Nathan der Weise:
Analyse des Dialogs I. Aufzug, 2. Auftritt

Nathan begegnet in diesem Gespräch erstmals seit seiner Rückkehr nach Jerusalem seiner Pflegetochter Recha. Wie ihm Daja bereits berichtet hat, glaubt die noch immer unter Schock stehende Recha, dass ein Engel in der Gestalt eines Tempelherrn sie aus dem brennenden Haus gerettet habe. Nathan will Recha davon überzeugen, dass ihr Retter ein Mensch war, und so die "Engelschwärmerin“ heilen.

Zu Beginn des zweiten Auftritts tritt Nathan eine immer noch hochgradig erregte Recha entgegen. Sie will gemeinsam mit Nathan Gott loben, dass dessen unsichtbare Engel ihren Vater über die Flüsse getragen und dass ihr sichtbarer Engel sie auf Flügeln aus dem Feuer gerettet habe. (vgl. V. 186-192) Sie wehrt zunächst Nathans Argumente ab, die für einen leibhaftigen Tempelherrn als Retter sprechen. Erst als Daja bestätigen muss, dass Saladin tatsächlich einen Tempelherrn begnadigt hat, und nachdem Nathan die Glaubwürdigkeit des von Daja bezweifelten Grundes dieser Begnadigung erläutert hat, ist Recha verunsichert. Sie sagt: "Mein Vater, wenn ich irr, Ihr wisst ich irre / Nicht gern.“ (V. 276f)

Daja versucht nun, Rechas wankenden Glauben an einen Engel mit dem Argument zu stützen, dass es nicht schade, an einen Engel zu glauben, und dass man sich so der göttlichen Ursache dieser Rettung näher fühle (vgl. V. 288-293). Diesen Gedanken weist Nathan als Ausdruck von Stolz und Dünkel zurück: Er sei "Unsinn oder Gotteslästerung“ (V. 300). Anschließend erläutert er, dass der Glaube an einen überirdischen Retter tatsächlich schade, da man keinem Engel, wohl aber einem Menschen so danken könne, das es diesem nutze. Er gibt zu bedenken, dass der verschwundene Tempelherr vielleicht deshalb nicht mehr unter den Palmen spazieren gehe, weil er erkrankt sei.

Was Nathan als eine Möglichkeit ausmalt, wird von der leicht erregbaren Recha für Realität. genom-men, und Nathan verstärkt ihr Erschrecken, indem er sein Gedankenexperiment ausmalt und so seiner Behauptung Nachdruck verleiht, dass das Schwärmen für den vermeintlichen Engel dem realen Retter durchaus schaden könne. Dajas wiederholte Aufforderung, Recha nicht weiter zu erschüttern, sondern sie zu schonen (vgl. V. 344, 347, 350, ignoriert Nathan. Ihren Appell "Hört auf! / Ihr tötet sie!“ (V. 352f) beantwortet er mit einem Vorwurf, dessen Adressatin nicht eindeutig festzustellen ist. Wirft er Daja oder Recha – oder beiden ? – vor, den Tempelherrn getötet bzw. gegen seinen möglichen Tod nichts unternommen zu haben?

Was veranlasst ihn, seine über alles geliebte Pflegetochter emotional so heftig zu erregen? In der vorangegangenen Szene hat Nathan bekannt, dass sein Leben ohne Recha sinnlos wäre. Sadismus, aber auch Neckerei scheiden als Motive aus, denn für einen Scherz hat er Recha zu tief erschüttert. Mit rationalen, also den Verstand ansprechenden Gedanken hatte er Recha im ersten Teil des Gesprächs nachdenklich machen können. Sie war schon bereit, einen Menschen als Retter zu akzeptieren (vgl. V. 275ff). Diese Phase der Belehrung stört Daja mit ihrer Frage, "Was schadet’s [...] / [...] von einem Engel lieber / Als von einem Menschen sich gerettet denken?“ (V. 288ff) Ihr Einwand veranlasst Nathan, beiden eine Lektion zu erteilen, deren Quintessenz er in den Versen 359-364 zusammenfasst: "Gut handeln“ – das sei wichtig und notwendig; "andächtig [zu] schwärmen“ sei leicht und manchmal sogar ein – vielleicht unbewusster – Vorwand, "Um gut handeln nicht zu dürfen“ (V. 364).

Diesen zentralen Gedanken lässt Lessing seinen Nathan am Höhepunkt der Ringparabel leicht abgewandelt wiederholen, wenn der Richter den streitenden Söhnen rät: "Es eifre jeder seiner unbestochnen / Von Vorurteilen freien Liebe nach! / Es strebe von euch jeder um die Wetter, / Die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag / Zu legen! kommen dieser Kraft mit Sanftmut, / Mit innigster Verträglichkeit, mit Wohltun, / Mit innigster Ergebenheit in Gott / Zu Hilf’!“ (V. 2040-2048) Die Taten der Gläubigen entscheiden über den Wert, die Wahrheit und Echtheit ihres Glaubens. Diese Überzeugung verkündet der Autor zum Unwillen der Ortho-doxen im Theater, nachdem sie gegen ihn ein Publikationsverbot im Streit mit Goeze erwirkt hatten.

zitierte Ausgabe: G.E. Lessing: Nathan der Weise. Husum (Hamburger Lesehefte Verlag) o.J.

© Volker Jansen 2005

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