<)

XXXII. Schilderung einer >gut-bürgerlichen< Ehe: Ines Rodde und Prof.Dr.Institoris. Ehebruch (mit Rudi Schwerdtfeger) unter der Decke der Untadeligkeit.

* * *

XXXIII. Anlässlich der Invasion in der Normandie erneute Überlegungen zur Lage der Nation, Vergleich mit dem Ausgang des 1.Weltkrieges. - Zurück zu Adrian: 1918/19 schwere Krankheit unbestimmter Art, so dass der Arzt eine Gehirnerkrankung zu ahnen beginnt. XXXIV. Auf die Depression folgt fieberhafte Produktion: Seine Stoffe sind die der mittelalterlichen Visionäre, Mystiker(innen) und Apokalyptiker, das Werk, unter Hochspannung geschrieben, heißt "Apocalipsis". - Schilderung eines suspekten Gelehrtenkreises, Gespräche die Zukunft von Kultur und Humanismus betreffend: Ist Barbarei unausweichlich, und ist auch modernistischer Barbarismus in Adrians Werk? (505)

XXXV. Clarissa Roddes Selbstmord in Pfeiffering: Ein Bericht. - Ines Rodde/Institoris Morphinismus.(517)

XXXVI.Darstellung einer einflussreichen, aber anonym bleibenden Förderin Leverkühns: Frau v. Tolna, ungarische Aristokratin.

XXXVII. Komisches Intermezzo: Der Impressario, Künstleragent und galizische Jude Saul Fitelberg besucht Adrian, um ihn in Paris groß herauszubringen: Vergeblich.

XXXVIII. Rudi Schwerdtfegers langjähriges Werben um die Gunst und Freundschaft Adrians gipfelt endlich im gemeinsamen DU, das sonst nur Serenus für sich in Anspruch nehmen durfte.

XXXIX. Das Erscheinen der reizenden Marie Godeau aus Paris zeitigt Heiratspläne bei Adrian.

XL. Serenus wird gebeten, einen gemeinsamen Ausflug nach Oberammergau in die Wege zu leiten. - Gespräch über den verrückten König Ludwig II.

XLI. Adrian bittet Rudi, für ihn die Brautwerbung durchzuführen. Rudi verschweigt nicht, dass ihn die Dame auch nicht gleichgültig lässt.

XLII. Rudi aber, nachdem Adrians Antrag abgelehnt wurde, macht selbst einen Antrag, der ohne Umstände angenommen wird. Die Hochzeit und Abreise nach Paris sind schon verabredet, da erschießt seine frühere Geliebte Ines Rodde/Institoris ihn nach dem Abschiedskonzert in der Straßenbahn. Das war 1925.

XLIII. Nach einem Jahr der Krise und Einfallslosigkeit, 1926, folgt ein Jahr höchster kammermusikalischer Produktivität.

XLIV. Adrians fünfjähriger Neffe Nepomuk weilt auf Grund der Erkrankung seiner Mutter in Pfeiffering; seine Lieblichkeit und Natürlichkeit erwärmt alle Herzen, auch das Adrians.

XLV. Aber unerwartet stirbt er qualvoll an einer Hirnhautentzündung. Adrian klagt sich selbst ob seines >vergiftenden< Einflusses an: "Es soll nicht sein ... das Gute und Edle ... ich will es zurücknehmen ... die Neunte Symphonie." (639/40)

XLVI. April 1945, Deutschlands Niederlage ist besiegelt, Deutschlands Untergang auch? Wie war das möglich?
1929/30 verfertigt Adrian sein letztes Werk: Dr. Fausti Wehklag. Dieses wird ausführlich geschildert.

XLVII. Wie weiland der Dr. Faustus des Volksbuches lädt Adrian alle seine Bekannten im Mai 1930 nach Pfeiffering ein: Man erwartet die Vorstellung des gerade vollendeten Werkes, stattdessen - in altdeutscher Diktion mit einigen sprachlichen Unsicherheiten - bekennt er der verwirrten Versammlung seinen 24-jährigen Satansbund und kündet sein "geistlich Hinscheiden"(672) an. Dann bricht er zusammen. - Den Rest seines Lebens, bis zum Jahre 1940, verbringt er im Stadium eines "hilflosen, unmündigen Kindes"(676) in der Obhut seiner Mutter im elterlichen Heimatdorf.


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