Untersuchen Sie das Gespräch zwischen Nathan und Al-Hafi

im dritten Auftritt des I. Aufzugs unter folgenden Gesichtspunkten:.

Gesichtspunkte

  • Welche Absichten verfolgen die Gesprächspartner?
  • Welche Argumente führen sie an?
  • Ändert einer der Gesprächspartner seine Meinung, und - falls ja - wodurch wird er überzeugt?
  • Welche Bedeutung hat die Szene im Kontext des Schauspiels?

Der jüdische Kaufmann Nathan ist gerade von einer langen, erfolgreichen Geschäftsreise nach Jerusalem zurückgekehrt. Sein Reichtum ist so groß, dass er den Brand seines Hauses gleichmütig zur Kenntnis nimmt, zumal seine über alles geliebte Pflegetochter Recha unverletzt aus den Flammen gerettet wurde.

In Nathans Abwesenheit wurde dessen Freund und Schachpartner, der Derwisch Al-Hafi, von Sultan Saladin mit dem Amt des Schatzmeisters betraut. Der besucht Nathan in der Hoffnung, bei ihm für den dauernd an Geldmangel leidenden Sultan Kredit zu bekommen:

"Denn wahrlich hab' / Ich sehr auf Euch gerechnet. [...] / Dass Ihr mir mein Amt /
Mit Ehren würdet führen helfen; dass / Ich allzeit offne Kasse bei Euch hätte. - " (V. 432ff)

Nathan führt dieses Gespräch mit dem überraschenden Besucher ohne eine Absicht, wenn man davon absieht, dass er natürlich erfahren möchte, weshalb der Bettelmönch plötzlich so prächtig geklei-det ist. Er fragt sich, ob Al-Hafi den Grundsätzen der Derwische untreu geworden sei, die "Aus sich nichts machen lassen" wollen (V. 379). Al-Hafi rechtfertigt sich damit, dass sogar ein Derwisch tun müsse, worum "[...] man ihn recht bittet, / Und er für gut erkennt [...]" (V. 387f). Dieser Aussage stimmt Nathan zu, aber es interessiert ihn nicht, was für ein "Kerl im Staat" (V.392) Al-Hafi geworden ist, wenn der ihm versi-chert, dass er noch Nathans Freund ist, und "Wenn dein [d.i. Al-Hafis] Herz / Noch Derwisch ist [...]" (V. 393f). Nathan beurteilt also einen Menschen nach seinem Charakter und nicht nach dem Amt, das er bekleidet.

Trotzdem will Al-Hafi wissen, welches Amt bei Hofe Nathan ihm anvertrauen würde. Als der er-klärt, bei ihm wäre Al-Hafi "Derwisch, weiter nichts. / Doch nebenher, wahrscheinlich - Koch." (V.397f), platzt Al-Hafi damit heraus, dass der Sultan ihn zu seinem Schatzmeister gemacht und damit bewiesen habe, "dass Saladin / Mich besser kennt" (S. V 401f). - Al-Hafis Hinweis, dass er nur Schatzmeister "Des kleinen Schatzes [...] / des Schatzes für sein [= Saladins] Haus." sei (V.403f), verringert Nathans Erstaunen nicht, denn er kann sich vorstellen, welche Unsummen die Hofhaltung verschlingt, und er weiß, dass Saladin obendrein Bettlern gegenüber überaus freigebig ist. Al-Hafi verrät Nathan, dass die Einnahmen des Sultans nicht ausreichen, dessen Ausgaben zu decken. Es sei schlimm, wenn Fürsten über ihre Untertanen wie Geier über das Aas herfielen, viel schlimmer aber noch, wenn sie selber das Aas seien, über das sich die Untertanen als Geier herma-chen (vgl. V. 411-421).

Dieser Klage über die Folgen von Saladins Mildtätigkeit setzt Nathan kein Argument ent-ge-gen. Er versucht lediglich, Al-Hafi mit den Worten “O nicht doch, Derwisch!/ Nicht doch!“ (V. 421f) zu beruhigen. Damit will er ihn wohl daran erinnern, dass ein Bettelmönch den weltlichen Dingen ge-gen-über gelassener bleiben sollte. Aber Al-Hafi ist seines Amtes so überdrüssig, dass er es Nathan zum Kauf anbietet (vgl. V. 422ff).

Nathan prüft dieses Angebot - zum Schein ? - indem er Al-Hafi fragt: "Was bringt dir deine Stelle?" (V. 423). Als der ausmalt, wie Nathan als Kreditgeber des Sultans von diesem Amte profitieren könnte, lehnt der ab. Er weist darauf hin, dass auf diesem Wege bald sein gesamtes "Kapital zu lauter Zinsen" (V. 430), also zu ungesicherten Forderungen werde.

Diese Ablehnung enttäuscht Al-Hafi, ja er kündigt Nathan sogar die Freundschaft. Jetzt spricht er aus, weshalb er Nathan aufgesucht hat: Der sollte ihm als Kreditgeber helfen, sein Amt als Schatzmeister "Mit Ehren" (V. 435) zu führen, also so, dass es ihm Ehre einbringt und dass er selber seine Amtsführung als ehrenhaft empfinden kann.

Nathan versichert, dass er den Derwisch Al-Hafi, also das Individuum, jederzeit zu unterstützen be-reit sei, aber dem Schatzmeister Al-Hafi, der Amtsperson, gegenüber zögere. Al-Hafi deutet diese Aussage als Beweis dafür, dass Nathan immer gleichermaßen gut, klug und weise sei: gut, weil er dem Bettelmönch und Freund gegenüber hilfsbereit ist, klug, weil er sein Vermögen nicht leichtfertig aufs Spiel setzt, und weise, weil er zwischen dem Menschen und dem Amt, das der bekleidet, unterscheidet. Wenn er, Al Hafi, erst den Dienst beim Sultan quittiert und Jerusalem verlassen habe, um als Bettelmönch am Ganges mit seinem Lehrern zu leben, müsse Nathan nicht mehr zwischen dem Derwisch und dem Schatzmeister Al-Hafi unterscheiden (vgl. V. 437-451).

Dieser Entschluss und die Aussicht, mit seinen Lehrern sein geliebtes Schach zu spielen, erlauben es Al-Hafi einzugestehen, was ihn dazu verführt hat, das ihm angetragene Amt des Schatzmeisters anzunehmen: "Ich fühlte mich zum erstenmal geschmeichelt; / Durch Saladins gutherz'gen Wahn geschmeichelt -" (V. 459f), dass er als Bettler allein in der Lage sei, von Herzen, gütig und großzügig Almosen zu geben. Und Al-Hafi klagt sich nun an, ein dummer, eitler Mensch zu sein: "Ich Geck! / Ich eines Gecken Geck!" (V. 478f). Er habe sich blenden lassen von der Freigebigkeit des Sultans den Armen gegenüber, die dieser auf Kosten anderer üben lasse, und er habe aus Eitelkeit an diesem Betrug mitgewirkt.

Ohne Nathans beruhigendes "Gemach, mein Derwisch, / Gemach!" (V. 479f) zu beachten, begründet er mit rhetorischen Frage den Vorwurf, dass Saladins Verhalten eitel sei: Er könne nur deshalb einzelnen gegenüber wohltätig sein, weil in seinem Namen Hunderttausende ausgebeutet würden. Diese Art von Milde sei der eitle Versuch, Gottes Güte nachzuahmen, ohne "des Höchsten immer volle Hand / Zu haben" (V. 486f). - Aber er klagt auch sich selber der Eitelkeit an: Er habe an Saladins eitlem Verhalten das Positive gesucht und sei selber so eitel gewesen, sich an Saladins "Geckrei" zu beteiligen, weil auch er etwas Gutes daran gefunden habe (vgl. V. 491-496).

Damit ist die Verachtung für den Sultan und sich selbst aus Al-Hafi herausgebrochen. Diese Welt ekelt ihn, weil in ihr die Menschen den hohen moralischen Ansprüchen des Derwischs nicht gerecht werden. Für Nathan gehören zum Menschsein aber auch menschliche Unzulänglichkeiten und die Bereitschaft, sich mit ihnen verständnisvoll auseinander zu setzen. Letzteres könnte Al-Hafi unter den Menschen verlernen, weshalb Nathan ihn auffordert: "Al-Hafi, mache, dass du bald / In deine Wüste wieder kömmst." (V. 496f) - Dieser Befürchtung stimmt der Derwisch zu und verlässt die Szene so rasch, dass Nathan keine Gelegenheit findet, ihn nach Rechas Retter, dem begnadigten Tempelherrn, zu fragen.

Nathan hat am Ende des vorhergehenden Auftritts seinen Schachpartner im prächtigen Gewand des Höflings zunächst nicht erkannt. Dajas Hinweis, dass sein Freund jetzt Schatzmeister beim Sultan sei, erscheint ihm zuerst unglaubwürdig wie ein Traum (vgl. V. 373). Zu Beginn des Gesprächs in I/3 wirkt Al-Hafi etwas eitel. Er gefällt sich darin, Nathan ein wenig auf die Folter zu spannen, schildert dann, weshalb es ihm nicht ge-lin-gen will, sein Amt so auszuüben, wie er es für angemessen hält, um schließlich Nathan um Unterstützung als Kreditgeber zu bitten. Zunächst hofft Al-Hafi also auf Nathans Hilfe und reagiert enttäuscht, weil dieser das vorgeschlagene Geschäft als zu riskant ablehnt (vgl. V. 429f). Da Nathan aber auf die Kündigung der Freundschaft besonnen reagiert und zwischen dem Menschen Al-Hafi und dessen Amt unterscheidet, ent-schließt sich der Derwisch zu einer Konfliktlösung, mit der er vermutlich schon länger geliebäugelt hat: Er wird sein Amt niederlegen und sich von dieser Welt zurückziehen. Er will an der Täuschung anderer nicht länger mitwirken und auch die eitle Selbsttäuschung beenden.

Das Gespräch hilft ihm, sich seiner wahren Wünsche und Gedanken bewusst zu werden. Während im ersten Teil (bis zu Nathans Unterscheidung zwischen dem Schatzmeister und dem Derwisch) die Gesprächsanteile etwa gleich verteilt sind, beschränkt sich Nathan im zweiten Teil auf knappe Einwürfe, die Al-Hafis Ausbruch weder hemmen noch lenken, sondern allenfalls seinen Redfluss beschleunigen. Nicht Nathan belehrt oder berät also Al-Hafi. Der findet selber seinen Weg, indem er Gedanken ausspricht, die er bisher für sich behalten, vielleicht sogar vor sich selbst verborgen hatte.

Mit dem Derwisch lernt der Leser bzw. Zuschauer das muslimische Gegenbild zum später auftretenden Klosterbruder kennen. Beide dienen sie mächtigen Herren: Al-Hafi hat sich von seiner Eitel-keit verführen lassen, der Klosterbruder ist dazu gezwungen, weil nur der Pa-triarch ihm eine neue Einsiedelei zuweisen kann. Mit der Person des Sultans lässt Lessing den Derwisch sogar den milden absoluten Fürsten kritisieren. Mit dem Patriarchen wird die Intoleranz an den Pranger gestellt, die im Namen des einzig wahren Glaubens keine Skrupel und kein Erbarmen kennt. Derwisch wie Klosterbruder wollen aus dieser Welt so rasch wie möglich entfliehen: zu Gleichge-sinnten der eine, in die Einsamkeit der andere. Beide haben aber im Verlauf des Schauspiels noch wichtige dramaturgische Aufgaben zu erfüllen: Al-Hafis frühere Lobreden bei Hofe auf seinen jüdischen Freund sind die Ursache dafür, dass Nathan zum Sultan befohlen wird und er die Gelegenheit bekommt, die Ringparabel zu erzählen (III,5-7). Der Klosterbruder übergibt Nathan das Brevier seines gefallenen Herrn, des verschollenen Assad alias Wolf von Filnek, das die ver-wandtschaftlichen Beziehungen zwischen dem Tempelherrn, Recha, Saladin und Sittah aufklärt (IV, 7).

zitierte Ausgabe: G.E. Lessing: Nathan der Weise. Husum (Hamburger Lesehefte Verlag) o.J.

© Volker Jansen 2003

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